Читать книгу Julius Hirsch. Nationalspieler. Ermordet. - Werner Skrentny - Страница 14

Оглавление

KAPITEL 4

1910: Der KFV wird endlich Meister, mit „Junior“ Hirsch und „Bill“ Townley \\\ Viermal Karlsruhe gegen Karlsruhe \\\ In die USA, über den Atlantik?

Der 1891 entstandene Karlsruher FV gehörte zu den Mitgründern des 1897 in der Karlsruher Studentenkneipe „Zum Landsknecht“ (Kreuzung Zirkel/Herrenstr.) aus der Taufe gehobenen Verbands Süddeutscher Fußball-Vereine (VSFV), der mitgliederstärksten regionalen Organisation im DFB. Im Jahr 1909 zählt er 256 Vereine mit 18.527 Mitgliedern, gefolgt von Westdeutschland (206/13.819).

Wer damals Süddeutscher Meister wurde, durfte eigentlich auch die Teilnahme am Endspiel um die Deutsche Meisterschaft erwarten. Und vermutlich wäre der Karlsruher FV bereits bei der Premiere 1903 auf dem Altonaer Exerzierplatz dabei gewesen, hätte es nicht im Vorfeld eine ziemlich dubiose Geschichte gegeben. Ursprünglich sollte die Halbfinal-Begegnung mit dem Deutschen Fußball-Club Prag in München stattfinden, doch Prag beanspruchte das Heimrecht, weil es dadurch höhere Einnahmen erwartete. Der DFB bestimmte daraufhin als Austragungsort Leipzig. In einem gefälschten Telegramm wurde den Karlsruhern allerdings eine Absage des Spiels mitgeteilt: der erste deutsche Fußball-Skandal, der nie aufgeklärt werden konnte. Das Endspiel trug infolgedessen der DFC Prag gegen den VfB Leipzig aus und unterlag 2:7.

1904 musste der KFV entgegen dem DFB-Reglement in der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft auf einem nicht-neutralen Platz in Berlin-Friedenau gegen Britannia Berlin antreten. Er unterlag 1:6 und legte Protest ein, woraufhin der DFB den ganzen Wettbewerb ad acta legte. Der Grund, weshalb nie ein Endspiel um die Deutsche Meisterschaft in Kassel stattfand – vorgesehen war es für den 29. Mai 1904.

Im Jahr darauf, 1905, erreichten die Karlsruher endlich erstmals das Endspiel, doch gewann Union Berlin im Weidenpescher Park von Köln-Merheim mit 2:0. Mittelläufer beim KFV war der spätere Ägypten-Auswanderer und noch spätere FIFA-Generalsekretär Dr. Ivo Schricker, und Mittelstürmer war „Captain“ Rudolf Wetzler, dem die Mannschaft einige Spielkultur verdankte. Im erneuten Endspiel 1910 werden aus dieser Mannschaft noch Max Schwarze und Hans Ruzek dabei sein.

Aber erst einmal wurde und wurde es nichts mit dem Titel für den KFV, denn 1906 hatte man einen nicht spielberechtigten Akteur eingesetzt, weshalb der 1. FC Pforzheim als Südmeister ins Endspiel einzog. Dessen Vorbereitung war alles andere als professionell: Am Samstag wurde in der Schmuckstadt noch gearbeitet, die Zwischenstation des Nachtzugs in Stuttgart nutzte man im Wartesaal fürs Billardspiel und sah sich am Sonntag in Nürnberg erst einmal noch die Burg (der dort ausgestellten Schmuckgegenstände wegen!) und die Altstadt an. Die sächsische Kaufmannschaft bzw. der VfB Leipzig war früher angereist und gewann gegen die übermüdeten Pforzheimer 2:1.

Professoren und Doktoren

1907 hieß der Deutsche Meister aus dem Süden Freiburger FC, ein schönes Beispiel für Integration lange vor Özil, Khedira und Co., denn die Studentenschaft der Universitätsstadt war ziemlich multinational. Torwart Dr. Paul von Goldberger („Gilly“) hatte als Österreicher in Berlin studiert und wurde später Schlussmann der ungarischen Nationalmannschaft. Stürmer Philipp Burkhart veränderte sich beruflich und gewann 1909 mit Stade Helvétique Marseille den französischen Meistertitel; auch hielt er den südfranzösischen Rekord im Kugel- und Diskuswurf. Dr. L. C. de Villiers kehrte nach Südafrika zurück und arbeitete als Geologie-Professor. Nach ihm ist heute der Sportpark der Universität Pretoria benannt. Zum Schweizer Nationalspieler von Cantonal Neuchâtel avancierte Henri Sydler II. Max Haase aus Berlin war zur Zeit des Titelgewinns Lehramtspraktikant, Dr. Felix Hunn Pädagoge an der Oberrealschule Freiburg. Den Doktortitel trugen auch die Meisterspieler August Falschlunger, Josef Glaser (beide später Prof.) und Hofherr. Die Akademiker-Elf genoss „das Protektorat Sr. Durchlaucht des Fürsten zu Fürstenberg“.

Aus dem Süden erreichten 1908 die Stuttgarter Kickers, gerade einmal neun Jahre jung, das Finale (0:3 gegen Viktoria 89 Berlin). Und der Deutsche Meister am Pfingstsonntag 1909 kam aus Karlsruhe, allerdings war es nicht der KFV, sondern Phönix: 5:0 gegen den FC München-Gladbach (heute: Mönchengladbach) auf dem Duisburger SV-Platz (1.200 Zuschauer), 9:1 gegen den SC Erfurt in Frankfurt/Main (Victoria-Platz, 1.500) und 4:2 gegen Viktoria 89 Berlin in Breslau (SC-Schlesien-Sportplatz, 1.500). 1952 wird Phönix mit dem VfB Mühlburg aus der Vorstadt den Karlsruher SC bilden. Vorangetrieben hatte diese Fusion Oberbürgermeister Günther Klotz, dessen Vater Franz ehemals die Jugendabteilung von Phönix begründet hatte.

1909 waren beim Empfang von Meister Phönix Karlsruhe mehr Menschen auf den Beinen als am Endspielort. Für Breslau galten 1.500 Zuschauer als Rekord, „der Fußballsport hat dort verhältnismäßig wenig Anhänger“. Rund zweimal 20 Stunden hatten die Badener auf der Bahn nach/von Schlesien zugebracht, auf der Rückreise gratulierten unterwegs auf den Bahnsteigen die Fußballer von Hanau, Offenbach und Frankfurt. Pfingstmontag, am Abend gegen 20 Uhr, begannen die Feierlichkeiten im Karlsruher Bahnhof; am Bahnsteig hatte man einen Gepäckwagen zur Rednertribüne umfunktioniert.

Ob Julius Hirsch sich als Karlsruher Lokalpatriot mitgefreut hat oder ob er sich ganz und gar „seinem“ KFV verschrieben hatte? Es gab die Rivalität beider Vereine, von Neid und Missgunst und gar Ausschreitungen ist aber nichts bekannt. So war denn auch der KFV an jenem Pfingstmontagabend im Karlsruher Bahnhof zur Stelle und überreichte den Akteuren des neuen Deutschen Meisters den obligatorischen Lorbeerkranz. Die KFVler hatten am Vortag noch „in Freundschaft“ und ohne Nachwuchsspieler Hirsch beim FK Basel gastiert und 4:1 gewonnen.

Die Bilanz des mächtigen Fußball-Südens im Jahr 1909 lautete für die Zukunft vielversprechend: sechs Endspiele um die Deutsche Meisterschaft seit 1903, Deutsche Meister der Freiburger FC und der Karlsruher FC Phönix aus der Region, Deutsche Vizemeister zudem der Karlsruher FV, 1. FC Pforzheim und Stuttgarter Kickers. Die anderen Titelträger hießen VfB Leipzig (1903, 1906), Union 1892 Berlin (1905) und Viktoria 89 Berlin (1908).

Der erste Trainer

Für den KFV aber stand der Titelgewinn nach wie vor aus. Der Trainer William („Bill“ bzw. „Billy“) Townley (1866-1950), der den jungen Julius Hirsch in die 1. Mannschaft holte und später auch nach Fürth verpflichtete, gilt aus heutiger Sicht als ausschlaggebend für den weiteren Aufstieg des Karlsruher FV. Engagiert beim DFC Prag, hatte ihn bei einem Gastspiel in Baden bereits der 1. Pforzheimer Fußball-Klub (1896 gegründet, später 1. FC Pforzheim) kontaktiert. Als „der Club“, wie der 2010 verblichene Verein in der Goldstadt am Eingang zum Nordschwarzwald genannt wurde, mit Townley nicht einig wurde und stattdessen dessen Assistenten (vermutlich: Jackie) Dewhurst engagierte, unterschrieb der ehemalige Berufsspieler von Blackburn Rovers aus England am 17. Januar 1909 mitten in der Saison 1908/09 beim KFV. Der hatte damit nicht nur seinen ersten hauptamtlichen Trainer, sondern zählte auch 355 Mitglieder, davon 90 Jugendliche inklusive Julius Hirsch (Stand 1908), hatte Tennisplätze angelegt und den Bau eines Klubhauses beschlossen. Und bereits seit dem ersten Sportfest am 16. September 1906 pflegte der Verein auch die Leichtathletik. Ein vielbeachteter erster Erfolg der Ära Townley war ein Remis an Ostern 1909 gegen die Pirates London, von denen heute gar niemand mehr etwas weiß.


Kastentabelle der „Illustrierten Sportzeitung“ zur Saison 1908/09, in der der KSC-Vorgängerverein Phönix karlsruhe Deutscher Meister wurde.

Bereits im März 1909, nach einem 8:0 der Karlsruher auf heimischem Terrain gegen den FC Basel, vermutete die „Sport-Illustrierte“ und deren Berichterstatter Robert Imbery: „Es ist zu erwarten, dass Trainer Townley für das Spätjahr eine Mannschaft auf die Beine bringt, die sich den alten Traditionen des Vereins würdig erweist.“

Als die neue Spielzeit 1909/10 in Süddeutschland beginnt, sind die führenden Vereine auf vier Ligen verteilt:

den Südkreis (Karlsruhe 3, Stuttgart 3, Pforzheim, Freiburg und Straßburg je 1 ( das heute französische Strasbourg gehörte seit dem Kriegsende 1870/71 zum Deutschen Reich);

den Nordkreis (Frankfurt 7, Wiesbaden 2, Hanau 2, Offenbach 1);

den Ostkreis (München 2, Fürth, Nürnberg je 1);

den Westkreis (Mannheim 4, Ludwigshafen 3, Darmstadt, Kaiserslautern je 1).

Von den damaligen Erstligisten sind in der Spielzeit 2011/12 noch in der 1. bis 4. Liga dabei:

Bundesliga: FC Bayern München, 1. FC Nürnberg, 1. FC Kaiserslautern (ehem. FVK);

2. Bundesliga: SpVgg Fürth, Karlsruher SC (in der Nachfolge von Phönix), FSV Frankfurt;

3. Liga: Offenbacher Kickers;

4. Liga Stuttgarter Kickers.

Racing Strasbourg aus Frankreich, mittlerweile in die 5. Liga verdammt, gehört seit 2011/12 nicht mehr in diese Aufstellung.

Die Südkreis-Liga, in der der KFV antritt, ist hochkarätig besetzt, denn dort starten der amtierende Deutsche Meister und Titelverteidiger Phönix Karlsruhe, der Deutsche Ex-Meister FC Freiburg, die früheren deutschen Vizemeister Stuttgarter Kickers und 1. FC Pforzheim sowie der zweimalige Südmeister FV Straßburg. Mehr geht nicht: Es ist Deutschlands stärkste Liga!

Der Ruf des KFV ist, obwohl er noch nie die Deutsche Meisterschaft gewann, famos. Die Gastspiele an Weihnachten 1909 beim Berliner F-Kl. Preußen (2:1 gewonnen) und beim Hannover F-Kl. von 1896 mit nur neun Spielern (6:1-Sieg, „ausnahmsweise eine große Zuschauermenge“) werden von den Gegnern als „Ereignis der Saison“ bezeichnet.

Hirsch war beim Saisonstart im August 1910 beim 4:1 gegen Bayern München wieder am Ball. Das weiß man aus der „Wettspiel-Chronik“ des KFV (http://karlsruher-fv1891.de/1.pdf). Darin wird nach einem 4:0 im Punktspiel beim FV Straßburg berichtet: „Straßburgs Platz ist gänzlich spielunfähig (unebener Boden). Fuchs und Hirsch konnten durch rasche Durchbrüche die Tore erringen.“

Das Punktspiel der Spielzeit 1909/10 zu Hause gegen die Stuttgarter Kickers – Besucher können jetzt auch auf einer überdachten Tribüne Platz nehmen – wird in der „Illustrierten Sportzeitung“ als „der schönste Kampf unter den vielen interessanten Spielen“ bezeichnet. Hans Trapp, den Vorsitzenden der Stuttgarter Kickers, schmerzt die Niederlage nicht: „Es kommt bei uns nicht so sehr darauf an, offizieller Meister zu sein, als vielmehr gut und fair spielen zu können, denn unser Publikum will vor allem schöne Leistungen sehen.“ Der „Sportzeitung“-Reporter erlebt auch das 5:0 des KFV auf dem gefürchteten Terrain des 1. FC Pforzheim: „Ich habe noch keine bessere kontinentale Mannschaft gesehen. KFV ist zweifellos gegenwärtig die beste süddeutsche Mannschaft. Karlsruhe legte ein Spiel vor, dem beizukommen unmöglich war.“

Als am 3. Oktober 1909 in der Punktspielrunde der KFV und Phönix aufeinandertreffen, registriert die „Sportzeitung“ 3.500 Besucher: „Diese Zuschauerzahl spricht für das ungewöhnliche Interesse, das man den Begegnungen dieser beiden Vereine entgegenbringt. Überall, wo in Deutschland Fußball gespielt wird, hat man diesen Wettkampf mit Aufmerksamkeit verfolgt und das Resultat telegraphisch sich melden lassen.“ („Sportzeitung“, 23.10.1909)

Lehre und Fußball

Hirsch ist jetzt Stammspieler, beruflich geht er nach dem Abschluss der Obersekunda der Oberrealschule mit der Mittleren Reife und einem Jahr in der Pflichthandelsschule einer kaufmännischen Lehre nach. Dies geschieht seit dem 1. Oktober 1908 für zwei Jahre in der jüdischen Lederhandlung Freund und Strauss. Deren Sitz, ein Backsteingebäude mit grünem gusseisernen Eingangsportal, ist in der Karlsruher Kreuzstraße 31 noch erhalten. Nach Abschluss der Lehre wird Hirsch dort bis zum 22. März 1912 angestellt, ehe der Militärdienst die berufliche Laufbahn unterbricht.

Es läuft in der Runde 1909/10 auf Karlsruhe gegen Karlsruhe hinaus, denn nach der Punkterunde liegen der Titelverteidiger Phönix und der KFV gleichauf. Die Entscheidung wird an einem neutralen Ort fallen, im 25 km entfernten Pforzheim. Die bekannte Schmuckstadt zählt seinerzeit fast 70.000 Einwohner. Der 1. FC Pforzheim von 1896 hat seinen Platz (noch) an den Weiherwiesen am Ufer der Enz. Die Korrektion des Flusses aus dem Nordschwarzwald wird ihn zum 1913 eröffneten klassischen Fußballstadion im Brötzinger Tal führen, das 2013 einhundert Jahre besteht und damit zu den ältesten deutschen Sportstätten gehört, bei Drucklegung allerdings in seiner Existenz bedroht ist.

Der 1. FC Pforzheim von 1896 hat 1908 in Arthur Hiller II den ersten Spielführer der Nationalelf gestellt, insgesamt werden es schließlich elf A-Internationale. Just 1910 ist „der Club“, wie er in Stadt und Umland genannt wurde, mit mehreren hundert Mitgliedern Deutschlands größter Fußballverein: „Wer einmal da war, kam das nächste mal fast sicher wieder, und wenn die Leute öfter kommen, so haben sie Interesse und treten dem Klub als unterstützende Mitglieder bei.“ („Illustrierte Sportzeitung“, Nr. 7, 1910)

Obige Formulierung, dass der Verein „,der Club’ genannt wurde“, ist deshalb angebracht, weil der Traditionsverein 2010 aufgrund seiner Verschuldung ein unrühmliches Ende nahm, als er in einem Fusionsgebilde namens 1. CfR Pforzheim verschwand und auch die blau-weißen Vereinsund Stadtfarben zugunsten der badischen Landesfarben Gelb-Rot aufgab. Dem Autor tat das weh, war doch der „Club-Platz“ im Brötzinger Tal, als er als 15- und 16-Jähriger dort noch Punktspiele (!) gegen Bayern München miterlebte, Teil seiner fußballerischen Sozialisation. Es war eine Zeit, in der ältere Männer im sehr zahlreichen Publikum noch von corner als Eckstoß sprachen und, das möchte der Verfasser jetzt nicht beschwören müssen, von penalty als Strafstoß – eine Überlieferung über Generationen, Tradition eben. Ehe mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, in dem Großbritannien ein Gegner der Deutschen war, diese Begriffe nicht mehr gebräuchlich waren, galten skorer (Torschütze), goal (Torerfolg), backs (Verteidiger), halfbacks (Läufer) und forwards (Stürmer) als gängige Bezeichnungen – man sehe einmal die um 1910 gängigen Sportzeitschriften nach.

Ausgerechnet die Recherche zu diesem Buch hat den „Schmerz“ des Verfassers keinesfalls gelindert, begegnete er doch ständig dem Pforzheimer „Club“. Und er stieß in der Fachzeitschrift „Der Fußball“ auf einen Leserbrief aus dem Jahr 1913, als in der Goldstadt an eine Fusion zu „Pforzheim United“ gedacht wurde: „Was nun den 1. FC Pforzheim betrifft, so sollte er sich nie und nimmer mit dem Gedanken einer Vereinigung befreunden. (…) Die jetzige Leitung ist es den alten Spielern und dem Rufe der Stadt unbedingt schuldig: Der Erste Pforzheimer Fußball-Club für alle Zeiten zu bleiben.“

Immer wieder: Karlsruhe gegen Karlsruhe

Im Jahr 1910 steht nun in ebendiesem Pforzheim das Entscheidungsspiel der Südkreis-Liga zwischen dem Deutschen Meister Phönix Karlsruhe und dem KFV an. Die „Illustrierte Sportzeitung“ aus München – der wunderbare Untertitel lautet: „Wochenschrift zur Hebung der Volkskraft durch gesunde körperliche Ausbildung“ – hat einen Berichterstatter geschickt, und da sein Report mehr ins Feuilletonistische und nicht zur „Eins-zu-null-Berichterstattung“ tendiert, könnte es der alte journalistische Fahrensmann Walther Bensemann gewesen sein. Natürlich wird auch der 3:0-Erfolg des KFV benannt, doch macht sich der Berichterstatter vor allem über die 5.000 Besucher am Enz-Ufer Gedanken: „Die Zuschauer haben sich bei den Spielen bedeutend vermehrt, es hat sich in jeder der an den Südligaspielen beteiligten Städte ein mehrere Tausend zählendes, gutes Stammpublikum gebildet. Es ist keine gafflustige Menge, es ist ein Publikum mit großem Verständnis für schöne sportliche Leistungen.“

Das Pforzheimer Ergebnis hin oder her, aus Karlsruhe werden sowohl der KFV als auch Phönix, der als Titelverteidiger startberechtigt ist und gar nicht an der Süddeutschen Meisterschafts-Endrunde teilgenommen hat, für die deutsche Endrunde zugelassen. Deren Teilnehmerfeld ruft wieder einmal die Kritik der „Illustrierten Sport-Zeitung“ hervor: Die Balten (Prussia Samland Königsberg scheidet gleich mit einem 1:5 aus), Südostdeutschland (VfR Breslau) und die Mark Brandenburg (Berliner FC Preußen) hätten in der Endrunde nichts zu suchen. Alle drei Verbände würden auf insgesamt 9.000 Mitglieder kommen, der Süden jedoch auf 27.000. Sollte man also nicht gleich das Endspiel zwischen den besten süddeutschen Klubs austragen?

Es ist ein recht arroganter Standpunkt vor allem hinsichtlich der Berliner Fußballvergangenheit. Ungerecht erscheint aus heutiger Sicht auch, dass der FC Tasmania 1900 Rixdorf verspottet wird, „der den Namen einer Insel bei Australien trägt. Tasmania hat nur den Vorzug, an einem durch die Musik populär gewordenen Platz zu wohnen“. Gemeint ist hier der 1889 veröffentlichte Gassenhauer „In Rixdorf ist Musike“, der sich auf die später zu Berlin-Neukölln gehörige Vorstadt bezieht und die dort allzu oft vorkommenden Schlägereien und Trinkgelage. Aber immerhin schaffen es die geschmähten Tasmanen 1909/10 bis ins Halbfinale, wo sie allerdings beim 0:6 gegen Holstein Kiel chancenlos sind.


Julius Hirsch 1912 auf dem Titelbild; siehe dazu S. 4 (Impressum).


KFV gegen Phönix, das war in der Saison 1910/11 ein badischer „Clasico“: Deutscher Meister 1910 gegen Deutscher Meister 1909. Hier läuft Mittelstürmer Fuchs beim 2:1 für den KFV an Schlussmann Göltz vorbei ins Tor – und nimmt den Ball natürlich mit.

Beklagt wird weiter „die Unzulänglichkeit des Systems und eine Hetze, die die Grenzen des gesundheitlich Zulässigen für die Spieler überschreitet.“ So müssen KFV-Akteure Sonntag für Sonntag spielen: in Punktspielen, bei Einsätzen im Kronprinzenpokal, in Länderspielen. Die „Illustrierte Sportzeitung“ (Nr. 36, 1910) verlangt deshalb eine Reform: „Mehr freie Sonntage für die Spieler (die außer Fußballspielen auch mal wieder etwas anderes treiben möchten).“

Der KFV nimmt die erste Hürde mit seinem jungen Linksaußen Hirsch mit 1:0 beim Duisburger SV in München-Gladbach, und der Phönix kommt mit 2:1 beim VfB Leipzig weiter.

Und nun kommt es im Halbfinale der „Deutschen“ am 1. Mai, der erst 1933 ein gesetzlicher Feiertag wird, zum vierten Pflichtspiel-Aufeinandertreffen der beiden Karlsruher Vereine in einer Saison. Ausgetragen wird es auf dem KFV-Platz, der ein größeres Fassungsvermögen als die Phönix-Anlage besitzt und an diesem Sonntag 6.000 bis 8.000 Besucher beherbergt – die größte Zuschauerzahl, die bis damals bei einem Spiel zwischen deutschen Vereinsmannschaften gesehen wurde. Dieses Fußballspiel war das Stadtgespräch, und an dem gerade einmal 18 Jahre alt gewordenen kaufmännischen Lehrling Julius Hirsch dürfte es bestimmt nicht vorbeigegangen sein. Er ist der Jüngste in der Mannschaft, auf den überlieferten Fotos steht er meist etwas scheu am Rand, oder seine Mannschaftskameraden haben ihn als „Junior“ in die Mitte gerückt, aber diese Perspektive wird sich noch ändern.

Der Phönix kann aufgrund einer Verletzung ab der 20. Minute nur noch mit zehn Mann spielen. Fuchs und Breunig (Strafstoß) legen für den KFV ein 2:0 vor, der Phönix-Spielführer Beier verkürzt, es bleibt beim 2:1. Dem Spiel wird „gute englische Amateurklasse“ („Sportzeitung“) bescheinigt.

Endlich Deutscher Meister

Das Endspiel im Nachgang zum DFB-Bundestag findet an einem sehr heißen Pfingstmontag am 15. Mai 1910 in Cöln (heute Köln) statt. Den Spielort gibt es noch, es war der Sportplatz des KFC 99 in Köln-Weidenpesch. Wir haben uns dort auch umgesehen, aber die Holztribüne von 1909 existiert nicht mehr, und am betonierten Nachfolgebau von 1920 entdeckten wir (natürlich) keine Graffiti an der Rückwand, die an das legendäre Innenstürmer-Trio Förderer – Fuchs – Hirsch vom KFV erinnern.


Hier stehen die Spieler des Karlsruher FV noch allein vor einem Tor in Köln-Weidenpesch, nachdem sie Deutscher Fußballmeister 1910 geworden sind. Eine andere Aufnahme zeigt sie dicht umringt von Anhängern. Hinten v.l.: Schwarze, Hüber, Dell, Hollstein; vorne v.l.: Fuchs, Bosch, Breunig, Tscherter, Ruzek, Förderer, Hirsch.

Der Endspiel-Gegner „des altbekannten und bewährten KFV“ (dieses und alle folgenden Zitate: „Neue Sportwoche“ aus Berlin) heißt am 15. Mai 1910 Fußballklub Holstein Kiel, „die junge, aufstrebende Mannschaft und der erste Verein des norddeutschen Verbandes, der am Endspiel teilnahm“.

Die erwähnte Zeitschrift nutzt den Endspiel-Montag zu einer Standortbestimmung des deutschen Fußballs und zur Kritik an der Konkurrenz: „Wenn man einen Vergleich ziehen will mit dem Bundestage des deutschen Fußballbundes, der vor fünf Jahren in Cöln seinen Abschluss fand, so darf der deutsche Fußballsport mit dem berechtigsten Stolze auf die machtvollste Entwicklung zurückblicken, die je eine sportliche Bewegung in einer solch verhältnismäßig kurzen Zeit genommen hat. Wenn man trotzdem – wie es in einem hiesigen Sportblatte heißt – noch mehr Taten, Taten, Taten sehen will, so ist dies ein Undank, den man denjenigen Männern entgegenbringt, die sich zur Erreichung einer solchen Macht mit dem größten Idealismus und der intensivsten Arbeitsfreudigkeit hingegeben haben.“


Das offizielle Bild der Meisterelf des KFV. Stehend v.l.: Ruzek, Förderer, Bosch, Dell, Hüber, Breunig, Trainer Townley; vorne v.l.: Fuchs, Hollstein, Tscherter, Hirsch, Schwarze.

Dem Finale um die Deutsche Meisterschaft wird „ein merkwürdiger Verlauf “ zugeschrieben. Der Begriff event ist noch unbekannt, doch werden die ob eines Karlsruher 1:0 nach Verlängerung offensichtlich enttäuschten Zuschauer kritisiert: „Wenn die Menge bei Wettspielen sich weiter so herausfordernd benimmt, kann man von einem Niedergang des Fußballsports sprechen.“

Nordmeister Holstein verlegt sich vor allem auf die Defensive. „Die Kieler waren fast immer damit in Anspruch genommen, das Zusammenspiel des Gegners möglichst zu zerstören und dessen Angriffe zu erwehren. Wenn die erste Hälfte torlos verstrich, so ist dies nur auf das Conto des geradezu hervorragenden Kieler Torwächters zu setzen und auf der anderen Seite auch auf das Schußunvermögen der Karlsruher Stürmer. Das Cölner Publikum schien sich in zwei Hälften geteilt zu haben: hie Holstein – hie Karlsruhe; aber trotzdem muss man die Objektivität des Cölner Sportpublikums loben.“

Max Breunig vom KFV vergibt einen Strafstoß, es geht in die Verlängerung von zweimal 15 Minuten. „25 Minuten vergehen wiederum, da – Elfmeter! Die Entscheidung war leider äußerst gerecht, der Elfmeter von Breunig für den braven jugendlichen Kieler Torwächter nicht zu halten. Der Karlsruher Fußballverein hatte endlich nach langen, langen Jahren den wirklich verdienten Titel Deutscher Meister errungen.“

Mit dem 1:0 n.V. ist der KFV erstmals (und letztmals) Deutscher Meister. Außenseiter Kiel ist sehr froh über ein 115 Minuten lang gehaltenes 0:0, aber die Revanche der „Störche“ wird bereits zwei Jahre später folgen.

Goldener Ring und Lorbeerkranz

Den Torhüter der Meisterelf, Adolf Dell – Älteren in Karlsruhe als „Delle-Bambel“ ein Begriff –, wird 1965/66 ein Millionenpublikum kennenlernen, wirkt er doch als „Großvater Buchner“ in der populären Fernsehserie „Der Forellenhof “ mit. Dell (1890-1977) hat in Düsseldorf als Staatsschauspieler, Schauspiellehrer und Kunstmaler gelebt – noch so eine erstaunliche Fußballer-Karriere auf einem ganz anderen Feld.

Die Mannschaft trifft am Pfingstmontagabend, 19 Uhr 20, in Karlsruhe ein, wo sie „stoßweise Glückwunschtelegramme“ („Karlsruher Tagblatt“) erwarten. Mit Droschken werden die Meisterspieler abgeholt und zur Feier gebracht.


„In unserem Schmuckkästchen nachgeschaut…“: der Meisterring von Julius Hirsch mit seinen Initialen ist noch da!

Am 25. Juni 1910 wird im Karlsruher Festsaal des „Friedrichshof “ der Brauerei Sinner, Karl-Friedrich-Straße 28, der Erfolg nachgefeiert. Der Vorsitzende des Verbandes Süddeutscher Fußball-Vereine und der 1. FC Pforzheim bringen Pokale mit, Stadtrat Leopold Kölsch überreicht den Akteuren jeweils einen Lorbeerkranz, vom Verein erhält jeder einen goldenen Ring mit Vereinswappen. Ob heute noch einer dieser Ringe erhalten ist, war unbekannt – bis der Enkel von Julius Hirsch, Andreas Hirsch, die vorigen Zeilen las und mitteilte: „Ich habe sogleich in unserem Schmuckkästchen nachgeschaut. Ja, wir haben ihn noch! Meine Mutter erzählte mir, dass die Farben Rot und Schwarz in den Vertiefungen eingelegt waren, bis auf leicht schwarze Spuren sind diese aber abgearbeitet. Mein Vater Heinold hat diesen Ring zeit seines Lebens oft getragen.“ Die Initialen auf dem goldenen Ring lauten JH: Der Verein hat also für jeden Meisterspieler eine gesonderte Version anfertigen lassen.

Aus Ägypten meldet sich zum Titelgewinn Dr. Ivo Schricker, ein anderer Karlsruher Fußball-Pionier: „Besonderes Vergnügen bereitet es mir, dass mein alter K.F.V. sich endlich einmal die lange verdiente Meisterschaft geholt hat.“ Der Jurist Schricker weilte aus berufl ichen Gründen vom 12. Februar 1906 bis 1914 für die Berliner Orientbank in Kairo. Sportlich betätigte er sich dort auf der Nilinsel Ghezireh mit Mitgliedern der britischen Besatzungsarmee im Association-Football, Rugby und Cricket.

„Bill“ Townley genießt nach dem Titelgewinn seinen Ruf und erlaubt der Karlsruher Sportschuhfabrik Albert Heil, Erbprinzenstraße 2, „Heil’s Townley Fussballstiefel“ herzustellen.

Noch vor dem Endspiel hatte es eine aus heutiger Sicht sensationelle Zeitschrift enmeldung gegeben: Der KFV sei in Verhandlungen gewesen, um im Sommer 1910 in den USA zu gastieren: „Die Amerikareise, die auf eine Einladung von ‚drüben’ in Frage kam, kann dieses Jahr nicht ausgeführt werden, weil es dem deutschen Meister jetzt an der nötigen Zeit fehlt.“ („Ill. Sportzeitung“, 23. Juni 1910) Was hinter der Einladung stand und weshalb die Reise nicht zustande kam, war nicht zu klären. Der erste europäische Verein, der in die Vereinigten Staaten von Amerika tourte, waren 1905 The Pilgrims aus England. Eine Kombination der Klubs Hamburger SV/Werder Bremen sollte in den 1920er Jahren reisen, es blieb aber bei einer Ersatztour auf einer Ozeandampfer-Teilstrecke im Januar 1927 nach Frankreich. Der HSV gestaltete dann 1950 im Alleingang die deutsche Fußballpremiere in USA, u. a. folgte aus Deutschland auch der KFV mit einer Jugendmannschaft im Jahr 1970 in Milwaukee, Philadelphia und Fort Wayne.


13 Meisterspieler in Zivil. Hinten v.l.: Hüber, Burger, Tscherter, Ruzek, Breunig, Hollstein, Bosch, Gros; Vorne v.l.: Förderer, Schwarze, Hirsch, Fuchs, Kächele.

Der Fußballweise Bensemann blickt in der „Illustrierten Sportzeitung“ anlässlich des süddeutschen Verbandstages am 14./15. August 1910 bereits voraus: „Es ist anzunehmen, dass der neue Deutsche Meister Karlsruher FV, der über eine gute Mannschaft und einen trefflichen Trainer verfügt, auch im kommenden Jahr den Siegespokal des süddeutschen Verbandes sichern wird.“ So kommt es auch, aber in der DM 1911 bleibt der alte und neue Südmeister KFV im Halbfinale gegen den VfB Leipzig auf der Strecke, auf vier Positionen hat er neues Personal aufgeboten. Dennoch genießt der Klub „in ganz Deutschland das größte Interesse“ („Rasensport“, April 1911): Als er 3:1 bei Bayern München gewinnt, finden sich 10.000 Zuschauer ein!

Julius Hirsch. Nationalspieler. Ermordet.

Подняться наверх