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KAPITEL 1

Vom Land in die Stadt \\\ Liberales Baden \\\ Geburtsort Nervenheilanstalt lllenau \\\ „Dem l. Gott danken“

Julius Hirsch kommt am 7. April 1892 zur Welt. Allerdings nicht in seiner Heimatstadt Karlsruhe, sondern andernorts, wovon zu berichten sein wird.

Die Familie des späteren Fußball-Nationalspielers war vom Land in die Stadt gezogen. Es waren die Pogrome des Mittelalters gewesen, die die Juden einst zum umgekehrten Prozess gezwungen hatten. Erst seit 1862 galt für sie in Baden mit der uneingeschränkten Gleichberechtigung die Freizügigkeit und damit auch die Möglichkeit, sich wieder in den Städten anzusiedeln. Baden, das liberale Großherzogtum, war der erste deutsche Staat, der diese Rechte gewährte.

Karlsruhe, seit 1806 Residenz der badischen Großherzöge und sogenannte Beamtenstadt, erschien dabei nicht unbedingt als Anziehungspunkt für Zuwanderer vom Land. Als attraktiver galt Mannheim, der lebendige Handelsplatz samt seinem wirtschaftlichen Aufschwung infolge Industrialisierung und Hafen. Aber wie auch immer: Die Hirschs zogen nach Karlsruhe.

„Die Gräber meiner Ahnen“

Bei den Vorfahren der Familie tauchen angesichts der oben geschilderten Entwicklung die Dörfer Obergrombach und Untergrombach bei Bruchsal in Nordbaden als Geburts- und Sterbeorte auf. Heinold (Heino) Hirsch, der Sohn des Nationalspielers, hat diese Orte in jungen Jahren um 1934 einmal besucht und in einem Schulaufsatz in der NS-Zeit seine Erinnerungen festgehalten: „Ein herrlich gelegener, stiller Waldfriedhof bei Untergrombach birgt die Gräber meiner Ahnen väterlicherseits. Leider hat der Einfluss der Witterung die Schrift fast ganz unleserlich gemacht. Übrigens hätten die Namen auch keinen großen Wert, da die Juden erst ab 1812 Familiennamen annehmen mussten, und zwar innerhalb kurzer Zeit, wodurch sich auch die vielen wunderlichen Namen erklären, die bei Juden häufig vorkommen.“

Auf dem Jüdischen Friedhof von Obergrombach, den Heinold Hirsch um 1934 aufgesucht hat, werden 1938/39 in der NS-Zeit 1.800 Grabsteine umgeworfen und entfernt. 1992 hat man etwa 700 davon geborgen und zurück auf den Friedhof gebracht.

Geburtsort Achern bzw. Illenau

Der Großvater von Julius Hirsch, Raphael Hirsch, war Landwirt in Weingarten bei Karlsruhe. Er wurde einer der ersten Agenten der Feuerversicherung Colonia, 1839 als Kölnische Feuer-Versicherungs-Gesellschaft vom Bankhaus Sal. (d.i. Salomon) Oppenheim jr. & Cie gegründet. Auch der Vater von Julius Hirsch, Berthold Hirsch, wurde 1848 im badischen Weingarten, damals zugehörig zum Amt Durlach, geboren.

Als Berthold Hirsch am 23. Februar 1874 „Fräulein Emma Erlanger aus Buchau am Federsee im Königreich Württemberg“ heiratet, ist er bereits in Karlsruhe als Kaufmann in der Textilbranche ansässig. Emma Hirsch, geb. Erlanger, ist bei der Eheschließung 24 Jahre alt. Sie stammt aus dem erwähnten Buchau (heute Bad Buchau) in Oberschwaben, dessen jüdische Gemeinde kurz nach Emmas Geburt im Jahr 1850 828 Angehörige zählt – das ist etwa ein Drittel der Bevölkerung des Ortes. Emmas Eltern Marx Erlanger und Pauline zählen sieben Kinder. Der Geburtsname von Pauline übrigens ist Einstein – und der Vater Hermann des späteren Nobelpreisträgers Albert Einstein stammt wie sie aus Buchau.

Die berufliche Laufbahn von Emma Hirsch, der Mutter von Julius, lässt sich recht präzise nachzeichnen: Schulbesuch in Buchau bis zum 14. Lebensjahr, anschließend als Hilfe bei Verwandten im Kurort Homburg vor der Höhe in Hessen (heute Bad Homburg) beschäftigt, vermutlich in einem Modegeschäft. „Ein lebhafter Geist mit Witz und Humor begabt“, vermerkt ihre Patientenakte in der Illenau (die auch Quelle für weitere Zitate ist). Emma Erlanger wird Directrice und kehrt, 20 Jahre jung, zurück nach Buchau, wo sie ein Damenhut-Geschäft eröffnet, „in welchem sie sich in Folge Geschmacks und guter Manieren eine große Kundschaft erwarb“. Enkel Heinold beschreibt seine Großmutter 1938 in einem weiteren Schulaufsatz als „schöne, stattliche Frau, die wie mein Großvater Benjamin (Anm.: d.i. Berthold Benjamin Hirsch) in der Welt weit herumkam. Sie war zur Ausbildung als Modistin in Paris und eine lebenstüchtige Frau.“


Die neu erbaute Häuserzeile Kaiserstr. 164-172 entstand auf dem Terrain des ehemaligen Langenstein’schen Gartens. Ins Gebäude nr. 166 zog die Tuchhandlung Gebrüder Hirsch ein.

Beruflich kommt auch Ehemann Berthold in der badischen Residenz Karlsruhe voran. Die Textilbranche ist eine jüdische Domäne, und die Tuchhandlung Gebrüder Hirsch – Teilhaber sind neben Berthold noch dessen Brüder Albert und Bernhard – lässt sich schließlich in der Kaiserstraße 166 nieder, bis heute die Hauptgeschäftsstraße der Stadt. Berthold Hirsch ist beruflich viel unterwegs; seine Reisen dauern bis zu vier Wochen, und als Unterkünfte nutzt er noble Hotel-Etablissements.

Sieben Kinder, 14 Schwangerschaften

Bevor Emma Hirsch 1892 Julius das Leben schenkt, bringt sie sechs Kinder zur Welt: Anna (1877), Rosa (1878), Hermann (31.7.1879), Leopold (14.11.1880), Max (1887) und Raphael (unbekannt). Zwischen 1874, dem Zeitpunkt der Heirat, und 1890 werden weitere sieben Kinder geboren. Die ersten beiden, 1874 und 1875, sind Fehlgeburten. Emma erholt sich danach in Griesbach im Schwarzwald, ein dreiviertel Jahr lang ist sie bettlägerig. Zwei Kinder sterben früh an Schwäche und Durchfall. Es ereignen sich zwei weitere Fehlgeburten, und ein Kind kommt 1889 infolge von Diphterie ums Leben. Als Emma Hirsch am 10. Oktober 1891 in der Klinik untersucht wird, ist sie erneut schwanger.


Zur Goldenen Hochzeit der Eltern von Julius Hirsch 1924 wurde dieser Stammbaum erstellt.

Dies sind 14 Schwangerschaften im Zeitraum von 18 Jahren. Nach einer weiteren Entbindung 1883 erleidet die Frau drei Wochen später während einer Erholungsreise in ihren Heimatort Buchau einen Schlaganfall. Zurück bleibt eine Sprachstörung. Ein weiterer, diesmal leichterer Schlaganfall trifft sie 1887. Ihre Persönlichkeit verändert sich infolge der Krankheit, und ein Professor diagnostiziert Paralysis incipiens (eine beginnende Lähmung). Im Erholungsort Triberg im Schwarzwald wird sie 1889 vier Wochen lang behandelt, und auch den August 1891 verbringt die Frau zur Erholung im Schwarzwald. „Viele häusliche deprimierende Ereignisse, Todesfälle und Krankheiten“ (Patientenakte der Heilanstalt Illenau) führen schließlich zur Diagnose: „Demenz nach Schlaganfall“.

Emma Hirsch, sie ist damals 40 Jahre alt, wird am 10. Oktober 1891 nachmittags auf Anraten des praktischen Arztes Dr. Lyon Seeligmann aus Karlsruhe in der Heil- und Pflegeanstalt Illenau bei Achern aufgenommen. Illenau, das steht für „Verrückte“, wie man damals psychiatrische Patientinnen und Patienten bezeichnete. Noch in jungen Jahren des Autors in Württemberg hieß es bei entsprechendem Verdacht: „Der kommt noch nach Zwiefalten!“ In Baden haben sie dafür Wiesloch und eben die Illenau in Achern im Mittelbadischen genannt.

Diese weit verbreitete und vorurteilsbeladene Ansicht, die unter „Volksmund“ firmiert, lässt den damaligen Standard der Nervenheilkunde außer Acht, der sich auch in den vorbildlichen Behandlungsmethoden der Illenau niederschlug. Die moderne Heilanstalt genoss als großräumiges „Landasyl“ mit Freiräumen, Gärten und Feldern europaweit einen ausgezeichneten Ruf, und viele Patientinnen und Patienten konnten als geheilt entlassen werden.

Die Patientenakten der Anstalt kann man heute im Staatsarchiv Freiburg einsehen. Wir werden uns hier auf biografische Angaben beschränken, denn die detaillierte Krankengeschichte von Emma Hirsch ist für dieses Buch nicht von Belang.

„Ein kräftiger Knabe“

Emma Hirsch bleibt vom 10. Oktober bis 23. Dezember 1891 in der Illenau. Ehemann Berthold holt sie ab, als im Ludwig-Wilhelm-Stift in Karlsruhe eine erneute Entbindung vorgesehen ist. Diese findet nicht statt: Es muss eine Fehldiagnose vorgelegen haben. Am 10. Januar 1892 kehrt Emma Hirsch in die Illenau nach Achern zurück, und am 7. April wird dort ihr Sohn Julius, das jüngste Kind der Familie, geboren. Sie wird ihn, wie die anderen Kinder zuvor, nicht stillen können: Das erledigen Ammen.

Die Patientinnenakte berichtet unter dem Datum 7. April 1892: „Die Patientin, welche seit ihrer zweiten Aufnahme auf Gravidität (Anm.: Schwangerschaft) in Rücksicht auf die Schwierigkeit der Untersuchung nicht wieder untersucht worden ist, da das Gutachten des Geheimrats Molitor, Karlsruhe, eine Schwangerschaft ausschloss, kommt heute früh 9 ½ Uhr mit einem kräftigen Knaben nieder. (…) Geburt verläuft normal. (…) Am 9. April Kind zur Hebamme gegeben.“

Julius Hirsch, der Neugeborene, wird 47 Jahre später aus ganz anderen Gründen als Patient in die Illenau zurückkehren. In seinem Aufnahmeprotokoll werden die Ärzte den Geburtsort Achern bzw. Illenau dann mit einem roten Ausrufezeichen versehen.

Emma Hirsch bleibt noch bis August 1892 dort. Ihr Ehemann Berthold schreibt am 27. November 1893 „An die Direction der Grossherzoglichen Badischen Heil- und Pflegeanstalt Illenau“: „(…) habe ich die Ehre Ihnen hiermit die erfreuliche Mitteilung zu machen, dass es meiner l. Frau sehr gut ergeht.(…) Die häusliche Arbeit, die Umgebung und die nach Kräften genossene Schonung, auch der tägliche Aufenthalt in freier Luft, hat dazu beigetragen, dass jetzt meine l. Frau wieder vollständig gesund ist, wofür ich dem l. Gott nicht genug danken kann.“

Julius Hirsch. Nationalspieler. Ermordet.

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