Читать книгу Khors Fahrten - Wieland Barthelmess - Страница 5
Vetter Gurvan
ОглавлениеEs war, wie Gwenaël es angekündigt hatte: Nach einem ruhigen, faulen Tag auf See schwappte man gleichsam mit der Flut in den Hafen von Pemmpoll. Abseits der mit Baumstämmen verkleideten Anlegestelle ließ Gwenaël ankern. Sogleich kamen Ruderboote herbei, deren Führer sich anboten, die Besucher gegen eine kleine Gabe an Land zu bringen. Broc fing an, irgendetwas von Gastfreundschaft zu faseln, rückte aber dennoch einen klitzekleinen Bernstein heraus, den der Fährmann gierig in seinem Wams barg.
„Das war wohl eindeutig zu viel“, schimpfte Ottel. „Du verdirbst hier noch die Preise.“
Sie ließen sich übersetzen und warteten an Land, bis auch Gwenaël endlich das Schiff verlassen würde, ein wenig misstrauisch beäugt von den Einheimischen, denen der Rabe auf Brocs Schulter sowie der Wolfshund an Khors Seite nicht ganz geheuer waren. Doch Gwenaël ließ sich Zeit und sah zu, wie erst alle anderen von Bord gingen, mit Ausnahme von Elster und Rotfuchs.
„Wenn du noch ein wenig hinwartest“, rief einer der Fährmänner zu Gwenaël herüber, „wirst du noch durch den Schlamm waten müssen, um an Land zu kommen. Und glaub mir, schon manch einer ist darin rettungslos versunken.“
Endlich ging Gwenaël als Letzter von Bord und griff sich, kaum an Land, einen herumlungernden Halbwüchsigen. „Lauf schnell zum Haus von Gurvan und sag ihm, dass sein Lieblingsvetter soeben eingetroffen ist.“ Der Junge rannte so schnell er konnte los, wusste er doch, dass bei guten Nachrichten der Bote immer auch ein wenig freigiebiger entlohnt wurde. Gerade hatte sich das Schiff mit einem wohligen Ächzen im trockengefallenen Hafen auf die Backbordseite gelegt, als ein wild gestikulierender Mann samt Frau und Kindern angerannt kam.
„Gwenaël, du alte Wasserratte!“, rief der Mann, bei dem es sich zweifellos um Gurvan handeln musste, „Lang nicht mehr gesehen! Was treibt dich zu uns? Oder liegen wir nur auf deinem Weg?“
Khor wollte seinen Augen kaum trauen, war der Vetter doch wie Gwenaël aus dem Gesicht geschnitten. Er war lediglich etwas kleiner und deutlich rundlicher. Die beiden Männer begrüßten einander herzlich und auch vom Rest der Familie wurde Gwenaël geherzt und gedrückt. In einem fröhlich schnatternden Zug bewegte man sich schließlich quer durch die Ortschaft zu Gurvans Haus. Dort war schon alles in heller Aufregung, da überraschend Gäste kamen, auf die man eigentlich nicht vorbereitet war.
Um morgen den Tag nur nicht wieder mit Hering und Ei beginnen zu müssen, schlugen sich Sarti und Khor beim Abendessen die Mägen so voll es nur ging. Nun, Ottel tat dies sowieso immer und sogar Broc vergaß die ihm angebracht erscheinende Zurückhaltung und langte kräftig zu, woran der Rabe auf seiner Schulter tüchtig teilhaben durfte. Aber auch der Wolfshund kam nicht zu kurz und wurde mit etlichen Bissen gefüttert, die er genüsslich annahm, egal, ob es Fisch, Fleisch oder sogar Gemüse war. Kamen die Leckerbissen doch allesamt aus den Schüsseln der Menschen und waren allein deshalb schon begehrt. Man hatte sogar Musiker herbeigerufen, die wehmütige Weisen spielten, die Khor an die Lieder in Gwenaëls Heimat erinnerten. Man erzählte einander, was sich in den Jahren seit der letzten Begegnung zugetragen hatte und forderte schließlich Broc auf, von seiner Heimat zu erzählen.
„Natürlich ist es das schönste Land der Welt“, hob er lächelnd an. „Ein jeder denkt nun einmal so über seine Heimat. Bei uns gibt es überall dichte Mischwälder und von den Bäumen tropft der Honig. Wir roden sie, bauen mit dem Holz Häuser und pflanzen dort, wo sie einst wuchsen, Getreide an. Die Erde ist fett und schwarz und es regnet genügend, um einträgliche Ernten einzufahren. Unser Fluss, die Uneströdu, verbindet uns mit den Nachbarn. Sie fließt direkt an unserem Dorf vorbei, das zu Füßen des Mittelberges liegt. Dort oben leben wir, schauen übers Land und versuchen, die Weisheiten der Welt zu erforschen.“
„Weisheiten …“, wiederholte Gurvan ungläubig. „Welche Weisheiten denn?“
„Die Frage nach den ersten und letzten Dingen“, entgegnete Broc. „Woher wir kommen, wohin wir gehen.“
„Also seid ihr so etwas wie Magier oder Schamanen?“ Gurvan wurde auf einmal sehr aufmerksam.
„Wir sind Priester des Wissens“, sagte Broc stolz.
„Ach so“, Gurvan klang enttäuscht. „Dann kennt ihr keinen Zauber und könnt auch niemanden verhexen …“
„Ich bedauere“, meinte Broc verbindlich, „genau das können wir nicht.“
„Ich bin Fischer, wie ihr wisst. Wie fast jeder, der hier lebt. Meine Frau und die Kinder fertigen Netze. Ich hatte so sehr gehofft, dass ihr mir einen guten Fang herbeizaubern könnt. Oder mir vielleicht auch irgendeinen kleinen Fluch nennt, den man über ein anderes Fischerboot sprechen kann, damit es einem nicht die Fische vor der Nase weg fängt.“ Forschend blickte Gurvan seine Gäste an. „Nein? Wie schade. So lasst euch dennoch euer Mahl schmecken.“
Es gab Fisch. Khor wollte fast schon glauben es sei Fleisch, denn derart große Fische, so dass man richtige Scheiben aus ihnen herausschneiden konnte, hatte er bislang nicht gekannt. Wie auf Gwenaëls Insel auch liebte man hier Muscheln, die man auf die unterschiedlichsten Arten zubereitete. Khor aß sie so gerne, dass er jede einzelne Zubereitungsart ausprobierte und anschließend so satt war, dass er kaum noch etwas herunterbrachte. Als man dann noch riesige rote Krebse hereinbrachte, erschrak er sich genauso wie Sarti. Wie oft hatte er als Kind in der Uneströdu Flusskrebse gefangen. Um seine vielköpfige Familie satt zu bekommen, hatte er den ganzen Tag im Wasser stehen müssen. Von diesen roten Ungeheuern hier genügte jedoch schon ein einziges, um einen hungrigen Mann halbwegs satt zu bekommen. Dazu reichte man eine stark gesalzene Tunke aus mit Leinöl verquirltem Ei, der man fein gehackten Bärlauch beigemischt hatte. Obwohl Khor alles andere als noch hungrig war, konnte er sich nicht bremsen und stopfte sich wieder und wieder einen Happen in den Mund.
Als er schließlich auf dem großzügigen Strohbett lag, das man ihm zugewiesen hatte, konnte er sich kaum noch rühren und hoffte auf eine Nacht ohne Albdrücken und Bauchzwacken. Man hatte ihm sogar gestattet, den Wolfshund in seine Schlafnische mitzunehmen, da man ihn für eine fremdartige Hunderasse aus dem fernen Land hielt, wo der Honig von den Bäumen tropfte.
Eigentlich war es nahezu unmöglich, in Gurvans Haus zu verschlafen, denn mit den ersten Gesängen der Amseln begann es dort, überaus lebhaft zu werden. Es wurde mit Schüsseln geklappert, Kinder plärrten und Mägde riefen sich gegenseitig Anweisungen zu. Dennoch war es an diesem Morgen Ottel, der Khor wecken musste. Zärtlich strich er dem Freund über den Kopf. „Es gibt sauere Milch mit Honig und Nüssen“, lockte er. Doch Khor ärgerte sich, dass er heute als Letzter aufgewacht war. „Was stinkt hier denn so erbärmlich?“, raunzte er Ottel an, als wäre er der Verursacher.
„Das ist der Schlamm im trocken gefallenen Hafenbecken.“
Erst als er mit den anderen seine Sauermilch aß und der treue Ottel mit keinem Wort erwähnt hatte, dass endlich einmal nicht wieder er zum Schläfertor geworden war, besserte sich Khors Laune. Gurvan, der heute zu einem Fischzug aufbrechen wollte, trieb seine Gäste zur Eile an, damit sie auch das Einlaufen der Flut miterleben konnten. Schnell waren sie zum Hafen geeilt, wo sie just in dem Augenblick ankamen, als gerade das Wasser stieg und den stinkenden Schlamm bedeckte. Glücklicherweise hatte ein gewogener Wind den Gestank bald weggeblasen. Plötzlich ruckelte und wackelte Gwenaëls Schiff, richtete sich langsam auf und schwamm schließlich wieder stolz und aufrecht auf dem einlaufenden Wasser. Gwenaël hieß Elster und Rotfuchs, das Schiff anzulanden und schon begann er, das Deck in einen üppigen Marktstand zu verwandeln. Besonders den karierten Stoffen räumte er umfangreichen Platz ein, während Ton- und Metallwaren nur mit einigen wenigen Musterbeispielen vertreten waren. Fein säuberlich zusammengelegte Fischernetze wurden nun an Bord gebracht und zum Austausch Karostoffe fortgetragen, gelegentlich auch einmal ein Bronzedolch oder eine irdene Schüssel.
Gwenaël grinste zufrieden, als er schließlich seine Waren wieder wegpackte. Gurvan ließ es sich nicht nehmen, dem Vetter etwas Proviant mitzugeben: Soeben erst aus dem Ofen genommenes Brot und eine nicht eben kleine Schale mit Deckel. Darin befanden sich, wie Gwenaël erklärte, die Reste des gestrigen Fischessens, die man über Nacht in eine Tunke aus vergorenem Apfelwein, Leinöl und Salz eingelegt hatte. Allerdings nicht, ohne noch die eine oder andere leckere Überraschung hinzuzufügen.
Sarti hielt sich krampfhaft an der Reling fest und versuchte, den Gedanken an den Inhalt der Schüssel nicht seine Sinne überwältigen zu lassen. Angestrengt starrte er in die Ferne. Alle waren sie schließlich froh, wieder in See stechen zu können.
„Dass die Landgeborenen aber auch immer so viel plappern müssen“, seufzte Gwenaël. „Solch ein Verwandtenbesuch ist immer anstrengend.“
„Aber doch auch einträglich“, sagte Broc und klopfte ihm scherzhaft auf die Schulter.
„Na, geht so“, nörgelte Gwenaël. „Für die Fischernetze werde ich in Gadir prächtige Dinge tauschen können. Aber eben erst in Gadir. Und auch nur, wenn wir es überhaupt bis dorthin schaffen. Aber so ist das nun einmal mit Verwandtenbesuchen: Wirklich einträglich sind sie nie, weil eben keiner einen anderen aus der Sippe übervorteilen darf.“
„Na, aber so ein bisschen bringen sie doch trotzdem ein“, neckte Broc.
„Ach, sonst wär’s ja auch kein wirklich schönes Geschäft!“ Es war offensichtlich, dass Gwenaël von dem Gedanken gequält wurde, dass es manchmal auch schlechte Geschäfte gab. „Was meinst du, was Gurvan mit den Karostoffen anstellt? Jedenfalls mit jenen, die ihm seine Frau nicht abquatscht. Ha! Die Priester an den Heiligtümern der Halbinsel geben ihm gut und gerne das Doppelte dafür.“
Broc räusperte sich verlegen, denn er hatte den Gewinn aus diesem Handel eindeutig auf Gwenaëls Seite vermutet.
„Aber so soll es ja auch sein“, lächelte der und winkte seinen Verwandten an Land herzlich zum Abschied. „Dafür werde ich dann in Gadir reich belohnt werden.“