Читать книгу Julius Hirsch. Nationalspieler. Ermordet. - Werner Skrentny - Страница 11
ОглавлениеKAPITEL 2
„Karlsruhe, Deutschlands Fußballmetropole“ \\\ Sportpresse-Anfänge \\\ Hirsch erlebt Oxford, einen Zuschauerrekord und schließt Freundschaft mit Gottfried Fuchs
„Karlsruhe, Deutschlands Fußballmetropole“? Aus heutiger Sicht würde man diesen Begriff bestimmt nicht mehr wählen. Lang, sehr lang, ist das her in einer Zeit, in der sich Fernsehzuschauer wie der Autor angesichts des Einwurfs von ARD-„Sportschau“-Moderator Reinhold Beckmann anno 2011 wie Zeitzeugen auf dem Altenteil vorkommen müssen: „Wer weiß eigentlich noch, dass der 1. FC Saarbrücken in der Bundesliga spielte?“ (Anm.: Erstmals war das 1963/64.)
Jedoch: Anfang des 20. Jahrhunderts genoss Karlsruhe diesen Ruf der „Fußballmetropole“, dank der beiden Deutschen Meister Phönix Karlsruhe und Karlsruher FV. Doch bereits in den 1920er Jahren galten beide Klubs als „Altmeister“, eine Bezeichnung, die später auf den Nürnberger „Club“ und Schalke 04 überging. Heute ist dieser Begriff nicht mehr gebräuchlich, obwohl es dafür reichlich Kandidaten geben würde.
„Aus Deutschlands Fußballmetropole“ war denn auch ein Beitrag der „Illustrierten Sportzeitung“ aus München vom 19. Mai 1910 betitelt:
„Wer fragt, wo in Deutschland Fußball gespielt wird, dem wird der Eingeweihte immer in erster Linie den Namen der badischen Residenzstadt Karlsruhe nennen. Durch die fast leidenschaftliche Hingabe vieler Anhänger des Fußballspiels während einer langen Reihe von Jahren ist das anfangs auch in Karlsruhe verkannte Fußballspiel so hoch gekommen, dass heute dort fast kein erstklassiges Wettspiel ohne die Teilnahme Tausender stattfindet.
Das Schöne ist, dass die Zuschauer aus allen Bevölkerungsschichten sich zusammensetzen. Da sehen wir Soldaten mit ihren Mädels am Arm, dort Mitglieder des Fürstenhauses; auch alle Altersstufen sind vertreten, die Schuljugend und ergraute Männer. Arm und reich, jung und alt werden durch das Fußballspiel begeistert. Das will etwas heißen in einer Stadt, deren gesellschaftliches Leben als steif und spießbürgerlich bezeichnet wird.“
Ähnliches wiederholte die Zeitschrift im selben Jahr: „Einige Tausend Einwohner der badischen Residenz verbringen den Sonntag-Nachmittag regelmäßig bei den Fußball-Wettkämpfen. Die Ligameisterschaftsspiele sind zu Ereignissen geworden, welche im öffentlichen Leben der Stadt viel bemerkt werden. Seit in Deutschland Associations-Fußball gespielt wird, hört man von den vollendeten Leistungen Karlsruher Mannschaften. Karlsruhe ist die Wiege des deutschen Fußballsportes.“
Fußballpate Walther Bensemann
Der Pate an dieser Wiege – oder besser: „Der Mann, der den Fußball nach Deutschland brachte“, so der Titel des biografischen Romans von Bernd-M. Beyer (der zwischenzeitlich in Karlsruhe so geläufig ist, dass ihn die Nachkommen von Zeitzeugen zitieren!) – hieß Walther Bensemann (1873-1934). Bensemann, eine der herausragenden Persönlichkeiten deutscher Fußballgeschichte, lebte ab 1889 als Schüler in Karlsruhe, hatte den sogenannten Associations-Fußball in der badischen Residenz eingeführt und gilt als (Mit-)Begründer des Karlsruher Fußball-Vereins (KFV). Wann immer später von der Fußballhochburg Karlsruhe berichtet wurde, oft auch aus Bensemanns Feder, nahm der jüdische Pädagoge die Hauptrolle ein. Von Karlsruhe und dessen früher Fußballtradition hat Walther Bensemann zeitlebens nie gelassen.
Auch 1910 wurde er wieder einmal erwähnt, in Erinnerung an die 1890er Jahre, „als Bensemann zum ersten Male einen freien Platz in Karlsruhe mit Tuch umspannen ließ, um 10 Pfg. Eintritt zu erheben“. Ein Vergleich mit damals zeige „drastisch, wie mächtig die Fußballbewegung in Karlsruhe sich ausgedehnt hat“, denn die Eintrittspreise würden nun 50 Pfennige bis drei Mark betragen. Gebe es wie 1910 an einem Tag zwei Ligabegegnungen in der Stadt, „so laufen viele Zuschauer nach Beendigung des einen Spieles im Sturmschritt zu dem beträchtlich entfernten anderen Platz, um auch das andere Spiel anzusehen“.
Das Fazit des Beitrags: „Zweifellos ist die Ausdehnung einer solchen Bewegung sehr erfreulich und gewiss fördernswert, nachdem dieselbe für alle Beteiligten den Aufenthalt in frischer Luft mit sich bringt.“ Ja, derlei hat man vor einiger Zeit von älteren Männern nach einem miserablen Spiel auf der inzwischen leider abgegangenen Spielstätte von Concordia Hamburg gehört: „Wenigstens waren wir an der frischen Luft!“
Fußball-Pioniere in der badischen Residenz: Vermutlich von 1894 stammt dieses Foto der Karlsruher Kickers; sitzend ganz links Ivo Schricker, im Zentrum Walther Bensemann mit Ball.
„Spießbürgerstadt ohne Kaffeehaus-Konzerte“
Auch in der heutzutage vor allem vom lokalen „Hamburger Abendblatt“ proklamierten „Weltstadt“ an Alster und Elbe zollte man seinerzeit „Karlsruhes Fußballverhältnissen“ Respekt.
In den „Mitteilungen des SC Germania“ (Hamburg), einem Vorläufer des Hamburger SV, berichtet stud. mach. Alfred Lohse im März 1912: „Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass die badische Hauptstadt eine so hervorragende Stellung in dem deutschen Fußballwesen einnimmt. Karlsruhe ist trotz seiner 130.000 Einwohner eine Spießbürgerstadt in des Wortes wahrster Bedeutung. Nach einigem Suchen findet man da zwei größere Café, aber ohne Konzert. In Hamburg ist das Caféleben jetzt meist unzertrennlich vom Fußballspiel geworden.“
Dass der Fußball in der badischen Residenz eine dominierende Rolle spiele, liege am „fast gänzlichen Fehlen weiterer Sportsarten“. Auch gebe es „kein charakterloses Hin- und Herlaufen der Mitglieder zwischen den einzelnen Vereinen. Pekuniär stehen diese dank der großen Zuschauermengen tadellos da.“ „Die Vereine in K.“, die „nach Art studentischer Korporationen“ auftreten würden, „führen dem Publikum wirklich einwandfreies und faires Spiel vor und besitzen fußballerzogene junge Leute und nicht eine Horde halbgebildeter Schüler, oder, was noch schlimmer, eine Reihe gänzlich ungebildeter Schlag- und Faustballspieler.“
Vor allem Studenten würden beim Karlsruher FV, dem Stammverein von Julius Hirsch, und Phönix spielen, FV Beiertheim („rüde Kampfesnaturen“) und FC Mühlburg – ebenso wie Phönix ein Gründungsverein des heutigen Karlsruher SC – sich dagegen aus den gleichnamigen Arbeitervierteln zusammen setzen. Für KFV und Phönix spreche auch die Möglichkeit, dort den Tennissport zu pflegen.
Noch 1924 preist die Zeitschrift „Fußball“ geradezu hymnisch das Auftreten des Karlsruher FV: „ein einfach feiner Dress, schwarze Hosen, weißes bauschiges Hemd und mit einem Vereinswappen über dem Herzen. Dicke, graue Wollstümpfe, die oben in die schwarzroten KFV-Farben ausliefen und dort zu dicken Wulsten umgedreht wurden.“ Elegante Kleidung, ungewöhnliche Intelligenz und Eigenart hätten die Spieler ausgezeichnet, die „im gesellschaftlichen und beruflichen Leben erste Posten“ innegehabt hätten.
Die Sportzeitung aus der Amalienstraße
Es passt ins Bild, dass Karlsruhe sogar eine eigene Fachzeitschrift für den Fußballsport besaß. Es war die „Süddeutsche Sportzeitung“, verlegt von Karl Bonning in der Amalienstraße 55. Leider sind von dieser Zeitschrift heute nur wenige Jahrgänge überliefert. Auf die erhältlichen Exemplare musste der Autor lange Monate warten, denn zu Recht waren sie beim Buchbinder in Behandlung. 1907 jedenfalls meldete diese Karlsruher „Illustrierte Wochenschrift für die Gesamtinteressen aller sportlichen Spiele. Fußball, Lawn-Tennis, Athletik, Hockey etc. Alleiniges amtliches Organ des Verbandes Süddeutscher Fußball-Vereine. Offizielles Organ des Deutschen Fußball-Bundes“ bereits den dritten Jahrgang.
Obwohl als Lehrer in England ansässig, war auch in diesem Blatt der umtriebige einstige Karlsruher Fußball-Pionier Walther Bensemann mit ausführlichen Beiträgen präsent. 1907 verhinderte er sogar die Abspaltung des bedeutenden Verbandes Süddeutscher Fußball-Vereine vom DFB. Den entsprechenden Dringlichkeitsantrag des Karlsruher FV, der mit 247 gegen 189 Stimmen positiv ausging, hatte er initiiert und dabei auch gleich den VSFV-Vorstand gestürzt. Dem neuen Vorstand gehörte Bensemann als Verbindungsmann zum DFB an („Bundesbevollmächtigter“). Allerdings nicht lange, denn er hatte nun mal seine Prinzipien.
Hier nun kommt – Fußball-Hochburg Karlsruhe eben – ein anderer Pionier ins Spiel, zuständig für die Sportpresse und bislang genauso wenig gewürdigt wie andere seiner Kollegen aus jenen frühen Jahren. Eugen Seybold hieß er, sein Name steht für die heute nicht mehr existente langjährige Fachzeitschrift „Der Fußball“ aus München.
Über Sport schreiben und den Sport auch betreiben, das war damals oft eins. Der Stuttgarter Kaufmann Seybold siedelte 1901 ins bayerische Landau in der Pfalz über, begründete im März 1902 die Landauer Fußballgesellschaft (LFG), deren Vorsitzender er war, und 1903 den Verband Pfälzer Vereine für Bewegungsspiele (erster Fußballmeister: FC 1900 Kaiserslautern). Es wären jetzt noch mehr seiner Meriten aufzuzählen, und natürlich war Eugen Seybold auch Fußballer und Leichtathlet.
Seine Laufb ahn als Schrift-leiter der „Süddeutschen Sportzeitung“ in Karlsruhe endete mit dem 12. August 1907. Uneins mit dem Verleger Karl Bonning, trat er zurück (oder wurde entlassen). Sein „erster Versuch zur Schaff ung einer Zeitung, die dem süddeutschen Sport bereits einige Dienste geleistet hat“, war gescheitert. Dass als Seybolds Nachfolger der Vorsitzende des Verbandes Süddeutscher Fußball-Vereine, Max Dettinger vom 1. FC Pforzheim, inthronisiert wurde, wollte Bensemann nicht akzeptieren: Funktionär und gleichzeitig Redakteur, hier lag ein Interessenkonflikt vor. Bensemann trat zurück und opponierte z. B. in der „Berliner Zeitung“ heftig gegen die Karlsruher Verhältnisse, was auf vielen Seiten der „Süddeutschen Sportzeitung“ nachzulesen ist.
Zum „Fest-Kommers“ für den Deutschen Fußball-Meister Karlsruher FV lud der Verein am Samstag, 25. Juni 1910, in den Festsaal des „Hotel Friedrichshof“ (Karl-Friedrich-Str. 28) der Brauerei Sinner Grünwinkel in Karlsruhe.
Großer Andrang auf dem KFV-Platz, der in der damaligen Fußballhochburg Karlsruhe auch eine Tribüne besaß.
Bei dieser „Süddeutschen Sportzeitung“ aus Karlsruhe hatte Bensemann aber auch Einiges gelernt, was ihm später als Herausgeber des „kicker“ zugute kommen sollte. Der Vertrieb der „Sportzeitung“ war sehr professionell organisiert: Am Mittwoch erschien sie, erhältlich in den Karlsruher Kiosken an der Hauptpost, am Karlstor und bei der Germania. Ausgelegt war sie zudem – eine kleine Karlsruher Lokalkunde – im „Café Bauer“, „Hotel Erbprinz“, „Restaurant Prinz Karl“, „Restaurant zum Moninger“ (das Stammlokal des KFV), „Reformrestaurant Richard Kirsten“, „Hotel Tannhäuser“, „Restaurant zum Goldenen Kreuz“, „Wiener Café Zentral“, „Gasthof zur Rose“ und „Restauration zur Tanne“.
Als Walther Bensemann am 14. Juli 1920 die „Illustrierte Fussball-Wochenschrift für Deutschland und die Schweiz“ unter dem Namen „Der Kicker“ (genau der!) erstmals herausgab, schmückten den Titel zwei Mannschaftsbilder „Aus Karlsruhe’s Glanzzeit“: die Karlsruher Kickers von 1894 (mit Bensemann) und der KFV von 1899. Blättert man die Seite um, kommt auch der Phönix von 1909 bildlich zu Ehren.
Karlsruher Inserenten begleiteten den Start der seinerzeit in Konstanz erscheinenden Fachzeitschrift: die Buchdruckerei Leo Wetzel (Amalienstraße 55, wo die „Süddeutsche Sportzeitung“ erschien), Café Odeon, Import Export W. Kaier (Nuitsstraße 14), Photo/Sport-Ausrüstungen Alb. Glock (Kaiserstraße 89), Sport Beier (Kaiserstraße 174 – Artur Beier, „der Sportsmann kauft beim Sportsmann“, diesem Fußballpionier von Phönix widmete Bensemann oft wohlwollende Zeilen), Druckerei Friedrich Pampel (Viktoriastraße 17).
Auch Eugen Seybold, der ehemalige Schriftleiter der „Süddeutschen Sportzeitung“, hat die Karlsruher Jahre nie vergessen. Im Oktober 1911 legte er eine „Probenummer“ von „Der Fußball. Wochenschrift zur Förderung des Rasensports“ auf, woraus eine langjährige Erfolgsgeschichte werden sollte. Es geschah in München-Schwabing, dort, wo auch der FC Bayern entstand. Sucht man heute die damalige „Fußball“-Adresse Kaulbachstraße 88 auf, so findet man tatsächlich noch das ehemalige Verlagsgebäude (heute Privatwohnungen) samt Gewerbehof vor. Eine kleine und erfolgreiche „Fußball-Archäologie“…
Aus der Kaulbachstraße in München-Schwabing kam 1911 auch die Analyse deutschen Fußballspiels inklusive einer Bensemann-Würdigung, denn Letzterer war aus alter Karlsruher Verbundenheit mit Herausgeber Seybold ein wesentlicher Mitarbeiter des „Fußball“:
„In Karlsruhe hat man dank des opferfreudigen Wirkens eines Walther Bensemann schon sehr frühe (Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts) wirklich gute Spiele gesehen. Als Bensemann damals gemeinsam mit Schulkameraden das Associationsspiel einführte, ermöglichte er (neben der Anschaffung der Spielgeräte) kostspielige Reisen von Mannschaften zu Besuchen und Gegenbesuchen. Keine andere Stadt in Deutschland hat so viele hochklassige Fußballkämpfe gesehen. In keiner anderen deutschen Stadt hat die Jugend so bequem Gelegenheit, Fußball zu spielen. Und da Karlsruhe, die Fußballmetropole Deutschlands, zum Südkreis gehört (in dem Stuttgart, Freiburg und Pforzheim unter ähnlichen günstigen Bedingungen das Fußballspiel spielen können) (Anm.: gemeint sind die Stuttgarter Kickers, FC Freiburg, 1. FC Pforzheim), so hat sich mit der Zeit ein Kreis von Elitemannschaften gebildet.“
Pionier Walther Bensemann zog im „Fußball“ bereits 1911 unter dem Titel „Der Ausblick in die Zukunft“ ein frühes Fazit seines Lebens: Etwa 35 Vereinen und Verbänden habe er innerhalb von 24 Jahren angehört. Der Verband Süddeutscher Fußball-Vereine habe ihn bereits vor zwölf Jahren mit einem Bann belegt. „In der alten Fußballmetropole Karlsruhe verkehre ich schon jahrelang bei keinem Sportverein.“ Er habe in all den Jahren mehr Differenzen gehabt als irgendein anderer. „Meine Finanzen sind im Sport nicht besser geworden. Ich bereue nichts.“
So war es, und die Karlsruher Fußball-Legende inszenierte sich von nun an weiterhin gerne selbst. In „Fußball und Olympischer Sport“, so 1913 der neue Zeitschriften-Titel aus München-Schwabing, schaltete Bensemann eine Anzeige zur „Karlsruher Jubiläumsfeier 1914“. Denn 25 Jahre war es her, seit im September 1889 dort der Associationssport begründet worden war. Das provisorische Festkomitee bildeten Artur Beier, der spätere FIFA-Generalsekretär Dr. Ivo Schricker, beruflich in Kairo ansässig – und Walther Bensemann. Ob die Feier im „Hotel Viktoria“ tatsächlich stattfand, ist ungewiss: Am ausgewählten 1. August begann der Erste Weltkrieg.
Oxford-Gastspiel mit Zuschauer-Rekord
Der kleine Exkurs, der die große Bedeutung der frühen Fußball-Metropole Karlsruhe beleuchtet, soll mit einem Ereignis beendet werden, bei dem der junge Julius Hirsch sicherlich Augenzeuge gewesen ist. Erneut ist es Walther Bensemann, der für eine Premiere sorgt. Er verpfl ichtet für einen Werktag (!), es ist Montag, der 8. April 1907, Anstoß 16 Uhr, den Oxford University Association Football Club (O. U. A. F. C.) für das einzige Gastspiel in Süddeutschland beim Karlsruher FV. Stadtrat Leopold Kölsch lobt den Organisator: „Für die Einführung des schönen Fußballsports muss die Stadt Karlsruhe Herrn Bensemann dankbar sein.“
Bereits am 19. Februar 1907 kündigte die „Süddeutsche Sportzeitung“ aus Karlsruhe das sensationelle Gastspiel von Oxford beim Karlsruher FV an, das Fußballpionier Walther Bensemann vermittelt hatte.
Am Sonntag vor dem Spiel, gegen 23 Uhr, fi nden sich zahlreiche Karlsruher am Hauptbahnhof ein, um den Zug aus Prag mit den Fußballern aus Oxford zu empfangen. Doch bis die eintreff en, zeigt die Uhr Mitternacht. Erstaunlich und wegweisend im jungen Fußball-Land Deutschland: Die Stadt Karlsruhe und ihr Fremdenverkehrsamt übernehmen die Kosten der Veranstaltung, ebenso das Frühstück für die Gäste am Montag um elf Uhr vormittags. Zuvor erleben die Engländer eine „Wagenfahrt durch die Stadt“. Nach dem Spiel ist um 18.30 Uhr das „Diner“ im „Hotel Erbprinz“ angesetzt, es schließt sich der „Kommers“ im „Café Bauer“ an, bei dem die Artilleriekapelle Nr. 14 aufspielt, und um Mitternacht steigen die Engländer wieder in den Zug.
Das Sensationelle am Oxford-Gastspiel ist die Zuschauerzahl: 3.000 kommen zum KFV, Zuschauerrekord für Deutschland, „in agitatorischer Hinsicht der Beweis, dass wir unserem Sport die gebührende Wirkung verschaffen können“ („Süddeutsche Sportzeitung“). „Ein feines Publikum aus den ersten Gesellschaftsklassen“ wird registriert (die Arbeiter gehen werktags um 16 Uhr noch ihrem Beruf nach, der Achtstundentag gilt erst ab 1918), und so viele Damen wie sonst nur beim Pferderennen. Prinz Max von Baden, „Seine Großherzogliche Hoheit“, nimmt auf der neu errichteten Tribüne in der Hofloge Platz. Bensemann stellt ihm die englischen Spieler vor und hebt die politische Bedeutung des Freundschaftsspiels hervor. Ein Hoch auf „den König von Großbritannien und Irland und Kaiser von Indien“, Eduard VII., wird ausgebracht und ein weiteres auf den deutschen Kaiser Wilhelm II. Neben Max von Baden findet sich weitere Prominenz ein: Staatsminister Alexander Freiherr von Dusch, Ministerialpräsident Freiherr von Marschall, der preußische Gesandte Karl von Eisendecher, dazu Generäle, Offiziere und sogar der Professor und Kunstmaler Hans Thoma, Direktor der Karlsruher Kunsthalle.
Innerhalb des umfangreichen Programms wird natürlich auch Fußball gespielt. Oxford gewinnt mit 3:0, und der damals 15-jährige KFVJugendspieler Julius Hirsch wird bestimmt zugesehen haben. Der andere spätere jüdische Nationalspieler, Mittelstürmer Gottfried Fuchs, wirkt an diesem Tag erstmals in der 1. Mannschaft des KFV mit („der neueingestellte Fuchs“).
Die „Holz-Füchse“
Vom Land in die Stadt: Den Weg der Vorfahren von Julius Hirsch beschritten auch die von Gottfried Fuchs, der am 3. August 1889 in Karlsruhe geboren wurde. Auch in seiner Familiengeschichte tauchen Untergrombach und Obergrombach auf. Die Großeltern Hirsch (dies ist der Vorname!) und Fanni Fuchs waren um 1871/72 aus dem Dorf Weingarten bei Karlsruhe, woher auch die Hirschs kamen, in die Residenzstadt gezogen. Dr. Richard Fuchs, Gottfrieds Bruder, hat das nacherzählt: „In Karlsruhe hatten die Urgroßeltern (Anm.: er meinte die Großeltern) ein Haus gekauft. (…) Jahrzehnte später, als reiche Leute, haben sich die Füchse nicht immer gerne an die Tatsache erinnern lassen, dass sie als arme Zuwanderer im ‚Dörfle’ angefangen hatten. Erst die folgende Generation kommt dazu, stolz zu sein auf den bescheidenen Beginn der Familie.“
Eine dynamische Fußballszene nahm der unbekannte Fotograf hier auf: Fritz Tscherter treibt das Leder voran, im Vordergrund ist Gottfried Fuchs zu sehen, hinten Julius hirsch. Die Partie KFV – VfR Mannheim endete 1912 mit 9:1.
„Das Dörfle“ wurde ursprünglich für die beim Schlossbau beschäftigten Handwerker errichtet. Später galt es als Armenviertel der Stadt und Heimat der Tagelöhner. In der NS-Zeit werden von dort die Sinti und Roma deportiert. Seit dem 19. Jahrhundert ist „das Dörfle“ ein Ort der Prostitution, und noch heute beherbergt es am östlichen Ende der Zähringer Straße das kleine Rotlichtviertel der Großstadt.
Die Fuchs verlegten sich auf den Holzhandel – eine ausgezeichnete Entscheidung. Denn nach der Reichsgründung 1871 und der bereits zuvor fortschreitenden Industrialisierung entwickelt sich eine rege Bautätigkeit. Karlsruhe wächst und wächst: 1865 sind es 30.000 Bewohner, ein Vierteljahrhundert später fast 73.500. 1900 werden bei der Volkszählung 97.183 Bewohner registriert, davon sind 67 Prozent zugezogen. Bald darauf ist Karlsruhe die 34. deutsche Großstadt, als es die Grenze von 100.000 Einwohnern überschritten hat.
Wie der Tuchhandel der Brüder Hirsch, so florieren angesichts dieser Entwicklung auch die Geschäfte der Familie Fuchs. Die Fuchs-Söhne gründeten wie erwähnt in sehr jungen Jahren die Holzhandel-Firma H. Fuchs Söhne (HFS; das H steht für den Vater Hirsch Fuchs). Sie expandiert bald von Karlsruhe nach Stuttgart und Straßburg, damals Teil des Deutschen Reiches. Um die Jahrhundertwende ist sie auf 46.000 qm im Karlsruher Rheinhafen ansässig, samt Säge- und Hobelwerk sowie Parkettfabrikation. HFS wird die bedeutendste Holzhandlung Südwestdeutschlands, und 1920 meldet das Karlsruher Adressbuch: „H. Fuchs Söhne, Holzhandlung, Hobel- und Sägewerk, Bureau, Lager und Werk am Rheinhafen, Hansastr. 5, Tel. 9, 57, 909 (Anm.: drei Telefon-Anschlüsse!), Ein- und Ausfuhr ausländischer Hölzer.“
Der „Fußball-Millionär“
Gottfried Fuchs’ Lebensweg ist vorgezeichnet: Geschäfte und noch einmal Geschäfte. In Karlsruhe wird die wohlhabende und weitverzweigte Familie den Beinamen „die Holz-Füchse“ erhalten. Dazu werden auch jene Familienmitglieder gezählt, die gar nichts mit der Holzbranche zu tun haben. Gottfried Fuchs wird auf seine berufliche Laufbahn u. a. in London und Düsseldorf vorbereitet, und in diesen Städten hat er auch das Fußballspiel kennengelernt, das ihn berühmter machen sollte als seine beruflichen Erfolge. Später wird man ihn den „Fußball-Millionär“ nennen. Ob zu Recht oder Unrecht, werden wir in diesem Buch noch hinterfragen müssen. Für sein Können auf dem Rasen ist er allerdings finanziell nie honoriert worden.
Beim Oxford-Spiel für den KFV ist Gottfried Fuchs 17 Jahre jung und hat das fußballerische Knowhow neben dem Engländerplatz nach der Schule in Karlsruhe bereits andernorts erworben. Er hat mit dem Düsseldorfer FC 1899 (heute: Düsseldorfer SC 99) 1906/07 die Meisterschaft von Nordrhein und anschließend die Westmeisterschaft (5:1 gegen BV 04 Dortmund, 3:1 gegen Kölner FC 99, 7:0 gegen Kasseler FV) gewonnen. Danach gastiert er mit den Rheinländern u. a. in Frankfurt/M. und Offenbach: „Gegen Germania Frankfurt schoss unser lieber Fuchs das hundertste Tor in dieser Spielzeit!“ (Vereinschronik 1924). Ungeachtet des einmaligen Auftritts beim KFV gegen Oxford tritt Fuchs für den Düsseldorfer FC bereits am 21. April 1907 in Duisburg wieder an. Es ist sein Debüt in der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft, und beim 1:8 gegen Viktoria Hamburg (heute SC Victoria) erzielt er den Ehrentreffer. Der DFC hat damals nach dem Feldverweis seines Torhüters nur noch zehn Mann auf dem Platz.
Gottfried Fuchs gehört in Düsseldorf einem Team an, das zur Hälfte aus Engländern besteht: Rapier, Miller, Kirby, Leak und die Brüder Briggs mit Namen. „Wir sind um der Engländer willen seinerzeit stark angefeindet worden“, berichtet die Vereinschronik. „Für die Hebung der Spielstärke unseres Vereins und damit zur Belehrung Anderer war das Mitspielen der Engländer aber von großer Bedeutung.“
Gelernt hat Fuchs von den Briten auch die Fairness: Als beim Stand von 0:0 in einem späteren Punktspiel des Karlsruher FV gegen Wiesbaden ein Strafstoß für seine Mannschaft gegeben wird, bittet er den Unparteiischen, die seiner Ansicht nach falsche Entscheidung zurückzunehmen. Und als man ihm nach einer anderen Begegnung einen Lorbeerkranz verleiht, zupft er die einzelnen Blätter heraus und verteilt sie an die Mitspieler.
Fuchs selbst datiert diese Zeit in einem Brief, den er 1955 an seinen früheren Kölner Gegenspieler Peco Bauwens, den späteren DFB-Präsidenten, schickt, auf 1905 und 1906: „Dies waren die Zeiten, als Düsseldorf sich unter dem Spielführer Leak mit der Engländermannschaft des FC Ratingen vereinigt hatte.“
Im Rahmen seiner beruflichen Ausbildung ist Fuchs dann in London tätig, die Töchter Anita und Natalie bestätigen dies, und vermutlich hat er auch dort Fußball gespielt. 1908 läuft er erneut für Düsseldorf auf: „Mit Hilfe unseres eigens aus London herbeigeeilten Gottfried Fuchs schlagen wir die Hanauer (Anm.: 1. Hanauer FC 1893) mit 3:0, sehr zum Leidwesen der zahlreichen hiesigen Hanauer Kolonie. Eine unvergessliche Kabinettleistung von Fuchs war es, einem Hanauer den Ball vom Fuße wegzuköpfen und dann das erste Tor zu schießen.“ (Vereinschronik des DFC)
Gottfried Fuchs, womöglich fußballerisches Vorbild von Julius Hirsch, wird dessen lebenslanger Freund, der sich auch viele Jahre später an das letzte Wiedersehen der beiden in Paris erinnern wird. Hirsch und Fuchs werden gemeinsam beim Karlsruher FV spielen, sie gehören der süddeutschen Auswahl und der deutschen Nationalelf an.