Читать книгу Die O´Leary Saga - Werner Diefenthal - Страница 14
Gutshof
ОглавлениеDen Weg vom Heim zum Gut hinunter fuhr Sarah langsam, ließ das Pferd den Weg alleine suchen, den das Tier im Schlaf zu kennen schien. Sie war so erschöpft, dass sie kaum die Augen offen halten konnte, das Schaukeln der Kutsche tat ihr übriges. Die Rothaarige war erst von Marys Seite gewichen, nachdem die frischgebackene Mutter aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war und ihr Kind gestillt hatte. Danach waren Mutter und Kind eingeschlafen, und Georgette hatte ihr versprochen, bei Mary zu bleiben und Sarah sofort holen zu lassen, falls es ihr schlechter ging.
Die Anspannung nach der dramatischen Geburt ließ langsam nach und hinterließ in Sarah nur noch Leere. Die Wut vom Morgen war verraucht. Sie hatte einfach keine Kraft mehr dafür. Trotzdem fühlte sie sich nicht in der Lage, ihrem Vater jetzt in die Augen zu sehen. Sie wollte auch noch nicht von der Geburt erzählen, und das würde sie müssen, denn ihr Kleid war voller Blut. Sie stellte die Kutsche ab und schaffte es so gerade noch, das Pferd auszuspannen und notdürftig zu versorgen, dann ging sie ungesehen ums Haus herum und betrat es durch die Waschküche, wo Beatrice gerade die Wäsche sortierte. Als sie Sarahs Aufzug bemerkte, ließ sie alles fallen, was sie gerade in den Händen gehalten hatte, und riss entsetzt die Hände vor den Mund.
»Um Himmels willen, Miss Sarah! Sind Sie verletzt?«
Die Reaktion des Dienstmädchens weckte Sarahs Lebensgeister ein wenig, und sie lachte.
»Nein, keine Angst. Ich habe gerade ein Baby entbunden.«
Mit großen Augen starrte Beatrice auf die Blutflecken.
»Haben Mutter und Kind überlebt?«
Nicht ohne Zufriedenheit nickte Sarah.
»Das haben sie. Aber nur knapp. Sag, hast du irgendetwas Sauberes zum Anziehen für mich? Ich möchte nicht in mein Zimmer gehen.«
Etwas verlegen hob Beatrice ein Dienstbotenkleid in die Höhe.
»Nur das.«
»Das ist mehr als genug!«
Sarah streifte es über und fand es überraschend bequem. Sie musterte Beatrice, die bereits weiter die Wäsche sortierte, nachdenklich. Plötzlich fiel ihr etwas ein.
»Sag, Beatrice … warst du schon hier beschäftigt, bevor Isabella gestorben ist?«
Das Dienstmädchen schüttelte den blonden Schopf.
»Nein. Sie war schon tot. Aber ihre Mutter hat noch gelebt. Es war eine meiner Aufgaben, sie zu pflegen. Sie ist, als ich hier ankam, schon kaum noch aus dem Bett aufgestanden.«
Beatrice schien nicht ganz so zurückhaltend mit Informationen zu sein wie Georgette, das bemerkte Sarah sofort. Mit betont neutraler Stimme fragte sie nach.
»War sie krank?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte die Blonde. »Sie war traurig. Todtraurig. Sie hat kaum gegessen, getrunken. Sie wollte sterben, um bei ihrer Tochter zu sein. Irgendwann ist sie einfach eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Es war schlimm, besonders für ihren Mann. Danach hat er selbst kaum noch gesprochen.«
Ganz nebenbei hatte Sarah begonnen, Beatrice beim Sortieren der Wäsche zu helfen.
»Wie ist Isabella denn gestorben?«
Augenblicklich nahm das Unbehagen in Beatrices Gesicht Gestalt an, das Sarah auch schon bei Georgette gesehen hatte. Sie hob ein wenig steif die Schultern.
»Sie ist ertrunken. Hier im Haus war immer von einem Unfall die Rede. Wer etwas anderes behauptet hat, wurde sofort entlassen. Aber im Dorf wurde immer wieder etwas von Selbstmord getuschelt. Ich weiß nicht, was davon die Wahrheit ist, und ich werde keine Vermutung äußern. Es wäre nichts weiter als Tratsch!«
Klare Worte! Sarah bewunderte, wie bestimmt Beatrice Position bezog und begann ein anderes Thema.
»Wieso sind die beiden nicht hier begraben?«
Beatrice nahm keinen Blick von der Wäsche.
»Das sind sie. Aber nicht auf dem Friedhof von Howth. Ich weiß nicht genau, warum, glaube aber, dass der alte O’Leary sie näher bei sich haben wollte. Sie liegen unten bei der Kapelle.«
Sarah spitzte die Ohren. Sie erinnerte sich daran, schon einmal von der Kapelle gehört zu haben, als von den verschwundenen Kindern die Rede gewesen war. Allerdings hatte sie diese Örtlichkeit noch nicht besucht und wusste auch nicht genau, wo sie überhaupt zu finden war.
»Wo ist diese Kapelle?«
Beatrice richtete sich auf und schmunzelte halb.
»Nun, da Sie mich bei der Wäsche unterstützt haben, habe ich etwas Zeit. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen!«
Gemeinsam verließen sie das Haus und gingen über einen kleinen Pfad, der durch den Wald hinter dem Gebäude führte. Er war so schmal, dass Sarah ihn vermutlich ohne Beatrices Begleitung überhaupt nicht entdeckt hätte. Der Wald bestand aus alten, knorrigen Bäumen, deren Äste teilweise miteinander verwachsen waren. Es war dunkel hier und ein wenig unheimlich. Offensichtlich war der Pfad zu Patrick O´Learys Lebzeiten freigeschnitten worden, aber jetzt dabei, wieder zuzuwuchern. Beatrice und Sarah mussten immer wieder Unkraut und kleine Äste aus dem Weg drücken, um passieren zu können.
Schließlich lichtete sich der Wald, und sie standen auf einer Lichtung mit einer kleinen Kapelle in der Mitte. Eine niedrige Mauer und ein Friedhof umgaben sie. Sarah fiel sofort auf, dass die Steine der Mauer alt und verwittert waren, das Dach dagegen nicht älter als zehn Jahre. Die Rothaarige ließ die Augen über die von hier sichtbaren Grabsteine schweifen. Sie waren alt wie die Kapellenmauern.
»Wo sind ihre Gräber?«
Beatrice ging weiter.
»Kommen Sie nur mit.«
Sie durchquerte das kleine, schmiedeeiserne Tor, das den Friedhof verschloss. Es quietschte, aber schien auch nicht so alt wie die es einrahmende Mauer zu sein. Die Holztür an der Kapelle war massiv und uralt. Die Beschläge und Scharniere jedoch wirkten neu und gut gepflegt. Es wurde immer deutlicher, dass jemand sich darum gekümmert hatte, dass die Kapelle nicht verfiel - ohne Zweifel Sarahs Großonkel.
Die beiden jungen Frauen betraten die Kapelle, und wie es der Zufall wollte, fiel gerade in diesem Moment ein Strahl Sonnenlicht durch die Fenster und erhellte den Innenraum.
Sarah schnappte unwillkürlich nach Luft.
Zwei einzelne samtbezogene Betbänke standen vor zwei pompösen Marmorsarkophagen. Engel, so groß wie Sarah selbst mit riesigen Flügeln waren über den Särgen zusammengesunken, schienen weinend zu trauern. Vor und auf den Monumenten lagen getrocknete Blumen, die Namen der Toten waren auf die Deckel gemeißelt. Beatrice wandte sich Sarah zu, die trocken schluckte.
»Hier liegen sie. Solche Denkmäler hätte der alte O’Leary ihnen auf dem Friedhof nicht errichten können.«
Das war offensichtlich. Sarah konnte sich lebhaft vorstellen, was eine solche Zurschaustellung von Reichtum unter den Bewohnern von Howth angerichtet hätte. Zumindest ein Rätsel war gelöst. Doch Beatrice war noch nicht fertig.
»Vor allem hätte er dort nicht seine Ruhe gehabt. Er hat Stunden hier verbracht, blieb manchmal über Nacht. Es war richtig unheimlich! Man hat auch seine Leiche hier gefunden und ihn im Grab seiner Frau bestattet.«
Sarah lief es eiskalt über den Rücken.
»Danke, Beatrice,« murmelte sie, »lass uns gehen.«
Als sie die Kapelle verließen, sah Sarah die Gräber, die entlang der Friedhofsmauer angeordnet waren. Die Steine waren zu klein, um von außen gesehen zu werden, sie waren niedriger als die Mauer. Das mussten die Gräber der Kinder sein, von denen Ruth erzählt hatte. Sie hatte die Geschichte beinahe schon vergessen gehabt, bis Beatrice die Kapelle erwähnt hatte und alles sofort wieder in Sarahs Gedächtnis zurückgekehrt war. Sie blieb stehen wie angewurzelt und Beatrice stieß gegen sie, begann, sich erschrocken zu entschuldigen. Sarah reagierte gar nicht darauf.
»Was sind das für Gräber?«, wollte sie sich vergewissern in der Hoffnung, sich geirrt zu haben. Beatrices Blick folgte Sarahs ausgestrecktem Arm. Sie zuckte die Schultern.
»Ich weiß nicht. Vielleicht von Kindern. Oder man wollte einfach nicht so viel Geld für größere Steine ausgeben.«
Sarah war kreidebleich, drehte sich langsam zu ihr hin.
»Sag mal, Beatrice … hast du im Haus schon mal ein Baby weinen gehört?«
»Nein, nie.« Die Antwort kam brüsk und abrupt. »Ich sollte jetzt wieder zum Gut gehen. Ihre Tante bringt mich um, wenn sie merkt, dass ich nicht arbeite und hier herumspaziere!«
Damit ließ sie Sarah einfach stehen. Ihr war nicht entgangen, dass Beatrice auf ihre Frage hin blass geworden war.