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Hamil-kahar

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Seine Gefährten saßen bereits mit Gwenaël beisammen, der sie darüber informieren wollte, was sie auf der nächsten Insel, die sie bald anlaufen würden, erwartete. Sie wurde schlicht Oie genannt, was – wie Gwenaël erläuterte – in der alten, inzwischen verloren gegangenen Sprache der Seegeborenen nichts anderes bedeutete als Insel. Diese Insel, die weit genug von Festland entfernt lag, um sie zu einer natürlichen Festung werden zu lassen, war einst der wichtigste Handelsstützpunkt der Seegeborenen. Auf dem Weg in den Süden, genauso wie umgekehrt, war es der bedeutendste Ankerplatz. Hier erfuhr man, wer was wo brauchte und welche Häfen es lohnte, anzulaufen. Auf Oie war man stets gut informiert, da alle Schiffe der Seegeborenen, welche die Insel passierten, in seinem Hafen anlegten und sei es auch nur kurz, um Neuigkeiten auszutauschen. Vielleicht, so meinte Gwenaël, wäre es ja sogar möglich, dort von einem schneller reisenden Schiff Neues aus seiner Heimat zu erfahren. Vielleicht sogar aus dem fernen Zuhause seiner Freunde. Khor konnte es kaum abwarten, bis sie den Hafen anliefen, obgleich er sich tatsächlich keinerlei Hoffnungen machte, ausgerechnet dort, inmitten des Meeres von den Seinen zu hören.

Oie sah von Ferne einladend aus. Weiße Sandstrände lagen in weiten, bogenförmigen Buchten, die schließlich gemächlich zum grünen Ackerland anstiegen. Junge Weizenfelder leuchteten grün, was Khor zu einem erstaunten Ausruf veranlasste: „Ei, guck mal da. Bei uns mag es noch schneien und hier zeigen die Weizenfelder schon stattliche Triebe.“

„Nun, die Luft ist hier ein wenig wärmer als bei uns zuhause“, ließ Sarti sich vernehmen. „Jedenfalls warm genug, um das Getreide früher keimen zu lassen. Es scheint also etwas dran zu sein, dass die Sonne der Erde umso näher kommt, je weiter man in den Süden fährt.“

„Dann müsste die Sonne aber doch auch größer werden, je näher man ihr kommt“, gab Khor zu bedenken. „Mir scheint sie aber nach wie vor unverändert.“

„Ist sie auch“, brummte Gwenaël. „Sie steht nur höher am Himmel, je weiter man in den Süden kommt. Und das spricht für die Annahme der Alten, dass die Erde eine Kugel ist. Denn es gibt Berichte, wonach sie ab einem bestimmten Punkt wieder tiefer steht, je weiter man nach Süden reist.“

„Und wann werden wir diesen Punkt erreicht haben“, fragte Sarti mit vor Aufregung rotem Kopf.

„Auf dieser Reise wohl kaum“, erwiderte Gwenaël. „Wir werden noch nicht einmal soweit in den Süden kommen, um ihren höchsten Punkt überhaupt zu erreichen.“ Gwenaël schätzte die neuartigen Diskussionen nicht, die das Wissen der Altvorderen in Frage stellten und die Erde als flache Scheibe deuteten. „Jetzt aber werden wir erst einmal Oie anlaufen.“ Gwenaël stellte sich breitbeinig an den Bug und sagte das Gedicht für die sichere Anlandung auf:

„Traue nicht den weißen Stränden,

denn sie locken dich auf Sand.

Besser sich dem Fels zuwenden,

den bedeckt das grüne Land.

Dort wirst du sie stehen sehen,

hoch und hehr erwarten sie,

Stein um Stein, den, der da ziehet,

und bringt Neues allerhand.

Folg den Steinen in der Ferne,

bis sie zeigen, wo ein Spalt

dich empfängt mit Freud und Wärme,

dort treib Handel, dort mach Halt.“

„Also, wenn das nicht einladend klingt“, meinte Khor und sah Gwenaël fragend an.

„Doch, doch“, nickte der. „Nur der dem Festland zugewandten Seite der Insel sollte man besser fern bleiben. Wegen der Sandbänke und Untiefen. Wir werden die Insel fast umrunden müssen, um jenen Spalt zu finden, der einen natürlichen Hafen darstellt.“

„Und was hat es mit den Steinen auf sich, die uns da hoch und hehr erwarten?“, wollte Khor wissen.

„Wart’s ab“, antwortete Gwenaël. „Gleich wirst du verstehen, was damit gemeint ist.“

Tatsächlich - plötzlich sah Khor, was der alte Vers bedeutete: Hoch oben auf den Klippen ragten stattliche Menhire in den Himmel. War man auf der Höhe des einen, sah man schon den nächsten in der Ferne. „Folg den Steinen in der Ferne, bis sie zeigen einen Spalt“, hieß es in Gwenaëls Gedicht. Also fuhren sie die Insel der Länge nach ab, Menhir um Menhir, bis plötzlich zwei von ihnen nahe beieinander standen.

„Dort ist der Spalt“, deutete Gwenaël zwischen ihnen hindurch. „Und genau da müssen wir hineinfahren.“

Von See aus konnte man nichts weiter erkennen als eine weitere Bucht mit steilen, unüberwindlichen Klippen, die sich tief ins Land hinein erstreckte. Khor war es mulmig zumute, die Felsen links und rechts himmelhoch ansteigen zu sehen, ohne einen geeigneten Ort ausmachen zu können, wo es möglich wäre, anzulegen. Plötzlich konnte er jedoch erkennen, dass die Bucht nach einer scharfen Kurve in Richtung Backbord abknickte und tief im Inneren der Insel in einem langgezogenen Sandstrand auslief. Auf der linken Seite der Bucht hatte man einen breiten Weg in den Fels geschlagen, der senkrecht zum Wasser hin abfiel und solcherart zugleich als Kaimauer diente. Jetzt, während der Flut, konnte man bequem und sicher dort anlegen.

Anders als in den vorherigen Häfen nahm man die Neuankömmlinge und ihr Schiff kaum zur Kenntnis. Zu viele Fahrzeuge kamen hier wohl Tag für Tag an, als dass man von Gwenaëls Segel eine besondere Notiz genommen hätte. Oie war ein regelrechter Knotenpunkt, den jeder passieren musste, der von Norden nach Süden unterwegs war und natürlich auch umgekehrt. Zudem war es ein sicheres Zugangstor zum Festland, an dessen schroffer Küste es kaum Häfen gab. Und die wenigen, die man mit größeren Schiffen anlaufen konnte, waren erst weiter im Norden wirklich sicher. Denn hier, in den südlicheren Landstrichen, wusste man nie, von wem man empfangen werden würde, wenn man nach längerer Zeit wieder einen der Festlandhäfen anlief. Gwenaël hatte von erstaunlichen Geschehnissen berichtet, von denen man ihm erzählt hatte. Im letzten Jahr noch hochwillkommen, wurden Schiffe auf einmal mit einem Hagel von Pfeilen begrüßt. Er selbst sei einmal in einem weiter südlich gelegenen Hafen wildfremden Menschen begegnet, deren Sprache er noch nie gehört hatte und die sich eigenartig benahmen. Von den Menschen, die früher dort gelebt hatten, fand sich keinerlei Spur mehr. Nein, da war es auf jeden Fall sicherer, hier in Oie anzulegen. Zudem war es zeitsparender, da man nicht noch weitere Häfen anlaufen musste, sondern hier unter der Aufsicht eines Hafenmeisters gebührende Geschäfte machen konnte.

An der Hafenmauer lagen seltsame Schiffe, auf denen fremdartige Leute mit brauner Haut oder auch solche mit weißgelben Haaren umherliefen. Khor nahm sich augenblicklich vor, sie so bald als möglich genauer in Augenschein zu nehmen. Wo sie wohl herkommen mochten, überlegte er und wollte Sarti auf seine Beobachtung aufmerksam machen. Doch der stand längst schon an der Reling und starrte unentwegt zu den Fremden hinüber. Erst das Rumsen, das Gwenaëls Schiff beim Anlegen machte, riss Khor aus seinen Gedanken. Jetzt erst sah er sich um, wo er denn überhaupt gelandet war.

Im Hintergrund konnte er eine Reihe von schlichten Gebäuden erkennen, die wohl als Lagerhäuser dienten. Im Gegensatz zum Hafen bei den Salzfeldern war hier alles schmucklos, nüchtern, ja, lediglich für den Bedarf gestaltet. Khor erinnerte sich, wie sein Gastgeber am Abend zuvor über die unzivilisierten Leute von Oie gelästert hatte. Dem Schönen abholde Krämerseelen, hatte er sie genannt. Nun, ein Willkomm wie gestern bei den Salzfeldern gab es hier jedenfalls nicht. Keine winkenden Frauen und Kinder, nur emsige Leute, die ihren Geschäften nachgingen, was natürlich auch daran gelegen haben mag, dass Gwenaël hier offenbar keine Spuren seiner Zeugungsfähigkeit hinterlassen hatte. Ein älterer Mann in Begleitung von vier Bewaffneten kam schnurstracks auf sie zu.

„Willkommen auf Oie“, rief er bereits aus einiger Entfernung geschäftig. Man konnte seiner Stimme anhören, dass er diese Begrüßung schon unzählige Male Wort für Wort vorgetragen hatte. „Wie ihr vielleicht wisst, verlangen wir hier auf Oie keinerlei Hafengebühren. Ihr müsst euch lediglich verpflichten, sämtliche euerer Waren uns zum Tausch anzubieten. Weigert ihr euch, so muss ich euch bitten, sogleich wieder abzulegen.“ Breitbeinig baute sich der Mann auf und die Bewaffneten stießen ihre aufgerichteten Speere mit einem lauten Knall auf den Boden, als wollten sie seine Worte damit unterstreichen. „Beim Licht der Sonne“, rief der Alte plötzlich. „Das ist doch Gwenaël! Gwenaël, der Geflügelte, wenn mich meine alten Augen nicht täuschen. Schon lange hast du dich nicht mehr bei uns blicken lassen, Junge.“

„Sei mir gegrüßt, Tyrell“, rief Gwenaël zurück. „Ja, es ist schon eine ganze Weile her, dass wir uns gesehen haben.“

„Man erzählt sich, dass du inzwischen häufiger das östliche Meer befährst.“ Die Stimme des Hafenmeisters klang jetzt sehr viel verbindlicher. „Erst vorgestern kam ein Schiff aus deiner Heimat. Du seiest wohl ebenfalls nach Süden unterwegs, sagte man mir, würdest aber die Festlandhäfen anlaufen wollen.“

„Ach“, rief Gwenaël zurück, „die Leute reden immer, ohne Genaueres zu wissen. Das weißt du doch. Aber wie geht es denn Dir, Tyrell? Die Jahre haben, wie mir scheint, kaum Spuren hinterlassen.“

„Von wegen!“ Der andere lachte herzlich. „Es zieht hier und da. Manche Tage komme ich kaum aus dem Bett. Besonders während der nebelgrauen, feuchten Winter. Mein Weib ist mir überdies vor zwei Jahren gestorben. Sie fiel einfach um und war tot. Ach ja … Meine Kinder brauchten eine Mutter. Also habe ich schließlich das Mädchen zur Frau genommen, das uns im Haushalt half.“

„Die hübsche Rothaarige, die für zwei gearbeitet hat und sich von nichts und niemandem ins Bockshorn hat jagen lassen?“

„Genau die! Adalis heißt sie. Ein Prachtweib, mutig und stolz. Ein wenig frech vielleicht. Aber sie hat mir gleich noch einen Sohn geschenkt. Sechzehn Kinder habe ich nun. Und du, Gwenaël? Deine Coira ist wieder schwanger, wie man mir sagte. Und ihr habt sie zur Führerin deines Volkes gewählt. Das wievielte Kind trägt sie nun?“

„Das Siebente“, gab Gwenaël stolz zurück. „Und wenn ich zurückkomme, mache ich die Acht voll.“

„Na, das will ich wohl meinen! Du wirst dich schon noch ein wenig dranhalten müssen, um schließlich auch meine Zahl zu erreichen.“

Seltsam, überlegte Khor, wie sehr unter Seeleuten die Zeugungsfähigkeit doch immer wieder ein wichtiger Gesprächstoff zu sein schien. Als ob man damit einander bestätigen wollte, irgendwo dazuzugehören.

„Gab es Nachricht, wie es Coira geht?“, fragte Gwenaël und Khor konnte die aufrichtige Sorge in seinen Worten hören.

„Gut geht es ihr, nach allen was man hört.“ Tyrell sprang an Bord und umarmte Gwenaël herzlich. „Sie ist geehrt und hochgeschätzt als Führerin ihres Volkes. Vor zwei Tagen kam ein Schiff von deiner Insel auf dem Weg nach Gadir hier vorbei.“

„Nach Gadir?“, fragte Gwenaël verunsichert. „Das wird wohl jemand aus Cerdrics Klan gewesen sein. Und was hatte es geladen?“

„Zinn und Wollstoffe“, antwortete Tyrell. „Was man eben in Gadir so sucht.“

„So ein Mist! Vor zwei Tagen, sagst du?“ Gwenaël schaute betreten drein als Tyrell nickte. „Dann wird er nicht mehr einzuholen sein und auf jeden Fall vor mir dort eintreffen. Ich habe unter anderem auch Zinn und Stoffe an Bord.“

„Na, nun gräm dich mal nicht“, grinste Tyrell. „Wir haben ihm den größten Teil von seinem Zinn abgetauscht, so dass es an dem deinem noch genügend Interesse in Gadir geben sollte. Du wirst gute Geschäfte dort machen, denn hier brauchen wir dein Zinn erst einmal nicht. Was hast du denn ansonsten geladen?“

„Holz, Fischernetze, erstklassige Angelhaken, Apfelmost, ein paar Raben und einen Wolf“, zählte Gwenaël zunächst die Dinge auf, von denen er kaum erwartete, dass man auf Oie Bedarf an ihnen haben könnte.

„Was willst du denn mit dem Viehzeug?“, fragte Tyrell erstaunt, ohne jedoch eine Antwort abzuwarten. „Wie sieht es denn mit Töpferwaren aus? Ihr macht doch so hübsche Gefäße auf eurer Insel. Man sagt außerdem, dass du im letzten Jahr wieder im östlichen Meer warst. Hast du Pelze oder gar Bernstein?“ Tyrell steuerte geradewegs auf die Luke zum Laderaum zu. „Vielleicht sogar Krakengeschirr?“

Gwenaël grinste breit. „Ich habe Kraken, ich habe Pelze und ich habe Bernstein. Und manch andere feine Dinge auch. Komm mit in den Laderaum und schau, was ich dabei habe.“

Die beiden verschwanden unter Deck und nachdem sie nach geraumer Zeit noch immer nicht wieder aufgetaucht waren, nutzte Khor die Gelegenheit und ging an Land, um sich ein wenig umzusehen. Der Wolfshund fiepte ein Dankeschön und hüpfte so übermütig ins nächste Gebüsch, dass man meinen konnte, sein Hinterteil würde ihn womöglich noch überholen. Die vier Bewaffneten beachteten ihn gar nicht, hatten sie doch nur Augen für Ottel sowie für Elster und Rotfuchs, die es sich nicht nehmen ließen, sich ebenfalls wie ihre Gegenüber in Habachtstellung aufzubauen.

„Abalon?“, fragte der erste Bewaffnete und deutete mit dem Speer auf Ottels Schwert.

„Abalon“, nickte der und drehte die Scheide wirkungsvoll ins Licht der untergehenden Sonne, so dass die Beschläge nur so funkelten.

„Nuraghen?“, fragte der nächste und nickte Elster und Rotfuchs zu.

„Nuraghen“, sagten beide gleichzeitig und grinsten breit.

„Und der Alte mit dem Raben auf der Schulter“, ließ ein weiterer sich vernehmen, „ist wohl ein Hexenmeister.“

„Priester“, verbesserte ihn Broc mit einer angedeuteten Verbeugung, woraufhin der Rabe aufgeregt auf seiner Schulter zu flattern anfing und ständig seinen Namen rief. „Broc, Broc, Broc!“

„Der Vogel redet!“, rief der Vierte und erhielt einen Schwall von Worten aus der Kehle des Raben zur Antwort:

„Redet, redet, redet! Der Vogel rrredet! Broc, Broc, Broc! So ein Quatsch! Sei lieeeeeb …“

Wie sagte man bei Khor zu Hause? Kinder und Hunde machen Fremde zu Freunden. Ein sprechender Rabe jedoch, brachte Fremde dazu, gemeinsam zu lachen. Und mit wem man schon einmal gelacht hatte, dem war man sehr viel weniger fremd und dem hörte man schließlich auch gewogener zu. Natürlich wurde sofort über die Waffen gefachsimpelt und es gab die übliche Protzerei um Schwerter und Rüstungen. Sarti, dessen Prunkdolch aus Abalon bei echten Kriegern kaum übermäßigen Eindruck schinden konnte, schlich sich schnell von Bord und folgte Khor.

„Jetzt warte doch mal einen Augenblick“, rief er ihm hinterher. „Mich interessieren die fremden Schiffe doch ebenso.“

Staunend betrachteten sie die unterschiedlichen Schiffe, die im Hafen lagen. Besonders ein langes, neben einem Segel mit unzähligen Rudern ausgestattetes Schiff erregte zunächst Khors Aufmerksamkeit. Blonde Männer mit heller Haut waren damit beschäftigt, die offenbar soeben eingetauschten Waren zu verstauen, die sie inmitten des ungedeckten Schiffes aufeinander stapelten und schließlich mit Planen abdeckten. Viel Platz war dafür nicht vorhanden, wie Khor feststellte und ihm gruselte bei dem Gedanken in einem derartigen, offenen Gefährt über das Meer rudern zu müssen. Allerdings, so überlegte er, dürfte es wegen seiner schlanken Bauweise sehr viel schneller sein als alle anderen Schiffe. Aber wie ein richtiges Handelsschiff, mit dem man reichlich Tauschwaren von hier nach dort bringen konnte, sah es nun wirklich nicht aus.

„Piraten“, raunte Sarti, woraufhin ihn Khor verwundert ansah.

„Meinst du wirklich?“

„Wozu baut man denn sonst so ein Schiff?“, entgegnete Sarti. „Schnell und wendig. Damit holt man jedes andere Schiff ein und raubt es aus. Und was man nicht unbedingt selbst gebrauchen kann, vertauscht man einfach im nächsten Hafen.“

„Aber sieh doch nur“, erwiderte Khor. „Sie haben vor allem Pelze ausgeladen und dafür Apfelmost an Bord genommen. Sie kommen mit Sicherheit aus dem östlichen Meer. Findest du nicht auch, dass sie aussehen wie die Leute aus Gotenansk, wo wir im letzten Sommer waren?“ Khor versuchte, mit irgendjemandem von der Besatzung in Blickkontakt zu kommen. „Gotenansk?“, rief er laut, als ihm einer der Männer zufällig ins Gesicht sah. Der drehte sich um, als ob er sich vergewissern wollte, dass er es war, den Khor angesprochen hatte.

„Nej Gotenansk“, rief der Blonde zurück. „Mang länger Nord.“ Er deutete immer wieder so heftig in die angegebene Himmelsrichtung, dass jeder sofort verstand, wie unendlich weit entfernt seine Heimat liegen musste. Dann winkte er ab und ließ erkennen, dass er an einer Unterhaltung nicht interessiert war.

„Das sind bestimmt Piraten“, zischte Sarti. „Schau nur die Waffen überall. Als Händler zieht mal ja wohl kaum bis an die Zähne bewaffnet los.“

„Na, das wird wohl davon abhängen, wohin man fährt“, versuchte Khor eine Erklärung zu finden. „Vielleicht sind es Pelztierjäger und waren den ganzen Winter über in gefährlichen Gegenden. Ihre Pelze sind jedenfalls allesamt weiß. Schneefuchs, Schneehase, Hermelin …“

Sah Gwenaëls Schiff im Vergleich zu dem schnittigen Gefährt der Männer aus dem Norden ein wenig pummelig aus, so wirkte es gegenüber dem nächsten Schiff regelrecht schlank und elegant. Es war ein dickes, schwerfälliges Fahrzeug mit großem Tiefgang. Gebaut, um möglichst viel Nutzlast zu befördern. Khor wunderte sich, denn offenbar nahm es nichts weiter an Bord als Getreide. Säckeweise wurde es aufs Schiff geschleppt und sogleich in dessen feistem Bauch verstaut. Dafür hatte man Berge von sehr robusten und praktischen, doch nicht sehr formvollendeten Töpferwaren ausgeladen, die nun von den Einheimischen mit lautem Geschnatter begutachtet wurden. Einige seltsam in die Höhe gezogene spindelförmige Gefäße, die Khor schon irgendwo einmal gesehen hatte, waren abseits auf einem Tischchen aufgebaut, über das man sogar ein Stück purpurnen Stoffs gebreitet hatte. Vor allem Frauen scharten sich darum. Manche schienen gar in Verzückung zu geraten von den Düften, die den Gefäßen entströmten.

„Unguentarien“, jauchzte Sarti. „So wie meines.“

„Ha“, lachte Khor und erinnerte sich an das Fläschchen, das, seit er Sarti kennen gelernt hatte, dessen ganzer Stolz war. „Dann wird es Zeit, dass du dir ein Neues zulegst. Der ranzige Inhalt in deinem verströmt ja kaum noch etwas, das man Duft nennen kann.“

„Neulich hat dir sein Inhalt aber noch sehr wohl behagt“, gab Sarti beleidigt zurück und humpelte auf die vielversprechende Auslage zu.

Khor versuchte währenddessen mit einem der Seeleute des fremden Schiffes Kontakt aufzunehmen. Gleich neben der Planke, über welche die Getreidesäcke an Bord gebracht wurden, saß ein rundlicher Mann mit kahl rasiertem Schädel auf einem eigentümlichen Stuhl und achtete darauf, dass beim Beladen alles mit rechten Dingen zuging. Er war braun gebrannt, als hätte er tagein, tagaus in der Sonne gelegen. Um seinen dicken Bauch hatte er eine einstmals weiße Stoffbahn aus Wolle geschlungen, an der unzählige Fransen baumelten und die an die Festtagsröcke der Frauen in Khors Heimat erinnerte. Sein Oberkörper war unbekleidet, allerdings hatte er einen dicken Umhang weit herabhängend über seine Schultern gelegt, der auf seinem Rücken fast bis zum Boden reichte. Seine wachen braunen Augen hatten Khor schon längst ausgemacht und ihn genau besehen, um abschätzen zu können, ob er womöglich etwas Übles im Schilde führte. Khor fühlte sich ertappt, als er gerade überlegte, wie er ein Gespräch beginnen könne und ihm der andere derweil freundlich ins Gesicht lächelte. „Gegrüßet seiest du, mein Cherr!“

„Ich grüße dich, Fremder.“ Khor deutete eine Verbeugung an. „Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen. Wie ist dein werter Name und wo bist du Zuhause?“

„Man nennt mich Hamil-kahar und komme ich aus Onuba, das man auch nennt Guelbah oder auch Tarschisch.“

Khor hatte weder von dem einen, noch dem anderen Ort jemals etwas gehört. „Viele anders Namen deine Heimat, was?“, verfiel Khor in ein Kauderwelsch, von dem er annahm, dass der andere es besser verstünde.

„Bitte?“

„Ich meine“, Khor räusperte sich, „dass deine Heimat wohl unter vielen, ganz unterschiedlichen Namen bekannt ist.“

„So ist es“, lächelte der Dicke und nickte. „Und du? Wie bist du benamt und kommst wo her?“

„Verzeih! Ich heiße Khor und komme aus dem Land wo der Honig von den Bäumen tropft.“

„Icheisekor. Schöner Name. Und Du kommst aus einem offenkundig süßen Land.“ Beide lachten und Khor musste an Yasemin denken, die seinen Namen vor mittlerweile vier Jahren auf dieselbe Weise missverstanden hatte.

„Nein“, winkte er ab. „Mein Name ist Khor.“

„Ah, verstehe. Für Freunde Khor, für andere Icheisekor.“

Khor lachte und wollte den Missverständnissen ein Ende bereiten, also nickte er einfach. „So ist es.“

„Wenn du willst, Cherr Khor, sei Gast auf mein Schiff.“

„Sehr gerne. Ich danke dir. Doch ich platze vor Neugier: Wo liegt die Stadt, aus der du kommst.“

„Dummkopf“, zischte ihm Sarti ins Ohr, der gerade neben Khor getreten war. „Tarschisch liegt nördlich von Gadir und ist wegen seines Silberreichtums eine der reichsten Städte der Welt.“

„Oh, dein Freund kennt sich aus“, rief Hamil-kahar vergnügt. „Bring ihn doch mit. Dann können wir ein wenig plauderren.“ Er klatschte in die Hände, woraufhin zwei weitere Schemel geholt wurden, die man aufklappen konnte. Khor hatte noch nie derartige Sitzgelegenheiten gesehen und fand sie überaus praktisch. Zwischen den beiden durch ein Scharnier verbundenen Holzrahmen spannte sich, einmal aufgeklappt, eine Sitzfläche aus dickem Leder.

„Setzt euch zu mir“, bedeutete ihnen Hamil-kahar, während Khor die Schemel in Augenschein nahm.

„Oh“, entschuldigte Khor sich abermals. „Dies ist mein Freund Sarti.“ Khor setzte sich nieder und war erstaunt, wie bequem die seltsame Sitzgelegenheit war. Sarti tat es ihm gleich und hüpfte sogar zur Probe mit dem Hinterteil auf und ab.

„Willkomm auf mein Schiff“, sagte Hamil-kahar und klatschte abermals in die Hände. Dieses Mal wurde ein kleines rundes Tischchen gebracht, dessen Platte mit seltsam verworrenen Ornamenten aus Elfenbein kunstvoll eingelegt war. Drei Becher wurden darauf gestellt, in die man irgendwelche frischen Kräuter gestopft hatte. Schließlich erschien einer von Hamil-kahars Leuten mit einem kleinen Kessel kochenden Wassers, das er über die Kräuter in die Becher goss und abschließend noch etwas dickflüssigen Sirup hinzufügte.

„Habt ihr herabgetropften Honig aus der Heimat?“, fragte Hamil-kahar und drückte die Kräuter in seinem Becher mit einem Stöckchen unter das dampfende Wasser. Dabei verbreiteten sie einen aromatischen Duft, der Khor nur zu vertraut war.

„Leider nicht genügend, um etwas davon abzugeben“, bedauerte er. „Wir ahnten ja nicht, dass Honig anderswo so rar sein könnte.“

„Aha“, lächelte Hamil-kahar. „Also Händler seid ihr keine.“

„Das ist Minze!“, rief Sarti überrascht und lachte erleichtert, denn er hatte insgeheim Schlimmes erwartet. „Bei uns zuhause nehmen wir sie gegen Bauchgrimmen.“

„Wir auch“, nickte Hamil-kahar. „Aber eben auch zur Erhaltung der guten Verdauung. Schmeckt gut und erfrischt!“ Während ihrer kurzen Unterhaltung hatte er die Träger mit den Getreidesäcken nicht aus den Augen gelassen und gab einem seiner Leute plötzlich einen Wink. Der nahm den letzten an Bord gebrachten Sack und hängte ihn an eine Waage.

„Oh, zu leicht“, rief Hamil-kahar mit gespielter Enttäuschung und schüttelte den Kopf. „Zurück damit“, herrschte er den Träger an, „und füll noch etwas nach. Aber nicht zu knapp, hörst du!“ Verbindlich lächelnd wandte er sich wieder Khor und Sarti zu. „Man muss aufgepass“, sagte er zwinkernd. „Fehler sind so schnell geschehen. Doch sagt mir: Wenn ihr keinen Handel treibt, warum fahrt ihr dann übers Meer?“

„Wir suchen die Weisheit und das Wissen der Welt“, antwortete Khor stolz. „In unseren Wäldern kennen wir sie nur vom Hörensagen. Also zogen wir aus, um sie zu suchen.“

„Ui!“ Hamil-kahar pfiff durch die Zähne. „Ein edles Unterfangen. Da habt ihr euch viel vorgenommen.“

„Das mag wohl sein“, nickte Khor. „Aber nur wer um die Dinge weiß, kann auch die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Die Welt wartet nur darauf, verstanden zu werden. Aber bevor wir sie verstehen können, müssen wir zunächst einmal mehr über sie wissen. Denn unser Volk wartet darauf, dass wir ihm dieses Wissen bringen.“

„So, so“, lächelte Hamil-kahar. „Beeindruckend. Ich bin nur ein Händler und fahre deshalb aufs Meer. Denn mein Volk, das wartet auf Nahrung. Also bringe ich ihm Getreide von hier, wo es schön fett und saftig wächst.“ Er zwinkerte Khor zu. „Schade, dass ihr keinen Honig bei euch habt.“

„Es tut mir leid“, wiederholte sich Khor. „Honig haben wir wirklich keinen.“

„Aber ein schöner Prunkdolch hängt an deiner Seite. Abalon?“

„Jawohl“, entgegnete Khor. „Wir waren im vergangenen Herbst dort.“

„Gegen Honig getauscht?“

„Nein“, lachte Khor. „Nicht gegen Honig. Wenn ich gewusst hätte, dass wir einander begegnen, hätte ich dir ein Fässchen davon mitgebracht, glaub es mir.“

„Wie aufmerksam und großzügig von dir.“ Hamil-kahar deutete im Sitzen eine Verbeugung an. „Ich frage mich also, was du sonst anzubieten hattest, um solch einen prachtvollen Dolch zu erstehen.“ Er blickte sein Gegenüber auffordernd an, fixierte dann Sartis Prunkdolch und lachte schließlich.

„Du willst mir doch nicht unterstellen, dass ich ihn gestohlen habe“, gab Khor zurück und überlegte, ob er sich beleidigt fühlen sollte.

„Aber nein, keineswegs! Glaub mir, das war nie meine Absicht. Ich mache doch einfach nur so gerne Tauschgeschäfte, weißt du, Cherr Khor. Für meine Götter ist es eine regelrechte Sünde, wenn ich dich nicht um ein Geschäft bitte. Es kann ja auch nur eine Kleinigkeit sein.“ Hamil-kahar überlegte. „Meine Töpferwaren werden dich wohl kaum interessieren. Aber wie sieht es denn mit edlen Essenzen aus? Wundersame Düfte, die nicht nur euren Nasen, sondern auch euren Seelen schmeicheln? Das da“, mit dem Kinn deutete er nach dem Tischchen an Land und den darauf aufgebauten Unguentarien, „ist eher etwas für die Bauern hier.“

„Das stimmt wohl“, warf Sarti ein und grinste frech. „Da hab ich nämlich schon Besseres gerochen.“ Flugs zog er sein Salbgefäß aus dem Mantel hervor. „Dies hier, dies hat mein Vater mir vor langen Jahren geschenkt. Nun ist es bald leer.“ Er entfernte den Stöpsel und ließ Hamil-kahar daran riechen.

„Oh, oh, oh“, raunte der. „Ein wenig überlagert, aber Kyphi von allererster Güte; wie man ihn nur in Bab-ilim herzustellen weiß. Ich staune, dass man so etwas in euren abgelegenen Wäldern bekommt.“

„Mein Vater hatte das Fläschchen vor Jahren von einem Händler aus dem Süden gegen Pelze eingetauscht“, erklärte Sarti. „Er meinte aber, dass es aus Urukuru käme.“

„Urukuru wird schon seit langem von Bab-ilim beherrscht.“ Hamil-kahar machte eine wegwerfende Handbewegung. „Urukuru ist nur noch ein öder Flecken in der Wüste. Seine Blütezeit ist längst vorbei. Bab-ilim strahlt nun heller, als Urukuru es je vermochte.“

„Warst du jemals dort? Hast du es mit eigenen Augen gesehen?“, wollte Sarti wissen und bekam wie immer, wenn es um derartige Dinge ging, einen hochroten Kopf.

„Aber nein!“, lächelte Hamil-kahar. „Ich bin Seemann und ich befahre die Meere. Bab-ilim liegt tief im Osten, hinter einer tödlichen Wüste und weit weg von der Küste des südlichen Meeres. Nur die Sandgeborenen, die Wüstenleute, wagen den Weg mit ihren Karawanen dorthin. Aber man erzählt allerhand davon. Und die Waren aus Bab-ilim sind allesamt erlesen.“ Mit einem zufriedenen Brummen nahm Hamil-kahar zur Kenntnis, dass inzwischen der letzte Sack Getreide an Bord gebracht worden war.

„Ich frage mich“, sagte er nach einer kurzen Pause zu Sarti, „was du mir für solch ein köstliches Fläschchen aus Bab-ilim bieten könntest.“ Einmal mehr klatschte er in die Hände und ließ ein besonders schön bemaltes Unguentarium aus dem Laderaum kommen, entstöpselte es und hielt es Sarti unter die Nase. „Nun? Was hältst du davon?“

„Ahhh …“ Sarti lief hochrot an. „Welch ein Genuss. Welch ein Duft. Riech doch nur, Khor!“

Auch Khor hatte noch nie einen derartigen Sinneseindruck erfahren. Ihm war, als beträte er neue Sphären, eine andere Welt, ja, ein anderes Dasein.

„Es ist der beste Kyphi, den ihr bekommen könnt“, pries Hamil-kahar seine Ware an. „Seid versichert, dass er überall Seinesgleichen sucht. Kharda-mom und Zingiber aus Lothal, Zinna-mom und Galgant aus Aratta, Weihrauch und Myrrhe aus Schebah, Zedernöl von den Bergen am Meer und Rosenwasser aus Bab-ilim. Dieser Kyphi besteht aus den besten Zutaten der östlichen Welt. Er ist gleichsam der Duft der östlichen Welt.“ Zufrieden beobachtete Hamil-kahar, wie sowohl der Duft, als auch seine Worte ihre Wirkung taten. „Was magst du mir dafür wohl zum Tausch anbieten?“, fragte er Sarti. „Mache mir ein Angebot.“

Sogleich nestelte Sarti an seinem Gürtel herum, griff in den Lederbeutel, in dem er seine Schätze zu verstauen pflegte und hielt einen nicht eben kleinen Bernstein zwischen Daumen und Zeigefinger empor.

„Ui“, entfuhr es Hamil-kahar. „Amb-her. Der Stein der Leben bannt und der auf Wasser schwimmt. Der das Leben verlängert, wenn man ihn verbrennt und der gesunde Kinder in den Bäuchen der Frauen heranwachsen lässt. Hast du etwa noch so einen?“

Sarti lachte. „Und ob …“

So schnell konnte er gar nicht schauen, wie der Bernstein in Hamil-kahars begieriger Hand verschwunden war und im Gegenzug das Unguentarium, flugs verstöpselt, auf Sartis Schoß landete. „Hast du auch solche Steine?“, fragte Hamil-kahar nun Khor, offenbar fest entschlossen, ihn nicht gehen zu lassen, ohne ebenfalls ein Geschäft getätigt zu haben.

„Vielleicht“, entgegnete Khor schnippisch. „Aber an Duftessenzen habe ich keinerlei Interesse.“

„Nicht?“, fragte Hamil-kahar enttäuscht. „Nun denn …“ Er kramte in den Falten seines Rockes. „Vielleicht gefällt dir dies hier.“ Triumphierend hielt er einen Silberreif vor Khors Gesicht.

„Silber?“, fragte der.

„Aber ja! Was denkst du denn?!“ Und schon biss Hamil-kahar fest in den Reif, um anschließend die Abdrücke seiner Zähne im Metall vorzuzeigen.

„Sieh dich bloß vor, mein Freund!“, ertönte plötzlich Gwenaëls Stimme. „Du machst gerade mit dem größten Schacherer der Weltmeere Geschäfte. Bernstein ist in seiner Heimat so wertvoll und begehrt, dass er dir dafür ohne weiteres das Doppelte geben könnte.“ Hämisch lachend sprang Gwenaël auf das Schiff. „Hamil-kahar, du alter Halsabschneider. Ich freue mich, dich zu sehen!“

„Gwenaël“, stieß der hervor. „Gwenaël, der Geflügelte. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich dachte schon, du liegst faul auf deiner Insel bei deinem Weib im Bett und lässt es dir gut gehen.“

Wie alte Freunde begrüßten sie sich, umarmten einander, klatschten sich gegenseitig auf die seit dem letzten Treffen offenbar dicker gewordenen Bäuche und lachten vor Freude, einander wieder zu sehen.

Ein weiterer Schemel wurde gebracht und noch ein Becher mit überbrühter Minze. Und als wären Khor und Sarti plötzlich Luft, erzählten die beiden einander, wie es ihnen in den vergangenen Jahren ergangen war und was sich in ihrem Leben alles zugetragen hatte. Natürlich wurde wieder einmal mit der Anzahl der Kinder geprotzt und von den Reisen berichtet, die man unternommen hatte. Als Hemil-kahar erfuhr, dass Gwenaël plante, das südliche Meer zu befahren, riet er ihm, seine wertvollsten Waren auf keinen Fall für das Land Kemet zurückzuhalten. Jenes Land am breiten Fluss, wo die weißen, von Menschen errichteten Berge standen und das Khor nicht müde wurde, sich vorzustellen, seit er davon gehört hatte. Vor einiger Zeit, berichtete Hamil-kahar, war es dort zu einem Umsturz gekommen. Damals hatten sich neue Herrscher festgesetzt. Ihre Vorfahren waren bereits vor Langem in das Land am Fluss eingewandert und hatten den Königen von Kemet zunächst treu gedient. Aber das Land war innerlich zerstritten und die Thronfolge umkämpft. Also hatten die Einwanderer die Gelegenheit genutzt, die Macht an sich zu reißen. Gwenaël konnte sich erinnern, dass ihr erster König Scharik hieß. Auf dessen Befehl hin war im Delta die neue Hauptstadt Avaris errichtet worden. Genau diese Bautätigkeiten waren es damals gewesen, die Gwenaëls Reisen in das Land so erfolgreich sein ließen; hatte er doch seinerzeit vor allem edle Hölzer geladen, wie Eiche, Rüster, Ahorn, Linde oder auch Birke, die man ihm förmlich aus den Händen riss. Hamil-kahar berichtete, dass König Scharik bereits vor Jahren gestorben war. Nun herrschte König Ben-On, der Tati, eine schwarze Königin vom Oberlauf des Flusses geheiratet hatte, um sich mit deren Volk zu verbünden. Denn immer wieder hatte es vor allem in den südlichen Landesteilen Aufstände und Widerstand gegen die Fremdherrschaft im Norden gegeben. Diese Regionen wollte Ben-On durch seine dynastische Verbindung mit dem fernen Süden in die Zange nehmen. Seither war jedoch vor allem der Überseehandel ausgebaut worden – in Avaris, als neuer Hauptstadt, hatte man den größten Hafen des Landes errichtet ‑, so dass dort ständig Schiffe der Keftiu, der Syrer, der Achijawa, ja, sogar der Schardana anlegten, die ihre Waren anlieferten. Holz war also keine Seltenheit mehr im Land am Fluss und sein Preis somit deutlich gefallen.

Gwenaël machte ein nachdenkliches Gesicht. Denn für das geladene Holz hatte er sich schon einiges an Erlös erwartet. „Und wie sieht es mit Bernstein aus?“, fragte er Hamil-kahar.

„Amb-her?“, wiederholte der und senkte seine Stimme wie ein Verschwörer. „Man wird es dir doppelt mit Gold aufwiegen. Sie fertigen Schmuck daraus, der überall begehrt ist. Und diese Verschwender verbrennen es sogar nach wie vor in ihren Tempeln, um mit dem Duft die Luft zu reinigen und ihre Götter gnädig zu stimmen.“

Entspannt lehnte sich Gwenaël zurück und grinste zufrieden. „Nun denn! Auf ins Land am großen Fluss.“

„Sag bloß, du hast auch …“ Hamil-kahar bekam große Augen.

„Schon möglich“, zwinkerte Gwenaël. „Aber sei mir nicht böse: Ich werde es dort eintauschen, wo ich den besten Gegenwert dafür erhalte.“

„Aber Gwenaël! Selbstverständlich! Wir sind doch schließlich Kaufleute“, spielte Hamil-kahar den Entrüsteten. „Wir sind aber auch Freunde geworden über all die langen Jahre, die wir uns kennen. Und wir haben schon so viele schöne Geschäfte gemacht.“

„Ich fürchte aber, heute wird nichts draus“, blieb Gwenaël hart. „Unser Bedarf an Stinkezeugs ist gedeckt“, er zwinkerte Sarti zu und deutete auf das Unguentarium „und ich brauche weder Töpferwaren noch Getreide.“

„Aber Silber hast du doch sonst immer gerne genommen“, versuchte Hamil-kahar einzulenken.

„Bernstein ist aber sehr viel leichter, als das schwere Zeug. Und wir werden ebenfalls an Tarschisch vorbeikommen, also kann ich dort dann auch Silber eintauschen, wenn ich will …“

„Oh, Gwenaël!“ Hamil-kahar schien tief getroffen. „Das kannst du mir doch nicht antun. Nicht einen Silberreifen? Ich habe auch Ringe und Diademe. Oder sollen es vielleicht die runden Silberplättchen sein, die man sich seit Neuestem in Gadir auf die Gewänder näht?“

„Gadir werden wir ebenfalls anlaufen. Die kann ich dann ebenfalls dort eintauschen, wenn ich mag.“

Hamil-kahar, dem der Schweiß auf die Stirn zu treten drohte, tat Khor regelrecht leid. Also zückte er ebenfalls einen nicht eben kleinen Bernstein und hielt ihn empor. „Für den Silberreifen?“

„Cherr Khor, sehr gerne.“ Hamil-kahar strahlte. „Aber hast du nicht vielleicht einen Bernstein, der irgendein Tier umschlossen hat?“

„Nun ist’s aber genug“, lachte Gwenaël. „Ich muss dir meine beiden Freunde jetzt entführen. Denn wir sind bei Tyrell, dem Hafenmeister, zum Nachtmahl eingeladen. Er wäre wohl nicht sehr erbaut, wenn er erführe, dass in seinem Hafen Geschäfte ohne ihn gemacht werden.“

Schnell reichte Hamil-kahar Khor den Silberreifen und nahm dafür den Bernstein. „Die Schemel haben dir und deinem Freund doch so gut gefallen“, flüsterte er Khor zu.

„Oh ja“, rief Sarti begeistert, der die Ohren gespitzt und mitgehört hatte. „Aber wir brauchen fünf davon.“

„Ich habe aber nur vier“, meinte Hamil-kahar enttäuscht. „Wenngleich … Ich könnte euch auch meinen eigenen Schemel geben. Seht nur“, er sprang auf, „ein besonders schönes, prunkvoll geschnitztes Stück. Was möchte es euch wohl wert sein?“

Sarti kramte einen kleinen Bernstein hervor, der allerdings durch seine Klarheit beeindruckte. In seiner Mitte schwebte eine winzige Fliege mit ausgebreiteten Flügeln, so, als wäre sie soeben erst hineingeflogen.

„Wir sind uns einig! Schlagt ein!“ Hamil-kahar war sichtlich zufrieden.

Beladen mit fünf Klappschemeln stolperten Khor und Sarti schließlich von Bord.

„Es war wie immer schön, dich getroffen zu haben, Gwenaël“, rief ihnen Hamil-kahar hinterher. „Und deine beiden Freunde kennen zu lernen, war mir eine ganz besondere Ehre. Wir sehen uns morgen bei Sonnenaufgang, beim Ablegen?“

„Na, bei uns könnte es morgen wohl etwas später werden“, zwinkerte Gwenaël.

„Dann sehen wir uns in Tarschisch oder in Gadir.“

„Wo auch immer, mein Freund“, winkte Gwenaël. „Wir sehen uns!“

Obwohl Gwenaël zunächst kein Wort sagte, wusste Khor, dass sie wohl einen zu hohen Preis gezahlt hatten. Denn während des ganzen Wegs zurück zum Schiff, rupfte und zupfte Gwenaël an den Schemeln, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Sie sind zwar aus Ebenholz, aber bis auf den einen, auf den Hamil-kahar seinen Allerwertesten gesetzt hatte, nichts Besonderes. Wenn ihr weiter so mit eurem Bernstein um euch schmeißt, ist der letzte Brocken bald ausgegeben. Wozu braucht ihr ausgerechnet fünf Schemel, wo ihr doch nur zu viert seid?“

„Damit du deinen Hintern auf den Schemel von Hamil-kahar setzen kannst“, lachte Sarti und Khor konnte deutlich in Gwenaëls Gesicht ablesen, wie er sich nach und nach mit diesem Gedanken anfreundete.

„Ich stelle mir Hamil-kahar vor“, prustete Gwenaël schließlich los, „wie er jetzt auf seinem Schiff auf dem Boden hocken muss, ihm nach kurzer Zeit die Knie schmerzen und der Hintern weh tut. Was für ein herrliches Geschenk! Ich danke euch.“ Und schnell drückte er Khor und Sarti einen Kuss auf die Stirn.

Broc und Ottel wussten zunächst nichts rechtes mit den Schemeln anzufangen. Ratlos klappte Ottel den seinen ständig auf und zu, als ob er vermutete, dass es sich dabei um eine Falle handelte, deren Mechanismus er noch nicht durchschaut hatte. Schließlich legte er sich flach aufs Deck und stellte den aufgeklappten Schemel unter seine Knie. „Na, für Beine, die viel gelaufen sind, ist dies sicherlich erholsam“, murmelte er, nicht wirklich überzeugt, dass er das Geschenk auch öfters nutzen möchte. Erst als Khor und Sarti ihren Freunden stolz vorführten, wozu die Schemel eigentlich dienten, zeigte er sich angetan.

„Oh, man sitzt wie ein König darauf“, strahlte er und auch Broc war überaus beeindruckt von dem herrschaftlichen Bild, das man abgab, sobald man darauf Platz genommen hatte. Als man schließlich aufbrach, um Tyrell zu besuchen, nahm ein jeder von ihnen, einschließlich Gwenaël, seinen Schemel mit, um dessen Tauglichkeit während des bevorstehenden langen Abends zu erproben.

In der frischen Abendluft marschierten die fünf Freunde landeinwärts. Vorbei an dem großen, schmucklosen Vorratshaus und den ärmlichen Hütten, in denen wohl die Handlanger und Hafenarbeiter hausten. Gwenaël hatte noch eine ausgesucht schöne Henkelschüssel mit aufgemalten Kraken mitgenommen, um sie Tyrell und seiner Frau Adalis als Gastgeschenk zu überreichen. Sie war eingewickelt in einem Stück Stoff, so dass sie mit ihren ausladenden Henkeln aussah wie ein verpackter Ochsenkopf. Tyrell stutzte dann auch, als er seine Gäste kommen sah.

Tyrells Haus war gleich das erste in der Ortschaft. Anders als die Häuser, die Khor hier bislang gesehen hatte, war es mit allerlei bunten Zeichen und Symbolen bemalt, die er bereits von den Häusern im Dorf bei den Salzfeldern kannte. Als sie nur noch wenige Schritte entfernt waren, rief Tyrell seine Familie herbei, die, einer nach dem anderen, aus dem Haus gequollen kam. Sechzehn Kinder, erinnerte sich Khor, hatte Tyrell gezeugt. Er versuchte erst gar nicht nachzuzählen. Neben dem nicht eben stattlichen Vater sah seine rothaarige Frau, die das Jüngste auf den Armen hielt, wie eine Riesin aus. Es konnte keinerlei Zweifel daran geben, dass sie es war, die hier das Sagen hatte. Aber, so erinnerte er sich an das Gespräch von gestern Abend, hier auf Oie sind es sowieso die Frauen, die bestimmen, was zu geschehen hat. Den Frauen gehört das Land, hatte Ronal gesagt, und den Männern das Meer.

Die Begrüßung war mehr als herzlich. Erst jetzt hatte Khor verstanden, dass auch Tyrell ein, wenn auch weit entfernter Verwandter von Gwenaël war. Seine Frau Adalis freute sich jedenfalls ganz offensichtlich, den Schwippschwager wieder zu sehen. Sie drückte ihn und strahlte ihn so unverholen an, dass Tyrell und dessen älteste Tochter schließlich die Augen verdrehten. „Was, was, was?“, fuhr Adalis sie an. „Ich freu mich einfach, das Gwenaëlchen wieder zu sehen. Hier gibt’s ja sonst kaum etwas Erfreuliches zu erblicken.“

Khor und Ottel kicherten. „Gwenaëlchen. Wenn das die Mannschaft hört …“

„Ich warne euch!“, fauchte Gwenaël sie an. „Kein Sterbenswörtchen oder ihr beide geht bei nächster Gelegenheit auf hoher See über Bord.“

Ottel wollte schon laut losprusten, als Adalis ihn willkommen hieß. „Oh, welch prächtiger Krieger“, gurrte sie. „Ich bin Adalis und heiße dich herzlich willkommen.“ Sie betonte das Wort herzlich auf eine ganz besondere Art und Weise und reckte Ottel dabei ihren Busen entgegen, so dass er erschrocken einen Schritt rückwärts tat. Flugs hakte sie sich bei ihm unter und führte den verdutzten Kämpen ins Haus. „Wir haben nämlich ein Festmählchen für euch vorbereitet. Es gibt sogar Musik.“

Die Henkelschale mit den aufgemalten Kraken, die Gwenaël mitgebracht hatte, wurde ausgiebig bestaunt und schließlich auf einen besonderen Platz gestellt, so dass jedem, der das Haus betrat, das Prunkstück sogleich ins Auge fallen musste. Man setzte sich um die Feuerstelle und Khor wartete die ganze Zeit gespannt darauf, ob die Gastgeber, wie gestern von deren Verwandten im Dorf bei den Salzfeldern angekündigt, jenes unzivilisierte Benehmen an den Tag legen würden, über das man sich so schadenfroh lustig gemacht hatte. Aber es war nicht wesentlich mehr Schmatzen, Rülpsen und Schlürfen wahrzunehmen als anderswo auch. Eigentlich war es nur Tyrell, der mit seinem vom Festbraten verschmierten Gesicht und den fettglänzenden gierigen Fingern besonders auffiel. Adalis hingegen, die früher einmal Tyrells Magd gewesen war, wie Khor sich erinnerte, legte eine Grazie und Eleganz an den Tag, dass man sie ohne weiteres für eine hochwohlgeborene Frau von der Fürstenburg am Mittelberg halten konnte. Sie umgurrte Gwenaël wie Ottel, hielt ihnen ständig ihr Jüngstes hin, als ob sie ihnen damit eine Arbeitsprobe unterbreiten wolle, und störte jedes Gespräch, indem sie ständig dazwischenfragte, ob Ottel noch etwas Apfelmost oder Gwenaël noch ein wenig vom eingedickten Beerenmus kosten möchte.

Gwenaël hatte es kaum abwarten können, endlich eine Gelegenheit zu finden, um Tyrell zu fragen, ob Hamil-kahar tatsächlich nur mittelprächtige Töpferwaren für ein ganzes Schiff voller Getreide gegeben hatte. Tyrell sah ihn an, als ob Gwenaël plötzlich dem Irrsinn anheim gefallen wäre.

„Na hör mal! Ist das dein Ernst? Das Gelump ist für die Bauern, damit die auch was kriegen. Hamil-kahar zahlt in Silber. Eine erstklassige Geschäftsbeziehung, kann ich dir sagen. In manchem Jahr schafft er es, sechsmal zu uns zu kommen …“

Khor hatte bald genug von dem immergleichen Geschnatter über diesen Verwandten oder jenen Händler, vor dem man sich gegenseitig warnte oder den man wegen seiner Ehrlichkeit rühmte. Der Apfelmost, aber auch die seltsame Musik ließen seine Gedanken immer wieder in die Ferne schweifen. Heute hatte er zum ersten Mal jemanden kennen gelernt, der wirklich ein Fremder war und nicht wieder nur ein über tausend Ecken mit Gwenaël verwandtes Mitglied dessen weit verstreuter Sippe. Hamil-kahar sprach fremdartig, sah fremdartig aus und benahm sich auch so. Khor überkam Fernweh. Wie gerne wollte er endlich diese fremden Welten mit eigenen Augen sehen.

Zu dem Harfenspieler waren inzwischen ein Flötist sowie ein Trommler hinzugekommen, so dass die Gespräche immer lauter wurden, um sich noch gegen die Musik durchsetzen zu können. Plötzlich sprang Adalis auf, reichte Gwenaël und Ottel jeweils ihre Hand und rief begeistert: „Den Kranich! Lasst uns den Kranich tanzen!“

Die Trommel gab den Takt vor. Adalis stellte sich auf, breitete die Arme aus und zuckte im Rhythmus mit den Schultern. Gwenaël stellte sich hinter sie, dann kam Ottel. Tyrell stellte sich hintan, gefolgt von seinen ältesten Kindern. Die Mägde wurden herbeigewinkt und Khor, Sarti und Broc von festen Händen ergriffen und ebenfalls in die Reihe gezogen.

„Hört nur auf die Musik“, rief Adalis, die das Zögern ihrer Gäste bemerkt hatte. „Der Rest kommt dann von ganz allein.“

Und schon ruderten ihre Arme im Takt der Trommeln, als wolle sie versuchen, zu fliegen. Ihre Füße machten kleine Schritte und bald segelte sie wie ein übermütiger Kranich durchs Haus, gefolgt von einer bald sich kräuselnden, bald sich streckenden Schlange von Menschen, welche die seltsamsten Bewegungen vollzogen; ein jeder, wie es ihm gerade in den Sinn kam. Zunächst war es Khor peinlich, irgendwelche Bewegungen zu machen, von denen er nicht wusste, ob sie vielleicht fehl am Platze waren oder gar eine Bedeutung hatten, die er nicht kannte. Kurz: Er hatte einfach Angst, sich lächerlich zu machen. Doch die Musik wurde immer lauter, drängender und mitreißender, so dass er schließlich doch nach Herzenslust mit den Armen fuchtelte, die Beine zappeln ließ und sich am Ende tatsächlich wie ein Kranich fühlte, der über ferne Länder segelte. Wie eine Natter ringelte sich die Menschenschlange. Bald nah beieinander, so dass man sich berührte und die Wärme der anderen Körper spürte, bald aber auch wieder weit auseinander gezogen, um mit gestreckten Armen in der Musik zu schweben.

„So habe ich dich ja noch nie gesehen“, lachte Ottel Khor ins Gesicht, der sich sofort beobachtet und bewertet fühlte. „Nein“, rief Ottel und packte Khors Hand, „tanz einfach weiter und lass dich von der Musik davontragen. Vergiss, wer du sein willst und sei, wer du bist.“

Khor war schweißgebadet als der Kranich in einem eng zusammengepressten Klumpen von Menschen endete, die einander fest umschlungen hielten. Einer wie der andere brach in Gelächter aus und ging langsam wieder an seinen Platz zurück. Vollkommen außer Puste setzte sich Gwenaël ein wenig umständlich auf seinen neuen Schemel.

„Ich sollte mir auch so ein Sitzmöbel zulegen“, meinte Tyrell. „Es sieht schon ein wenig herrschaftlicher aus, wenn man nicht am Boden hockt. Hamil-kahar hatte diese Tauschware aber gar nicht angemeldet, wie mich Adalis darauf aufmerksam machte und was ja eigentlich ein Verstoß ist. Er wird mir also sicher einen guten Preis machen, wenn er das nächste Mal kommt, meinst du nicht auch, Gwenaël?“

Khor war es zu heiß im Haus geworden, so dass er etwas Luft schnappen wollte und vor die Türe ging. Wie schön es doch war, vom Wolfshund mit solch aufrichtiger Freude begrüßt zu werden. Und überdies tat ihm der kühle Abendwind gut.

Adalis erschien in der Tür. „Ich wollte nur nachsehen, ob dir auch wohl ist“, meinte sie fürsorglich.

„Ich brauche nur ein wenig frische Luft, danke. Der Tanz …“

„Oh, der Kranich. Ich tanze so gern“, lachte Adalis mit solcher Unschuld, dass Khor an seine kleine Schwester Perachta denken musste. „Als ich noch Magd war, habe ich manche Nacht durchgetanzt. Aber jetzt bin ich die Frau des Hafenmeisters.“

„Ihr gereicht euch gegenseitig zur Ehre, Tyrell und du“, sagte Khor höflich.

„Oh, danke! Wenn er nur nicht so alt wäre“, entfuhr es ihr, woraufhin sie kicherte, als ob sie das Gesagte damit weglachen könne.

„Nun, du hast ihm erst ein Kind geschenkt“, entgegnete Khor. „Nicht alles an ihm scheint also alt zu sein.“

Adalis lachte. „Ihr Seefahrer denkt immer nur an das Eine. Ich aber denke an die Zukunft. Wenn sein Sohn groß ist, wird Tyrell längst nicht mehr unter uns sein. Manchen Tag hustet er, dass es ein Graus ist. Und abends legt er sich gleich nach dem Essen ins Bett und schläft.“

„Es klingt, als ob du nicht zufrieden wärst“, versuchte Khor zusammenzufassen.

„Zufrieden? Was heißt schon zufrieden. Solange Tyrell da ist, bin ich zufrieden. Er ist ein guter Mann und liebt seine Kinder. Und ich denke, er liebt auch mich. Aber ich bin noch jung. Ich werde ihn wahrscheinlich um lange Jahre überleben.“

„Man sagte mir, dass hier auf Oie sowieso die Frauen das Sagen hätten. Also was hast du zu befürchten?“

„Na, was wohl!“ Adalis schnaubte verächtlich. „Die anderen Frauen.“ Sie machte die Stimme irgendeiner Neiderin nach. „Oh, der Hafenmeister hat seine junge Magd geheiratet, das schlichte Gör, das bislang den Fußboden fegte, die Suppe kochte und seinen Kindern den Hintern sauber wischte.“ Adalis reckte sich. „Ja, meine Eltern waren Bauern und ich war Tyrells Magd. Und er bat mich, den Rest seines Lebens mit ihm zu teilen. Er hatte seine Gründe dafür. Denn inzwischen weiß ich besser über die Geschäfte im Hafen Bescheid als Tyrell selbst. Er vergisst hin und wieder schon einmal etwas. Wenn ich da kein Auge drauf hätte …“

„Verzeih mir, Adalis“, unterbrach Khor. „Wir kennen uns kaum. Also warum erzählst du mir das alles.“

Adalis lächelte ihn an und überlegte eine Weile. „Also eure kleinen Geschäfte mit Hamil-kahar interessieren mich nicht. Ein Schemelchen hier, ein silbernes Reifchen dort … Ich möchte mit dir reden, weil du mit einem Wolf bist“, sagte sie mit gesenkter Stimme. „Und du hast das Zeichen aus Bronze um den Hals, das sagt, dass du in Barremeer eine Nacht mit den Göttern und Dämonen verbracht hast.“

„Es war eine Mannbarkeitsprüfung, mehr nicht“, versuchte Khor zu erklären, „die üblicherweise auch noch von jungen Burschen abgelegt wird.“

„Wer dort in den aus Stein gebauten Höhlen der Vorfahren eine Nacht übersteht, gehört zu den Auserwählten, egal ob jung oder alt.“ Adalis hob den Finger. „Und wer so stark ist, einen Wolf zu beherrschen, der muss von den Göttern auserkoren worden sein.“

„Wozu sollten sie einen Menschen ausersehen. Und von welchen Göttern redest du überhaupt?“

Adalis stutzte. „Bist du etwa einer von diesen Götzenanbetern?“ Forschend sah sie Khor an. „Na, ein Glück. Das ist nämlich alles dummes Zeug, glaub es mir. Die Götter haben nämlich keine Gestalt. Und darum brauchen sie hin und wieder einen Menschen, der an ihrer Statt tut, was zu tun ist.“

„Aber das dürfte diesen Menschen doch bewusst sein, dass ein Gott sie für irgendetwas ausgesucht hat.“

„Nicht unbedingt“, zwinkerte sie. „Die meisten bekommen davon überhaupt nichts mit. Sie leben einfach ihr Leben und wirken dabei im Sinne der Götter.“

Khor räusperte sich. „Also, ich kann dir versichern …“

„Wozu fährst du übers Meer?“, wurde er von Adalis unterbrochen. „Du bist ein erbärmlicher Geschäftsmann und ebenso wenig ein guter Seefahrer. Wozu lässt du dich also von Gwenaël in die Welt hinaus fahren. Wozu?“

„Ich will sie kennen lernen, die Welt. Ich will wissen, was wahr ist und was Hirngespinste oder Auswüchse des Aberglaubens sind. Ich will wissen woher wir kommen und wohin wir gehen.“

„Siehst du, sagte ich es doch! Du bist anders. Du bist ausersehen.“ Adalis zuckte mit den Schultern. „Für irgendetwas. Aber das wirst du schon noch herausfinden. Ich aber habe mich selbst ausersehen. Und du wirst mir raten können, wo du doch den Wolf hast und auch in Barremeer warst.“ Khor dachte an einen Scherz, doch Adalis machte ein durchaus ernstes Gesicht. „Wenn Tyrell nicht mehr ist, werde ich Hafenmeisterin. Und dann müssen mir die Damen aus den alten Familien, die glauben, für uns alle sprechen zu können, ebenfalls einen Platz bei ihren Zusammenkünften einräumen. Doch mein Platz, glaube es mir, wird bald höher als jener der anderen stehen. So oder so. Ich frage mich aber, was der Weg dorthin sein wird. Liebe oder Angst.“

„Oh, das klingt ja ganz so, als ob du diese Damen entweder für dich einnehmen oder abschlachten möchtest“, staunte Khor.

„So in etwa“, gab Adalis ungerührt zurück.

„Wie du weißt, kann Angst nur allzu leicht in Hass umschlagen. Und um sie wirksam zu erhalten, musst du sie auch ständig erneuern und verbreiten, was auf Dauer recht anstrengend sein dürfte. Denn du wirst schließlich auch die Angst vor jenen kennen lernen, denen du selbst Angst machst. Liebe! Liebe wäre also wohl auch hier die bessere Lösung. Wahre Liebe ist natürlich das Höchste, was es gibt. Aber man liebt nur, was einem auch guttut.“

„Na, sag das nicht!“, sagte Adalis mit einem hämischen Unterton. „Ich sage es dir ganz offen: Ihre Liebe ist mir egal. Ich will Macht über sie. Ich frage dich also: Wie bekomme ich Macht?“

„Zwei Tagesreisen von hier, in Kharrenac, trägt sich der Schmied mit denselben Überlegungen. Er hat Gwenaël jede Menge Zinn abgetauscht, um Waffen aus Bronze schmieden zu können. Die wird er dann gegen jene zu gebrauchen wissen, die seinen Vorstellungen vom richtigen Leben Widerstand leisten. Er wählte somit die Gewalt.“

„Keine gute Wahl“, murmelte Adalis. „Ungern würde ich Blut vergießen. Man wäscht es nicht so leicht ab, wie es fließt. Und an geflossenes Blut erinnern sich die Menschen immer lange.“

„Dann bleibt dir nur eines“, sagte Khor ernst. „Wenn weder Angst, noch Gewalt oder Liebe in Frage kommen, dann bleibt dir nur noch - Reichtum. Wenn du alles und jeden nach seinem Preis bezahlen kannst, besitzt du die Macht, dir alles und jeden leisten zu können. Denn nicht einmal ein Wolf würde die Hand beißen, die ihn füttert. Und außerdem: Die Menschen lieben den Reichtum. Selbst wenn sie neidisch auf dich sein sollten, im Grunde ihres Herzens bewundern sie dich doch dafür.“

„Wusste ich doch, dass man von dir eine vernünftige Auskunft bekommt“, lächelte Adalis. „Ich werde sie also mit Reichtum blenden und für mich einnehmen – und ich werde ihnen auch ein wenig guttun. Hin und wieder jedenfalls. Ich danke dir sehr, Khor. Und wie du siehst, ist dein Wissen auch zu etwas nütze.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verschwand Adalis wieder im Haus. Nur zu gern hätte Khor erfahren, wie ihr Leben weiterhin verlaufen würde und ob sie ihr Vorhaben auch würde durchsetzen können. Aber schon morgen, so überlegte er, wäre er bereits wieder unterwegs zum nächsten Hafen und zu anderen Menschen.

Khors Fahrten

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