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KAPITEL 3

1909: „Und dann kam meine Entdeckung…“ \\\ Und Townley sagt: „Dieser Linksaußen spielt jetzt immer!“

Julius Hirsch wird 1902, er ist damals zehn Jahre alt, Mitglied des Karlsruher FV. Auf einem Mannschaftsbild sieht man ihn mit anderen Jungen, denn der Verein unterhält schon früh Jugendmannschaften und auch eine Altherren-Mannschaft. Wie alles anfing mit Julius „Juller“ Hirsch im Fußballsport, ist glücklicherweise exakt dokumentiert. Sein damals 16-jähriger Sohn Heinold hat dies am 6. November 1938 im „Hausaufsatz No. 4“ – dem letzten Aufsatz im Realgymnasium Goetheschule in Karlsruhe vor seinem Verweis aus rassischen Gründen – unter dem Titel „Meine Ahnen“ festgehalten. Erzählt hat ihm alles der Vater, und so darf man den Aufsatz auch als dessen Bericht (in der Ich-Form als Aussage von Julius Hirsch) wiedergeben:

„Ich verschrieb mich schon früh dem Fußballspiel. Auf dem ‚Engländerle’ (Anm.: also der ‚Engländerplatz’ in Karlsruhe) verbrachte ich den ersten Teil meiner Jugend, trotz Schlägen und Strafen, die ich für meine abends so ‚sauberen’ Hosen und Strümpfe bekam. Man stellte anfangs den noch kleinen Knirps auf Linksaußen (also gewissermaßen kalt), und daraus entwickelte sich später der Linksaußen oder Linksinnen Deutschlands. Die Schule wurde natürlich durch diesen ‚Sport’ (man sagte das damals verächtlich) auch nicht gefördert, doch mein ‚Einjähriges’ brachte ich gut hinter mich und sagte dann der Schule ade.

Um diese Zeit spielte ich auch schon lang in der KFV-Jugend. Und dann kam meine Entdeckung. Bei einem Spiel gegen Freiburg fehlte der damals etwas schon alten Mannschaft des KFV ein Linksaußen gerade für einen Sonntag. Man kann es sich denken, ich hatte schon ein bisschen Herzklopfen, als ich zum erstenmal unter lauter so berühmten Namen spielte, aber bald spielte ich wie sonst und schoss auch ein Tor. Nach dem Spiel sagte der damalige Trainer Townley: ‚Dieser Linksaußen spielt jetzt immer!’, und trotz der Einwendungen der ‚Alten’ verjüngte er dann langsam den KFV.“


„Die Engländer-Spieler“ nannten sich die 1904 fotografi erten Karlsruher Buben nach dem „engländerplatz“, dem ersten Karlsruher Fußballplatz. Er war ursprünglich ein Feuerwehr-Übungsplatz und diente 1933-45 als „Skagerrakplatz“ für aufmärsche der Sa. Der heutige Bolzplatz nahe dem KSC-Fanprojekt-haus wurde um 90 Grad gedreht. Julius Hirsch sieht man auf der historischen Aufnahme sitzend als Zweiten von rechts.


Der Jugendabteilung des KFV gehörte julius Hirsch 1906 an. Als 1. Schriftführer unterschrieb Rudolf Hirsch, der Brudervon julius.


Das „Engländerplätzle“, wie es in den 1890er Jahren ausgesehen haben soll, malte Egon Itta zum 60. Geburtstag von Fußballpionier Walther Bensemann.

In der „Illustrierten Sportzeitung“ vom 6. März 1909 wird Hirsch nach dem 4:0 des KFV gegen den Deutschen Ex-Meister FC Freiburg – der Spieler ist 17 Jahre alt – „ein anerkennendes Lob“ zuteil. Als Torschütze aufgeführt ist er erstmals beim 4:0 gegen Alemannia Karlsruhe im Mai 1909.

Ein legendäres Stürmer-Trio

Hirsch und sein jüdischer Glaubensgenosse Fuchs wuchsen, wie in Kapitel 2 geschildert, in einen Verein hinein, der damals deutschen Spitzenfußball präsentierte. Die Reputation des KFV ging über Deutschland hinaus, so in der Spielzeit 1905/06 nach dem 7:0 über Union Sportive Parisienne: „Keine einzige französische Mannschaft wäre imstande, den Karlsruher Fußballverein zu schlagen. (…) Sie spielen eben für ihre Mannschaft und versuchen nie, wie in Frankreich, persönliche Heldentaten zu vollbringen.“ („Les Sports“, Nr. 506)

Und obwohl der KFV im Juni 1906 Slavia Prag 3:4 unterlegen war, hielt der Berichterstatter der „Deutschen Sport-Zeitung“ fest: „Ich habe mit noch vielen anderen den Eindruck mitgenommen, dass an diesem Tage der Fußballsport in Süddeutschland seine höchsten Triumphe gefeiert hat.“ Weitere sollten folgen, und Hirsch sollte daran entscheidenden Anteil haben.

„Wenn der Hirsch die Hos’ verliert, dann gibt’s ein Tor!“, sollen die Karlsruher Buben über den 1,68 Meter kleinen, schnellen und schwarzhaarigen Stürmer gesagt haben. Als „links wie rechts treffsicher“ galt der ursprüngliche Linksaußen, geistesgegenwärtig auf dem Spielfeld, trickreich, gewandt und torgefährlich. Später rückte er als Halblinker in den Innensturm, den er beim Karlsruher FV mit Förderer als Halbrechtem und dem Mittelstürmer Fuchs bildete – damals, vor dem Ersten Weltkrieg, eine Legende, und auch noch lange Zeit danach. Das Trio kombinierte auf engstem Raum und durfte sich auf präzise Flanken von Rechtsaußen Tscherter verlassen. „Lauter Intelligenzspieler, die ihre Kräfte rationell einzuteilen wussten und einen Stil prägten, der vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland unerreicht blieb“ (KFV-Chronik). In der Überlieferung der Familie Fuchs gilt der KFV-Innensturm fälschlicherweise als

„Judensturm“. Geoffrey Fuchs (geb. 1926 in Karlsruhe) in „Leben danach“, S. 567: „Drei der Stürmer der Nationalmannschaft waren jüdisch, deshalb galten sie als Judensturm.“

Julius Hirsch, lange der Jüngste beim KFV, wuchs zu einer fußballerischen Persönlichkeit heran. Mit zunehmendem Alter rückte er in die Position des Spielmachers und war in jeder Hinsicht ein Vorbild, weshalb er nach dem Wechsel zur SpVgg Fürth auch dort, trotz des „Platzhirsches“ Burger, umgehend zum Spielführer avancierte. War Not am Mann, sprang er als Mittelstürmer ein oder wechselte noch innerhalb der Partie aufgrund geänderter Taktik auf eine andere Position. Dass seine Spielweise gelegentlich als „scharf “, das meint heute: hart, kritisiert wurde, hatte wohl mit dem bedingungslosen Einsatz für sein jeweiliges Team zu tun.

Der junge Hirsch hatte nach seinem Debüt 1909 noch viel vor sich im Fußball. In der Nationalmannschaft, als Olympia-Teilnehmer, zweimaliger Deutscher Meister mit unterschiedlichen Vereinen, Kronprinzen-Pokal-Gewinner mit Süddeutschland – und als Titelträger im jüdischen Sport nach 1933.

Julius Hirsch. Nationalspieler. Ermordet.

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