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Die Steinreihen von Kharrenac
ОглавлениеZunächst ließ Gwenaël das Schiff genau nach Norden steuern, wechselte jedoch bald auf Kurs Südost. „Wir haben die große Halbinsel der Priester endlich umrundet“, erklärte er schließlich. „Und nun können wir die vorherrschenden westlichen Winde nutzen, um vorwärts zu kommen. Genau diesen Rückenwind brauchen wir nämlich, da wir heute die bislang längste Tagesstrecke zurücklegen müssen. Wollen wir hoffen, dass uns die Winde gewogen bleiben.“
Dem war so, denn lange vor Mittag hatten sie bereits jenen Hafen erreicht, den Gwenaël spätestens angelaufen haben wollte, wenn die Sonne im Zenith stand. Sie waren also sehr gut vorangekommen, wie Gwenaëls entspanntes Gesicht verriet. „Es ist zwar nur ein ödes Fischernest“, klärte er Khor auf dessen Nachfrage hin auf, „aber sie machen dort den besten Trockenfisch der Welt. Außerdem kann mir mein Vetter Aethaël sicherlich sagen, wie gerade die Stimmung im Lande ist. Ich verspüre nämlich keinerlei Lust, in irgendwelche kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt zu werden, nur weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort bin. Es ist eine unruhige Gegend hier. Von den einen als heiliger Boden verehrt und von anderen als fruchtbares Ackerland begehrt. Du wirst dir denken können, dass dies einiges an Missstimmung verursachen kann.“
Aethaël war ein umgänglicher, herzlicher Mann, der Gwenaël wie aus dem Gesicht geschnitten schien, nur, dass er etwa zehn Jahre älter und deutlich korpulenter war. Er war richtiggehend enttäuscht, als Gwenaël ihm sagte, dass sie nicht bleiben konnten, sondern sogleich wieder ablegen würden. Große weiße Platten getrockneten Fischs wurden an Bord gebracht und Aethaël nahm dafür eine Bahn der von Coira gewebten Stoffe, eine klitzekleine Bernsteinperle sowie eine Tonschale, die Gwenaël ihm jedoch wortlos aus der Hand nahm und durch ein prächtig bemaltes Exemplar ersetzte. Aethaël freute sich wie ein Kind und strahlte über das ganze Gesicht. Auf Gwenaëls Nachfrage nach dem Stand der Dinge rollte er nur mit den Augen.
„Es herrscht ein unglaubliches Durcheinander im Land“, berichtete er. „Neulich hat man doch tatsächlich aus den heiligen Steinreihen einige Stücke entwendet. Überall wurde fieberhaft danach gesucht und man hat die übelsten Vermutungen angestellt, wer dahinter stecken könnte. Dabei war es nur ein Bauer aus der Umgebung, der sich erst vor kurzem hier niedergelassen hatte. Er hat sie mit seinem Ochsengespann fortgeschleppt, um daraus das Fundament für sein neues Haus zu errichten. Zur Strafe haben die Priester das ganze Dorf niedergebrannt. Und nun melden sich auch noch die Altgläubigen zu Wort und behaupten, dass die Priester die alten Steinreihen ebenfalls missbrauchen. Sie hätten früher völlig anderen Zwecken gedient, als den endlosen Prozessionen, für die sich die Priester gut entlohnen lassen. Was meint ihr denn“, fragte Aethaël und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn, „wie viele Menschen inzwischen von nah und fern hierher kommen, nur weil sie sich die Erfüllung irgendeines Wunsches erhoffen. Viele Kranke sind dabei, die sich mühsam durch die Steinreihen schleppen, aber auch Frauen, die ein Kind wollen oder aber auch Händler, die sich eine ertragreiche Reise wünschen. Neulich kam sogar ein Trupp Krieger von irgendwo tief im Festland, um hier für den günstigen Ausgang eines Überfalls zu bitten, den sie auf die Nachbarsippe planten. Es sind seltsame Zeiten, in denen wir leben. Man mordet und raubt, man lügt und betrügt. Jeder fühlt sich zum Priester berufen, stülpt sich eine Kutte über und nimmt die Hilfesuchenden aus. Sie fühlen sich als Herren des Landes, diese Popanze und haben immer das Recht auf ihrer Seite. Sie zünden, wie gesagt, sogar ganze Dörfer an, wenn sie meinen, dort Sünde entdeckt zu haben. Schaut also besser zu, dass ihr schnell weiterkommt.“ Aethaël fuchtelte in der Luft herum. „In ein, zwei Tagesreisen seid ihr weit genug weg.“
„Willst du mit deiner Familie nicht mitkommen?“, fragte Gwenaël. „Heute Abend sind wir in Kharrenac. Übermorgen sind wir schon bei den Salzfeldern. Die Vettern dort, werden sich freuen, euch zu sehen.“
„Um das Licht des Mondes Willen!“ Aethaël wurde kreidebleich. „Wie könnt ihr nur nach Kharrenac fahren? Keine vier Ochsen bringen mich dorthin.“
„Was ist mit Kharrenac?“ Gwenaël schaute ein wenig besorgt drein.
„Das ist der Mittelpunkt allen Übels.“ Aethaël ließ keinen Zweifel daran, dass ihm vollkommen ernst damit war. „Gastfreundschaft gibt es dort keine mehr. Für alles muss man zahlen. Sogar für einen Schluck Wasser verlangen sie etwas von Dir.“
„Aber doch nicht unsere Verwandten!“, protestierte Gwenaël bestürzt.
„Von wegen! Die haben sich inzwischen sehr gut angepasst. Die sind wie alle anderen auch.“
„Nun, ich war schon lange nicht mehr dort“, überlegte Gwenaël.
„Erst im letzten Jahr hat man sie erwischt“, wusste Aethaël zu berichten, „wie sie ihre Fische mit falschen Gewichten abgewogen haben. Ach was! Ganz Kharrenac stinkt, wie der Fluss zu seinen Füßen. Geschäftemacher überall, religiöse Eiferer und Betrüger und Unmengen von Menschen, die dort ihr Heil suchen.“ Aethaël lachte spöttisch. „Ausgerechnet dort. Man erzählt ihnen irgendeinen Schmus und dafür geben sie dir ein Lamm, ein Ferkel oder eine Bronzefibel. Vorausgesetzt natürlich, man versichert glaubwürdig genug, dass nach dem Durchschreiten der Steinreihen und etlichen Opfern an die Ahnen jeder ihrer Wünsche in Erfüllung gehen wird. Die Welt gerät aus den Fugen, Gwenaël, und in Kharrenac fängt es an. Na, ihr werdet’s ja sehen …“ Aethaël winkte. „Und denkt an meine Worte: Kharrenac stinkt!“ Noch lang klang Aethaëls hämisches Lachen nach.
So zuversichtlich und gut gelaunt man den Tag begonnen hatte, so schien sich seit der Begegnung mit Aethaël eine gedämpfte Stimmung wie ein Schatten über das Schiff und seine Besatzung zu legen. Ob es wohl die richtige Entscheidung war, Kharrenac unter diesen Umständen anzulaufen, überlegte Khor. Nun, Gwenaël hatte schon angekündigt, dass man besser auf dem Schiff im Hafen übernachten würde, als bei irgendwelchen habgierigen Verwandten, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte und die er sowieso kaum kannte. Gwenaël hatte das Schiff nach dem Ablegen sogleich aufs offene Meer steuern lassen, da es in der Nähe der Küste vor kleinen Inseln und Klippen nur so wimmelte. Wer sich in diesen Gewässern nicht wirklich gut auskannte, konnte hier sehr schnell sein Schiff verlieren.
Das Land war kaum mehr als rötlicher Strich am östlichen Horizont zu erkennen, als Gwenaël den Kurs ändern ließ: Genau nach Osten ging es nun, während das Festland im Norden in immer tieferen Buchten zurückwich. In der Ferne waren einige Inselchen zu erkennen. Eine kleine Gruppe in Richtung des Festlandes und eine größere in südlicher Richtung. Gwenaël ließ genau zwischen beiden Archipelen hindurchsteuern.
„Die Einheimischen sagen, dass die größere Inselgruppe, der Ursprungsort der Plejaden sei“, berichtete Sarti. „Ist da was dran, an der Geschichte?“
„Ammenmärchen“, brummte Gwenaël. „Es sind unbewohnte, kahle Eilande, auf denen man seit jeher die Verbannten aussetzt. Und da dort kein Baum wächst, kommen sie von den Inseln auch nicht mehr herunter. Man macht besser einen Bogen um sie.“
Kaum war das Schiff an ihnen vorübergezogen, sah Khor das Festland langsam auf sich zukommen. Gwenaël ließ daraufhin einen südöstlichen Kurs einschlagen, so dass sie nun wieder entlang der Küste fuhren. Backbord das Festland, steuerbord das offene Meer. Dort tauchte eine größere Insel auf, die früher einmal einer der wichtigsten Stützpunkte der Seegeborenen war, wie Gwenaël berichtete. Ursprünglich hatte er ja auf dieser Insel Halt machen wollen, da dort freundliche und vor allem friedliche Menschen lebten. Aber weil alle den Trubel von Kharrenac kennen lernen wollten, hatte er sich entschlossen, ohne anzulanden daran vorbeizusegeln.
Eine schmale Landzunge schob sich weit ins Meer, an deren Ende eine mindestens ebenso lange Insel lag, die nur durch eine schmale Durchfahrt von der Halbinsel getrennt war. Genau darauf steuerte Gwenaël zu, deutete auf das Eiland und nannte seinen Namen: Khiberen.
„Scheue die Inseln, die vorgelagert liegen,
wage es nicht, hindurchzustieben.
Fahr herum von Norden her,
dann Kurs Ost und überquer
die Schwelle zu der stillen Bucht,
wo man das Heil der Seele sucht.“
Und schon raste das Schiff in voller Fahrt durch die schmale Rinne, die Khiberen vom Festland trennte, um in eine weite, ruhige Bucht zu gelangen. Als ob man plötzlich ein völlig anderes Meer befuhr, dachte Khor und vermutete, dass es an der weit ins Wasser ragenden Landzunge sowie an der sich anschließenden Insel lag, welche die Bucht vor dem ständigen Ansturm des Ozeans schützten.
Die Sonne stand schon rot im Westen, als das Schiff in eine tief ins Land geschnittene Bucht hinein fuhr, die sich als Mündung des Flusses Kharrasch entpuppte. Sie passierten eine Enge, die von zwei, weit in den Fluss hineinragenden Halbinseln gebildet wurde, erreichten einen dadurch angestauten See und folgten schließlich dem Flussbett, das sie tiefer ins Land führte. Gwenaël kicherte verstohlen, als er die Gesichter seiner Freunde beobachtete. Zunächst merkten sie es kaum, doch je weiter sie dem Lauf des Flusses folgten, desto schlimmer wurde der Geruch. Es stank erbärmlich, so dass Sarti schließlich verunsichert und durchaus ernsthaft fragte: „Kann es sein, dass wir durch Scheiße fahren?“
Gwenaël lachte brüllend. „Und ob! Es ist eine üble Mischung aus Fischabfällen, Abwässern der Gerbereien und menschlichen Ausscheidungen. Ich habe euch vor dem stinkenden Fluss gewarnt. Die Menschen leben hier hauptsächlich von der Fischerei und der Lederherstellung. Ich kann euch aber nicht sagen, was von beiden mehr zu dem widerlichen Gestank beiträgt.“ Khor wurde es fast übel.
Das Flussbett wurde wieder schmaler und wand sich wie ein Aal ins Land. Da endlich sah Khor die ummauerte Stadt. Sie lag auf einem flachen Hügel, der dem Fluss folgend, die Form des abnehmenden Mondes hatte. Unterhalb der Mauer lag der Hafen, von dem aus man auf steilen Stufen in die Stadt gelangte.
„Die haben noch immer keinen anständigen Hafen gebaut in all den Jahren“, schimpfte Gwenaël. „Alle Waren müssen von Trägern hinauf oder hinunter geschleppt werden. Ist zwar nicht übermäßig hoch, macht das Ein- und Ausladen aber recht zeitraubend. Aber natürlich können sie dabei sogleich nachprüfen, was alles in die Stadt hinein oder hinaus gelangt.“ Gwenaël zwinkerte. „Es ist nämlich ein sehr geschäftstüchtiges Völkchen, das hier lebt.“
Khor hatte den Gestank vollkommen vergessen, so gefangen war er von dem Anblick, der sich ihm bot. Eigentlich hatte er, Gwenaëls Erzählungen folgend, einen schroffen Berg erwartet, auf dem eine weiße Burg thronte. Doch es war nur ein früher einstmals weiß verputzter Palisadenzaun, der den niedrigen, einwärts gebogenen Hügel umgab. Dennoch ragten seine Zinnen beeindruckend hoch in den Himmel, wie Khor fand, was allerdings auch nur daran gelegen haben mag, so überlegte er, dass hier in der Gegend schon ein Ameisenhaufen als Berg durchgehen mochte. Offensichtlich hatten die Erbauer der Stadt jedoch Grund genug gehabt, sich derart zu verschanzen. Jedes Schiff, das hier festmachte, konnte vom Palisadenzaun aus jederzeit eingesehen werden. Schlimmer noch! Khor hatte fast das Gefühl, dass ihm jeden Augenblick etwas von oben entgegenkommen konnte.
„Wer seid ihr, die ihr so spät noch kommt“, rief eine schneidende Stimme von Oben herab. „Mit auf das Schiff gemalten Augen und seltsamen Zeichen. Seid ihr uns bekannt? Was ist euer Begehr?“
„Wir sind reisende Händler auf unserem Weg in den Süden“, gab Gwenaël Auskunft. „Vielleicht können wir ein paar Geschäfte machen.“
„Vielleicht … Aber erst morgen wieder.“ Ein großer, kräftiger Mann mit einem Speer in der Hand sowie einem Schwert an der Seite stieg die Treppen hinunter. Er hatte einen seltsamen Helm auf dem Kopf, der - ebenso wie sein Brustpanzer - aus dickem Leder gefertigt war. In seinen langen, zu Zöpfen geflochtenen Haaren, die unter dem Helm hervorquollen, glitzerten zahllose Goldringe. „Heute werden keine Geschäfte mehr gemacht. Heute ist der Tag der fremden Bittsteller. Da haben alle etwas anderes zu tun, als mit euch um euren Krempel zu schachern. Morgen früh wieder.“
„Wir wollen auch übernachten und eines eurer Wirtshäuser besuchen“, erwiderte Gwenaël.
„Wie gesagt: Heute ist der Tag der fremden Bittsteller. Unsere Herbergen sind allesamt voll.“ Mit dem Speer deutete er in die Richtung aus der sie gerade gekommen waren. „Dort unten, ein Stück flussabwärts, in der Bucht könnt ihr festmachen und übernachten. Meinetwegen auch in dem aufgestauten See. Aber von hier habt ihr augenblicklich zu verschwinden.“ Er fuchtelte mit dem Speer herum, als wolle er eine Horde frecher Straßenköter verscheuchen. Der Wolfshund fletschte die Zähne und knurrte böse, so dass der Gewappnete zusammenzuckte. „Los weg hier!“, drohte er. „Sonst lass ich Glut auf euch herabwerfen. Solch ein heimatloses Pack von Wassernomaden wollen wir hier nicht. Kommt morgen nach Sonnenaufgang wieder und preist eure Waren an. Jetzt aber verschwindet.“
„Aber gerne doch“, gab Gwenaël in einem überheblichen Tonfall zurück. „Hier stinkt es sowieso zu arg, als dass man bei euch die Nacht verbringen möchte.“ Mit einer eleganten Kurve drehte er bei und Arkan gelang es, eine leichte Brise einzufangen. Schon waren sie wieder in dem angestauten See, durchquerten ihn und machten an einem der Felsen fest, die den See von der Bucht trennten.
„Na, auch verscheucht worden?“, rief eine Stimme von einem der ebenfalls dort vertäuten Schiffe herüber. „Man ist vornehm geworden in Kharrenac und duldet nur noch Pilger unter sich. Das ist auch lohnender. Muss man ihnen doch nichts weiter zum Tausch anbieten als schöne Worte. Und je schöner sie sind, desto mehr musst du dafür geben!“ Ein dürres Männchen bog sich auf dem anderen Schiff vor Lachen. „Heute ist mal wieder großes Wandern. Zu Hunderten laufen heute die Pilger die Steinreihen ab, bis hinüber zum Kap der Sinkenden Sonne. Von dort aus schauen sie dann zu, wie die Sonne hinter der Halbinsel untergeht, die zur Insel Khiberen führt. Je nachdem, hinter welchem Strauch, Hügel oder Baum die Sonne verschwindet und welche Farbe sie dabei hat, werden die Fragen beantwortet, welche die Pilger gestellt haben. Die Priester deuten ihnen die Antworten schon aus. Ein gutes Geschäft!“ Khor meinte deutlich Neid mitschwingen zu hören, als der andere dies sagte.
„Ist es denn weit bis dorthin?“, wollte Broc wissen.
„Ach was! Einfach nur wieder raus aus der Bucht, hart steuerbord die Küste entlang und sofort in die nächste Bucht vor der Halbinsel von Khiberen wieder rein. Aber seht euch vor. Es gibt dort Untiefen und Sandbänke. Gleich vor dem Kap der Untergehenden Sonne, das ist dort, wo Hunderte verzückter Menschen herumstehen und nach Westen starren, gibt es eine kleine Bucht, die ein guter Ankerplatz ist.“
Gwenaël blinzelte nach der Sonne, die schon tief im Westen stand. „Na, dann sollten wir uns wohl auf den Weg machen, damit diejenigen unter uns, die der Forschergeist drängt, Zeugen des Schauspiels werden können.“
Es dauerte tatsächlich nicht lang, bis sie die kurze Strecke zurückgelegt hatten und abermals landeinwärts fuhren. Und wie der Bootsführer angekündigt hatte, sahen sie schon die Massen von Menschen, die in die untergehende Sonne starrten. Bis weit ins Land hinein zogen sich die Scharen der Pilger, die der durch die Steinreihen vorgegebenen heiligen Strecke folgten. Sie versinnbildlichte den Lauf des menschlichen Lebens und begann in Kharrenac selbst, jener palisadenbewehrten Stadt, wo man sie soeben abgewiesen hatte. Von deren Haupttor bis zum Anfang der ersten Steinreihen waren es genau 2680 Schritte, wie Gwenaël erklärte; zehn Stritte für jeden Tag der Schwangerschaft. Gleich hinter einem flachen Teich, den man durchwaten musste und der das Platzen der Fruchtblase versinnbildlichte, begannen die Steinreihen. Von hier aus dehnten sie sich fächerförmig nach Westen hin verschwenkt aus. An ihrem Ende folgte man abermals der ursprünglichen Richtung und gelangte an einen weiteren Teich, den man an seiner schmalsten Stelle durchqueren musste. Er stand für die erste Blutung der Mädchen, beziehungsweise den ersten Erguss der Jungen und somit für das Erwachsenwerden. Endlos zogen sich nun die aufgestellten Steine dahin, wurden ein weiteres Mal nach Westen verschwenkt, was offenbar den Eintritt der Elternschaft darstellen sollte und folgten schließlich bis zum Kap der Untergehenden Sonne abermals dem anfänglichen Kurs. Für andere, so erklärte Gwenaël, waren die in Reihen aufgerichteten Steine nichts weiter als Symbole für die Ahnen, die den Menschen in langen Generationen vorausgegangen waren. Und für wieder andere galten sie gar als Wohnsitze der Vorfahren. „Jeder deutet die Steinreihen eben in seinem Sinne“, meinte Gwenaël und zuckte mit den Schultern, „weil niemand mehr zuverlässig weiß, warum sie einst errichtet worden sind. Zweifellos waren es Landgeborene, die sich hier niedergelassen hatten, um Ackerbau und Viehwirtschaft zu betreiben. Denn offenbar zeigten die Steinreihen dem Eingeweihten die wichtigsten Tage des Bauernjahres an. Fast wie unser Großer Steinkreis. Doch hier geht es heutzutage nur noch um Geschäftemacherei. Schaut euch nur die Mengen von Menschen an, die hierher pilgern, um wenigstens einmal in ihrem Dasein jenen Lauf des Lebens entlang der Steinreihen zu bestreiten. Jeder von ihnen entlohnt die Priester für die Begleitung sowie Ausdeutung der Zeichen, die ihnen dabei offenbart werden.“
„Aber wenn sie dort nicht fänden, was sie suchten, würde doch kein Mensch mehr diesen langen und beschwerlichen Weg auf sich nehmen“, gab Khor zu überlegen.
„Hmmm“, brummte Gwenaël, „da hast du wohl recht. Es gibt immer wieder welche, die behaupten, Heilung, Erfüllung ihrer Wünsche oder auch Antworten auf ihre Fragen erhalten zu haben. Manchmal möchte man aber fast meinen, dass sie von den Priestern entsprechend angewiesen und womöglich auch entlohnt werden.“
„So, wie wir es schon auf Sarmia erlebt haben“, knurrte Broc missbilligend.
„Nun, beweisen kann ich nichts“, lenkte Gwenaël ein, „aber immer wenn Dinge zur Handelware werden, sollte man misstrauisch sein und genau hinsehen.“
„Na, dann lasst uns von Bord gehen“, meinte Sarti voller Tatendrang, „und ein wenig genauer hinsehen.“
Nur Gwenaël und seine vier Freunde gingen von Bord. Die Mannschaft war nicht dazu zu bewegen, das Schiff zu verlassen. „Nachher wird man noch verhext“, meinte Arkan, während alle anderen zustimmend nickten. Gwenaël hatte seinem Steuermann die Anweisung gegeben, bei Sonnenaufgang das Schiff zurück nach Kharrenac zu steuern, falls Gwenaël nicht bis dahin zurück sei. „Wir sind die Strecke heute schon zweimal gefahren“, sagte er und klopfte Arkan auf die Schulter. „Das wirst du sicherlich gut schaffen.“ Elster und Rotfuchs war nicht wohl bei dem Gedanken, ohne ihren Schiffsführer unterwegs zu sein und hatten ihre finstersten Mienen aufgesetzt, als Gwenaël mit seinen vier Freunden das Schiff verließ.
Weit kamen sie nicht, denn man hatte sie beobachtet und für Fremde gehalten, die sich nur den langen Prozessionsweg ersparen wollten.
„Was wollt ihr hier?“, rief ein Priester herüber und drohte mit seinem Stock, so dass kein Zweifel daran bestand, dass er ihn auch zu anderem als zum Gehen zu gebrauchen wusste. „Ihr wollt wohl eine Abkürzung nehmen?“
„Abkürzungen sind doch wohl jedem willkommen“, rief Broc zurück. „Aber wir wollen nichts weiter, als etwas mehr von euren Sitten und Gebräuchen erfahren. Wir kommen von weit her.“ Broc deutete nach Nordosten. „Aus dem Land der dichten Wälder, wo der Honig von den Bäumen tropft. Wir sind aufgebrochen, um das Wissen der Welt zu suchen.“
„Na, da habt ihr euch aber viel vorgenommen.“ Einerseits war der Priester nicht recht davon überzeugt, dass Broc die Wahrheit sagte, andererseits wollte er jedoch keinesfalls die Gelegenheit versäumen, dass die Gebräuche seiner Heimat in den Wissensschatz der Fremden aufgenommen würden. „Also dann kommt und erzählt ein wenig mehr von eurem Unterfangen.“
Broc verstand sich mit dem Priester auf Anhieb, der sich mit dem Namen Belas vorstellte. Er war zutiefst beeindruckt von dem munter plappernden Raben auf Brocs Schulter und dem Wolf an Khors Seite. Augenblicklich fragte er nach, ob beide etwa verhexte Menschen seien.
„Nein, so etwas sind Ammenmärchen“, erklärte Broc. „Oder vermögt ihr es etwa, Menschen in Tiere zu verwandeln?“
„Nein“, gab Belas zurück. „Man sagt aber, dass es durchaus Zauberer gibt, die derartiges vermögen. Wobei hier bei uns die Menschen jedoch zumeist in Schweine verwandelt werden.“ Misstrauisch musterte er den Raben und den Wolfshund.
„Hast du so etwas schon einmal mit eigenen Augen gesehen?“, fragte Broc aufgeregt und schon war er mit seinem neuen Bekannten in ein tiefgründiges Gespräch unter Priestern verwickelt, das Sarti mit hochrotem Kopf verfolgte.
Khor steuerte mit Gwenaël und Ottel auf die Menschenmenge zu, die gebannt in die untergehende Sonne guckte.
„Du hast gehört, dass sie dich hier zur Sau machen“, lachte Ottel. „Also immer schön unauffällig bleiben.“
Doch wie sollten sie unauffällig bleiben, wenn ein Wolf an ihrer Seite ging? Zudem warteten die in die Sonne Starrenden nur auf ein Zeichen, das ihnen bedeutete, wie es mit ihrem Leben, mit ihren Wünschen und Bitten weitergehen sollte. Man raunte also, als man den Wolf sah, der den Menschen hier offenbar als heilig galt. Ein solch starkes Zeichen hatte wohl keiner erwartet, so dass das Raunen sich fortsetzte und die Steinreihen zurücklief bis nach Kharrenac. Der Wolfshund tat, was er immer tat, wenn er nach langer Zeit endlich an Land gehen konnte. Den meisten Augenzeugen erschien diese Erleichterung allerdings dann doch zu gewöhnlich, als dass es sich tatsächlich um ein heiliges Tier handeln konnte, wie sie enttäuscht feststellten. Dennoch blieb man unsicher und hielt sich besser von ihm fern.
Khor und seine beiden Freunde stellten sich zu den Menschen und taten, was die anderen auch taten: Sie schauten in die versinkende, rote Sonne. Jeden Tag konnte man die Sonne mehr oder weniger Aufsehen erregend im Meer versinken sehen. Doch wie anders war es, wenn man es zusammen mit Hunderten von andächtigen Menschen tat. Jeder schickte dem Gestirn seine eigenen Wünsche hinterher. Paare hielten sich fest umschlungen und hofften auf eine glückliche Zukunft, Kranke baten in sich gekehrt um Gesundung, Bauern suchten nach Zeichen, die ihnen eine auskömmliche Ernte versprachen, während andere nur den heiligen Augenblick genossen, der sie offenbar in Einklang mit der unsichtbaren Welt brachte, in welche die Sonne sich anschickte zu verschwinden. Als die Sonne den Horizont berührte, fingen die Priester an zu singen. Schwere, düstere Gesänge, die in Khor augenblicklich ein Gefühl von Abschied und Verlassenheit hervorriefen. Denn was ist unsere Welt schon ohne die wärmende Lichtspenderin, überlegte er. Bislang ist sie zwar jeden Morgen wiedergekehrt. Doch was wäre, wenn sie eines Tages verschwunden bliebe? Khor merkte Ottels Arm auf seiner Schulter - und war dankbar ihn zu spüren.
Schon längst war die Sonne verschwunden und sandte nur noch ein paar verglimmende Strahlen übers Land, als die Menschen noch immer dastanden und ihr nachsahen. Nun war die Stunde der Priester angebrochen, die den auf Antworten für ihre Fragen Wartenden erklärten, was sie zu gewärtigen hätten. Die Priester waren keineswegs allesamt Halunken, wie Gwenaël behauptet hatte. Die meisten gaben sich redlich Mühe, auf die Gläubigen einzugehen. Allerdings gab es auch etliche, denen Khor ihre Durchtriebenheit an der Nasenspitze anzusehen glaubte. Langsam gingen die Menschen durch die hereinbrechende Dunkelheit wieder die Steinreihen entlang zurück nach Kharrenac und entzündeten schließlich Fackeln, die bereitgelegt worden waren. Es war ein beeindruckendes Schauspiel, Hunderte von Flammen langsam durch die Landschaft ziehen zu sehen, während aus zahllosen Kehlen schwermütige Lieder erklangen.
Bis zur Mitte der Nacht, so erzählte ihm ein mit seiner gesamten Familie neben Khor gehender Mann, musste man wieder in Kharrenac sein, sonst wäre das Tor verschlossen. Für die meisten durfte dies keine Schwierigkeit sein. Für die zahlreichen Kranken und Alten jedoch, die beschwerlich ihres Wegs humpelten, konnte dies allerdings nichts Gutes bedeuten.
Der Mann, der neben Khor lief, war neugierig darauf, mehr von seinem Gegenüber zu erfahren. Er hieß Myrdin und war als Schmied der reichste Mann der Stadt, wie er stolz erzählte. Gwenaël bekam lange Ohren, als er dies hörte. „Vielleicht kommen wir ja ins Geschäft“, sagte er. „Morgen mit Sonnenaufgang wird mein Schiff in Kharrenac anlanden.“
„Gerne“, strahlte Myrdin. „Meine Frau ist zudem die Tochter des größten Gerbers weit und breit. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass du im Umkreis von mindestens drei Tagen Seereise, kein qualitätvolleres Leder finden wirst. Ihr Vater ist besonders erfolgreich mit dem Einfärben von Häuten.“ Es war offensichtlich, wie überaus stolz Myrdin auf den Ruf war, den die Waren seiner Familie überall genossen und leitete insbesondere aus seiner Stellung als Schmied einen gewissen Führungsanspruch her. „Macht mir doch die Ehre und übernachtet in meinem Haus. Dann könnt ihr gleich heute Abend noch einen Blick auf meine Schmiedeerzeugnisse sowie die Lederwaren werfen.“ Begeistert riefen seine Kinder durcheinander und bettelten um die Zustimmung der Fremden. Freilich waren sie jedoch vor allem an dem eigentümlichen Hund an Khors Seite interessiert sowie an Ottels prächtigen Waffen.
Broc und Sarti würden bei Belas, dem Priester unterkommen, der sie geradezu flehentlich um ihre Gesellschaft gebeten hatte. Und da er der unmittelbare Nachbar von Myrdin war, lud ihn dessen Frau Rigani ein, sie gemeinsam mit seinen beiden Gästen zu einem leichten Nachtmahl zu besuchen, das sie hatte vorbereiten lassen. Munter miteinander plaudernd marschierten die Fremden im Schein der Fackeln mit dem Volk von Kharrenac dem Stadttor entgegen.
Khor musste immer wieder berichten, wie der Wolfshund zu ihm gekommen war. Die Tatsache, dass es der Welpe war, der sich seinerzeit Khor ausgesucht und angeschlossen hatte, beeindruckte alle sehr. Auch wenn keiner etwas sagte, so war ihnen doch anzumerken, dass sie vermuteten, dass irgendein Gott es gewesen sein müsse, der den Wolfshund dazu angewiesen hatte. Vielleicht war der Wolfshund ja selbst einer der Götter, von denen man wusste, dass sie sich in jede beliebige Kreatur verwandeln konnten. Die Leute liebten diese Vorstellung, die ihnen heilige Schauer über den Rücken jagte und behandelten den Wolfshund trotz aller Neugier mit dem größten Respekt. Lange vor Mitternacht hatten sie das Tor der Stadt erreicht, das von jenem Krieger bewacht wurde, der sie am Nachmittag aus dem Hafen fortgeschickt hatte.
„Euch kenn ich doch!“, rief er, als er Gwenaël und seine Freunde ankommen sah. „Hab ich euch nicht gesagt, dass alle Herbergen überfüllt sind? Es gibt keinen Platz für Wassernomaden in unserer Stadt. Geht zurück auf euer Schiff!“
„Was fällt dir ein!“, schimpfte Myrdin. „Diese Herren sind meine und Belas’ Gäste. Sie sind einer wie der andere ehrenwerte Männer und ich darf um etwas mehr Achtung bitten.“
„Ich handle nur nach meinen Anweisungen“, gab der Bewaffnete gekränkt zurück. „Aber wenn sie deine Gäste sind, dann … natürlich …“
„Ihr seid aber auch sehr auf eure Sicherheit bedacht“, staunte Ottel. „Ist es denn so gefährlich in dieser Gegend?“
„Nun“, versuchte Myrdin keinen allzu schlechten Eindruck entstehen zu lassen, „wo Licht ist, da findet sich immer auch Schatten. Es gibt in den Wäldern einige Spitzbuben, denen man nicht die Gelegenheit bieten sollte, sich bereichern zu können.“
„Am schlimmsten ist aber die Rote Gaëlle“, wusste Nara, eine von Myrdins Töchtern zu berichten, als sie beim Abendessen saßen. „Die Rote Gaëlle ist die allergemeinste Räuberin überhaupt. Sie schaut dir frech ins Gesicht und nimmt dir alles was du hast.“
„Eine Räuberin?“, fragte Khor ungläubig. „Sieh an.“
„Ja“, raunte das Mädchen zurück. „Niemand hat sie bislang fangen können, denn sie kennt den Wald wie kaum jemand sonst, er ist ihr Zuhause. Viele Krieger haben schon versucht, sie zu ergreifen, glaub es mir. Aber sie ist zu gescheit. Sie entkommt immer wieder. Stell dir nur vor, man hat sie schon mitten in der Stadt auf dem Markt gesehen. Den wirklich Armen nimmt sie aber nichts. Im Gegenteil: Schon so manchem Bettler hat sie etwas gegeben.“
Khor meinte, so etwas wie heimliche Bewunderung herauszuhören. „Das klingt ja ganz so, als ob du für sie schwärmen würdest“, fragte er Nara mit gesenkter Stimme.
Eifrig nickte das Mädchen und ihre Augen strahlten unmissverständlich. „Nicht, weil sie raubt und stiehlt“, sie schüttelte heftig den Kopf, „sondern weil sie sich von nichts und niemandem etwas sagen lässt. Sie will keinen Ehemann, der ihr sagt, was sie zu denken und zu tun hat. Sie braucht auch keinen, denn sie lebt ganz allein inmitten der Wälder. Die Tiere sind ihre Freunde und Gefährten, ganz so wie du und dein Wolf.“
„Aber sie kann doch nicht ganz allein im Wald leben“, entfuhr es Khor. „Alte weltmüde Männer tun das, aber doch kein junges Mädchen. Wie alt ist sie denn?“
„Das weiß keiner so genau“, das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Die meisten sagen, sie sei dreimal sieben Jahre alt. Ich denke aber, dass sie erst zweimal sieben Jahre alt ist, also nur ein wenig älter als ich.“
„Und warum lebt sie nicht in der Stadt? Wo ist ihre Familie? Hat man sie ausgestoßen?“
„Ihre Mutter war von hier, sagt man. Aber niemand hat sich zu ihr bekannt. Also musste sie ohne Mann und ohne einen Vater für ihr Kind von Zuhause fort. Sie ging in den Wald. Man erzählt sich, dass sie bei der Geburt gestorben sei.“
„Dann hätte ihr Kind ebenfalls nicht überleben können.“ Khor wurde bei solch unglaubwürdigen Geschichten immer ärgerlich, weil sie so offensichtlich wider den Verstand waren.
„Die wilden Tiere haben sie aufgezogen“, rief das Mädchen verzückt. „Bären haben sie gesäugt, die Wölfe genährt und die Vögel brachten ihr Beeren.“
„So, so“, lachte Khor. „Bei mir zuhause erzählt man sich fast genau die gleichen Geschichten von Kindern, die von Tieren großgezogen wurden.“
„Du wirst sehen, es stimmt“, verteidigte Nara ihre Erzählung. „Aber als Wassernomaden werdet ihr sie ja kaum zu Gesicht bekommen. Gingst du aber jetzt dort drüben in den Wald, so würdest du den Sonnenaufgang kaum mehr erleben.“
„Mach mir keine Angst, Nara“, foppte Khor.
„Doch!“ Nara sah ihn mit ernster Miene an. „Sie hat vor nichts und niemandem Angst. Noch nicht einmal vor dem Tod. Sie ist der freieste Mensch überhaupt, denn sie hat nichts, was sie verlieren könnte. Keine Familie, keinen Menschen, der für sie da ist und für den sie da sein muss.“
„Nun, sie kann ihre Freunde, die Tiere verlieren. Oder ihre Heimat, den Wald“, gab Khor zu bedenken.
„Sie ist ohne jedes Mitleid, sagt man. Sogar gegen sich selbst. Sie hat Mitleid nie kennen gelernt. Also hat sie auch keines, denn sie weiß gar nicht was das ist.“
„Das klingt aber nicht so, als ob man das bewundern sollte“, sagte Khor beunruhigt.
„Ach“, lachte Nara fröhlich, „sag das nicht! Wenn ich an meine Schwestern und vor allem an meine Brüder denke, wäre ich manches Mal auch sehr gerne ohne Mitleid …“
Derweil hatte sich Myrdin angeregt mit seinen anderen Gästen unterhalten. Er brannte offensichtlich darauf, zu erfahren, woher sie eigentlich kamen. Der von den Bäumen tropfende Honig, von dem Broc wie gewöhnlich zu berichten wusste, interessierte ihn jedoch weniger. Er schaute immerzu Gwenaël an und lauschte gespannt seinen Worten.
„So, so“, sagte er gedankenverloren, „dann bist du ein Seegeborener. Dann müsstest du ja sogar Verwandte in der Stadt haben.“
„Kann sein“, wich Gwenaël aus, denn seit ihm Aethaël von den falschen Gewichten erzählt hatte, verspürte er keinerlei Lust, mit offenbar übelbeleumundeten Menschen in Zusammenhang gebracht zu werden.
„Warst du denn schon einmal hier, bei uns?“
„Mag sein … Aber wenn, dann ist es schon sehr lange her.“
„So, so …“ Myrdin stand auf. „Aber jetzt zeige ich Dir erst einmal meine Schmiedewaren und unser Leder.“
Gwenaël begutachtete also bronzene Beile, Dolche und Schwerter, musste allerdings feststellen, dass sie zwar von recht guter Qualität, aber durchaus nicht außergewöhnlich waren. Solches würde er nahezu überall finden können. Das Leder jedoch war ganz außerordentlich. Gwenaël versuchte erst gar nicht, zu verbergen, wie begeistert er davon war, selbst wenn er damit den Preis ruinieren sollte. „Wunderschön“, stöhnte er immer wieder von neuem, wenn ihm Myrdin eine andere Haut vorlegte. „Diese Muster! Wie macht ihr das nur?“
„Nun, ich denke, das sollte wohl besser unser Geheimnis bleiben“, lachte Myrdin. „Aber wir bieten dir die Häute gern zum Tausch an. Was hast du denn zu bieten?“
Gwenaël sah ihm ins Gesicht. „Was willst du? Willst du mächtig werden oder zeigen, dass du mächtig bist?“
Erstaunt blickte Myrdin zurück. „Beides …“ grinste er schließlich breit.
„Nun denn … Gwenaël war in seinem Element und senkte die Stimme. „Ich habe Prunkdolche aus Abalon, sogar das eine oder andere Schwert. Ähnliche wie mein Freund Ottel eines trägt.“ Das Glitzern in Myrdins Augen sagte ihm, dass er den richtigen Weg verfolgte. „Und für die Damen habe ich fein gewebte Stoffe, edles Geschirr und – Bernstein.“
„Bernstein“, ächzte Myrdin. „Womöglich den aus dem östlichen Meer?“
„Womöglich …“ Gwenaël fühlte sich als Sieger. „Zum Mächtigwerden dürftest du allerdings Zinn benötigen, denn Kupfer gibt es ja auch in eurer Gegend zur Genüge.“
„Gwenaël, ich sehe, wir verstehen uns. Du kannst dir jedes Leder, jede Haut aussuchen. Wann sagtest du, kommt dein Schiff? Ach ja, im Morgengrauen …“
„Na, wohl eher nach Sonnenaufgang“, verbesserte Gwenaël.
„Hmmm“, brummte Myrdin, „wenn alle schon putzmunter und auf den Beinen sind …“
„Ach, es wäre dir lieber wenn unser Geschäft ungesehen bliebe?“ Gwenaël zwinkerte, woraufhin Myrdin eifrig nickte. „Ich hab beim Anlegen schon geschimpft, weil ihr immer noch den altmodischen Hafen habt, wo man jedermann aufs Haupt spucken und ins Schiff sehen kann. So was ist nicht gut fürs Geschäft.“
„Also warst du doch schon einmal hier.“ Nun war es an Myrdin, breit zu grinsen.
„Ach, es ist so lange her …“
„Dreimal sieben Jahre etwa?“ Myrdin kramte eine besonders schön eingefärbte Kuhhaut hervor, konnte Gwenaël aber nicht mehr zu Beifallsbekundungen hinreißen.
„Das mag hinkommen“, nickte Gwenaël.
„Deine roten Haare, deine helle Haut mit den lustigen Sommersprossen darauf … Das sieht man bei uns nicht so oft.“
„Ich hab doch keine roten Haare!“, protestierte Gwenaël. „Mein Freund Sarti, der hat rote Haare. Meine sind rotblond.“ Im selben Augenblick schämte er sich jedoch für seine Worte, die ihm auf einmal so eitel und auch so missverständlich vorkamen, geradewegs als wolle er sich hinter ihnen verstecken.
„Nenn es wie du magst“, erwiderte Myrdin nüchtern. „Deine Haarfarbe sieht man hier jedenfalls nicht oft. Eigentlich so gut wie nie, außer bei deinen Verwandten.“
„Ich kenne sie kaum.“ Gwenaël verspürte nach wie vor keinerlei Lust, sich für etwas rechtfertigen zu müssen, das er nicht verursacht hatte. „Und außerdem sind sie nur recht entfernt mit mir verwandt.“
„Alle?“ Myrdin blieb hartnäckig.
„Adgair, der Fischer ist irgendein Vetter aus Mutters Linie und seine Frau ist über zwanzig Ecken mit meinem Vater verwandt.“
„Na, da schau an“, lachte Myrdin. „Die beiden haben elf Kinder. Und so rennen dreizehn von euch Rotblondschöpfen bei uns herum. Es gibt aber noch einen weiteren. Und der sieht aus, als habe man ihn dir aus dem Gesicht geschnitten. Eine junge Frau, die dreimal sieben Jahre alt ist und die nie gelernt hat, was Mitleid ist. Sie ist elternlos aufgewachsen.“
„Bei aller Freundschaft, Myrdin. Was interessieren dich meine Verwandtschaftsverhältnisse“, fragte Gwenaël ärgerlich.
„Wenn einer dieser Rotblondschöpfe das Leben in unserer Stadt stört, dann frage ich mich, wer dafür verantwortlich ist. Selbstverständlich trifft die Schuld zunächst allein den Störenfried“, sagte Myrdin gönnerhaft. „Aber wo kommt er her? Warum ist er so, wie er ist?“
Gwenaël stutzte. „Was willst du damit sagen, Myrdin?“
„Wenn die Rote Gaëlle deine Tochter ist, Gwenaël, dann muss ich dich auffordern, dafür zu sorgen, dass sie hier verschwindet. Schlag ihr den Schädel ein, schneide ihr die Kehle durch, nimm sie mit auf dein Schiff. Einerlei! Es wäre deine Pflicht als Vater, uns von ihr zu befreien.“
„Ich war seither nicht mehr hier“, versuchte sich Gwenaël zu erklären. „Also kann ich dir nicht sagen, ob mein damaliger Aufenthalt Folgen hatte.“
„Wäre es denn möglich?“, fragte Myrdin ernst.
„Ich kannte ein Mädchen hier, jawohl. Ein hübsches, ein sinnliches Ding. Sie hat mich fast aufgefressen.“ Gwenaël lachte gequält. „Aber frag mich nicht, wie sie hieß.“
„Margaëlle war ihr Name.“ Myrdins Gesichtsausdruck ließ keinerlei Zweifel daran, dass er sich vollkommen sicher war. „Sie war ein von uns allen heiß begehrtes Mädchen. Leidenschaftlich, fröhlich und dem Leben zu gewandt. Aber sie wollte keinen von uns aus Kharrenac. Sie wollte wohl etwas Besseres und gab sich einem jungen, rotblonden Seegeborenen hin, der am nächsten Tag mit der aufgehenden Sonne wieder davongesegelt war.“
„Na, das ist ja kaum überraschend. Jeder weiß doch, dass Seegeborene nirgendwo bleiben“, sagte Gwenaël unbeeindruckt.
„Ob Margaëlle dies auch wusste, kann ich Dir nicht sagen. Jedenfalls wurde sie schwanger und musste das Haus ihrer Eltern verlassen“, gab Myrdin zurück.
„Sie wusste es“, nickte Gwenaël. „Aber es war ihr einerlei. Sie wollte ihren Traum wahr werden lassen und wenigstens einmal nur lieben, auf wen sie Lust verspürte. Also ließ sie ihren Traum wahr werden. Selten habe ich ein sinnlicheres Weib gehabt.“
„Ich beneide dich darum“, sagte Myrdin tonlos.
Gwenaël nickte. „Ich werde nun zum Schiff zurücklaufen, damit ich morgen mit der Dämmerung im Hafen anlanden kann. Anschließend werde ich in den Wald gehen, um das Kind zu suchen. Sollte sie meine Tochter sein, so werde ich euch von ihr befreien.“
„Das ist löblich“, stellte Myrdin fest. „Aber ebenso töricht. Es dürfte bald Mitternacht sein. Und du wirst den Morgen nicht erleben, wenn du jetzt die Stadt verlässt. Die Nacht wimmelt vor bösen Geistern, Dämonen und Ausgestoßenen, die keinerlei Bedenken haben, dir für dein Wams oder deine Schuhe die Kehle durchzuschneiden. Und in den Wald solltest du morgen auch nicht alleine gehen.“
„Ihr solltet vielleicht für mehr Sicherheit sorgen“, stellte Gwenaël fest. „Die Fremden werden sonst fortbleiben. Es gibt in der Gegend ja genügend alte Heiligtümer, wo man stattdessen unbedenklich hinpilgern kann.“
„Was meinst du, wofür ich dein Zinn brauche, Gwenaël. Ich werde Waffen herstellen lassen und Krieger ausbilden, um für unseren Schutz zu sorgen. Kharrenac wird aufblühen unter meiner Fürsorge.“
„Du willst der Herr werden.“
„Das bin ich schon“, lächelte Myrdin. „Sie wissen es nur noch nicht.“