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Tante Yuna
ОглавлениеDer Tag verflog über all den Neuigkeiten, die Broc und Sarti berichteten. Sie saßen mit Khor, Ottel und Gwenaël auf Deck beisammen und erzählten, was sie in der letzten Nacht erfahren hatten. Vor Tausenden von Jahren hatte man hier ebenfalls riesige Steine aufgerichtet. Auch die Sitte der Hügelgräber kannte man. Der Priester hatte von langen Steinalleen gesprochen, an denen sie bald vorbeikommen würden. Gwenaël nickte, kannte er den Ort doch nur zu gut, da dort ebenfalls ein entfernter Verwandter von ihm lebte.
Später am Nachmittag stand Gwenaël des Öfteren auf, ging zum Bug, spähte von dort voraus, ging nach hinten zum Steuermann und sprach mit ihm. Als sich dies einige Male, in immer kürzeren Abständen wiederholt hatte, fragte ihn Khor, ob denn auch alles seinen Vorstellungen entsprechend abliefe.
„Durchaus“, zwinkerte Gwenaël. „Die Wasser des Meeres tragen uns, wohin wir wollen. Und da der Wind uns ebenfalls gewogen ist, sind wir bald da.“ Und an alle gewandt, fuhr er mit lauter Stimme fort. „Hört! Das also ist der Vers für unseren nächsten Hafen.“ Gwenaël stellte sich in Pose.
„Rote Felsen, grünes Land,
blauer Himmel, helles Band,
grüßen in der Wintersonne Tod.
Rechts sieht es so freundlich aus,
links ist’s besser. Geradeaus!
Folget nur dem Lauf des Rinnsals.
Fahr hindurch und ohne Not
wirst du dann zum Herrn des Schicksals.“
Rote Felsen gab es reichlich, überlegte Khor, grünes Land und blauen Himmel ebenfalls. Was mochte mit dem hellen Band gemeint sein, das in der Wintersonne Tod grüßt? Es musste etwas sein, das genau auf den Sonnenuntergang am Tag der Wintersonnenwende ausgerichtet war. Khor hielt den Atem an. Mitten auf einer steilen Klippe, die wie eine Halbinsel ins Meer hinausragte, sah er im gelben Licht der Abendsonne ein helles Band leuchten.
„Barremeer“, sagte Gwenaël ehrfürchtig. „Vor Jahrtausenden hat man es aus hellen Steinen errichtet.“
„Sind dies etwa schon die weißen Berge“, fragte Khor, „die einst von Menschen erbaut wurden und von denen du uns bereits erzählt hast?“
„Nein“, lachte Gwenaël, „die sind noch ganz weit weg. Und außerdem sind sie noch sehr viel größer! Aber auch dieser Berg wurde einst von Menschenhand errichtet, Stein für Stein. Keiner weiß so recht, warum. Jeder hat da so seine eigene Erklärung. Heutzutage wird er allerdings nur noch für Mannbarkeitsriten genutzt. Wer in einer seiner Kammern eine Nacht übersteht, bekommt als Beweis dafür solch ein Amulett“, Gwenaël nestelte etwas unter seinem Gewand hervor, „und darf sich anschließend als Mann fühlen.“
„Aha“, staunte Khor, „dort hast du offenbar auch deine Mannbarkeit erreicht.“
„Ich war zweimal sieben Jahre alt damals und habe wirklich Angst gehabt in jener Nacht …“, gestand Gwenaël.
Wissbegierig unterbrach Sarti Gwenaëls Erinnerungen. „Und welches sind deine Erklärungen, warum man in Vorzeiten den Bau errichtet hat“, fragte Sarti.
„Nun“, Gwenaël sammelte sich. „Seit jeher wird in meiner Familie erzählt, dass irgendwo weit über dem Meer vor Jahrhunderten die größten Anführer der Seegeborenen bestattet worden waren. Die Seegeborenen besaßen ja nie Land, ihr Reich war immer nur das Meer, sie waren ständig unterwegs. Dort, auf dem Meer, lebten sie und dort starben sie auch. An Land lebten nur die Landgeborenen. Das waren jene, die nicht mehr länger unterwegs sein wollten. Schließlich erkannten auch die Seegeborenen, dass sie nur überleben konnten, wenn sie ihr Nomadentum auf dem Wasser aufgaben und ebenfalls, zumindest zeitweise, sesshaft wurden. Deswegen ließen sich ihre Führer auf den Gipfeln von Halbinseln bestatten. Dazu errichtete ihnen das Volk einen künstlichen Berg, der immer mehr vergrößert wurde bis er schließlich die heutigen Ausmaße annahm. Die Gräber sind längst schon ausgeraubt und leer und bieten heute nurmehr den Schauplatz für die Gruselabenteuer Halbwüchsiger. Wie bereits gesagt: Sie bestehen dort eine Nacht der Furcht und dürfen sich anschließend Männer nennen.“
„Gruselabenteuer?“ Ottel war ganz Ohr.
„Nun, man wird von den Schamanen in eine der Grabhöhlen gesteckt und muss die ganze Nacht dort verbringen.“ Gwenaël schüttelte den Kopf. „Nur wer den Mut hat, auch eine ganze Nacht dort auszuhalten, hat die Mannbarkeitsprüfung bestanden.“
„Und was erlebt man dort?“, fragte Ottel gespannt. „Gespenster, Geister oder auch Dämonen?“
„All das“, entgegnete Gwenaël, „und doch nichts von alledem. Es ist allein deine eigene Einbildungskraft, welche die Schrecken gebiert. Die Grabhöhlen sind leer, bis auf ein paar Ritzzeichnungen an den Steinplatten. Aber es ist deine Seele, die dich bald glauben lässt, von Geistern umringt zu sein. Manch einer hält das nicht aus und verlässt die Höhle vor der Zeit. Und manch einem wurde dabei der Geist vollends verwirrt. Der Wind fängt sich dort in den Steinen und macht die seltsamsten Geräusche. Tante Yuna hatte mich zwar auf das Gesurre, Gezische und Gejaule vorbereitet, aber dennoch glaubte ich, die Nacht nicht überstehen zu können. Doch ich war damals ja auch gerade zweimal sieben Jahre alt.“
„Wie geht es in deinem Vers weiter?“, wollte Sarti wissen, der misstrauisch die nun links und rechts des Schiffes vorbeiziehenden schroffen Felseninseln beäugte.
„Links von der Halbinsel ist der richtige Weg, auch wenn es rechts davon sehr viel ungefährlicher und einladender aussehen mag. Bei Flut gelangt man zu einem kleinen Hafenbecken, das tief genug ist, um ein Schiff auch bei Ebbe aufnehmen zu können, wenngleich sonst nur noch ein kleines Rinnsal zum offenen Meer führt.“
„Und was bedeutet der Schluss des Reims, nämlich dass wir zu Herren des Schicksals werden“, wollte Sarti wissen.
Gwenaël zuckte mit den Schultern. „Die Altvorderen glaubten, dass es bestimmte Orte gäbe, an denen sich so etwas wie Zentren der Lebensenergie befinden. Der Große Steinkreis auf meiner Insel gehört ebenso dazu, wie Barremeer, Kharrn und Oisena, wo wir morgen und übermorgen anlanden werden. Wer jedes dieser Zentren besucht und dort die nötigen Riten vollzieht, gehört zu den unbezwingbaren Seegeborenen.“
Durch das klare Wasser konnte man deutlich sehen, dass sie eine Rinne befuhren, die direkt zu einer kleinen Bucht führte, an dessen Ufer eine Ansiedlung lag. Der Wind stand günstig und blies aus Westen, so dass sie trotz des langsam abfließenden Wassers, das ihnen strudelnd entgegenkam und sie wieder aufs Meer zurück zu drücken drohte, immer weiter landeinwärts die Rinne entlang fahren konnten. Auch hier befand sich eine Schwelle an der Hafeneinfahrt, die sie beim gegenwärtigen Wasserstand gerade noch überqueren konnten. Es knirschte und scharrte fürchterlich, so dass nicht nur Sarti angst und bange wurde. Schließlich lag Gwenaëls Schiff stolz inmitten eines kleinen Sees, den die abziehende Flut zurückgelassen hatte. Schnell wurde das Schiff an einer hölzernen Landungsbrücke festgemacht.
„Wesentlich tiefer wird das Wasser nicht fallen“, sagte Gwenaël zufrieden und deutete auf die soeben erst überquerte Schwelle, die inzwischen bereits aus dem Wasser ragte.
„Welch seltener Besuch!“, rief eine Frauenstimme vom Ufer herüber. „Zuerst wollte ich meinen Augen ja nicht recht trauen. Meines Bruders Sohn! Zugenommen hast du an Alter, Weisheit und Stärke, Gwenaël.“ Die Stimme lachte vergnügt. „Wie schön, dich wieder zu sehen, mein Junge!“ Eine steinalte Frau, weißhaarig und auf einen Stock gestützt, winkte freundlich herüber. „Sei mein Gast, Gwenaël! Und auch deine Begleiter sind mir herzlich willkommen.“
Die nicht übermäßig große Ansiedlung wurde von einem Haus beherrscht, das sich schnell als jenes von Tante Yuna herausstellte. Es war umgeben von kleineren Häusern und Hütten, in denen einige Bauern und Handwerker lebten. Gwenaël überreichte seiner Tante eine Bahn besonders farbenfroh karierten Stoffes, den Coira selbst gewebt hatte und legte noch einen hübschen dunkelgelben Bernstein dazu, der in der Abendsonne fast rötlich schimmerte.
„Deine Gastgeschenke sind jedes Mal so großzügig“, lächelte Yuna und gab Gwenaël einen herzlichen Kuss auf die Wange. „Wie lange mag es her sein, dass du zum letzten Mal hier warst? Ein halbes Dutzend Jahre? Tankhir wird sich freuen, Dich zu sehen. Er mochte dich von all seinen angeheirateten Verwandten immer am meisten.“ Und mit Blick auf den Wolfshund, der sogleich schnüffelnd die Gegend erkundete, sowie auf den Raben, der von Brocs Schulter aus den Namen seines Herrn lauthals verkündete, meinte sie: „Tankhir wird sich freuen, dass du Freunde hast, die Wölfe und Raben nicht als Schädlinge sehen, die es zu bekämpfen gilt.“
„Broc, Broc, Broc“, krächzte der Rabe.
„Was soll das Geschrei?“, ertönte eine Stimme aus dem Inneren des Hauses. Und bevor sie es erreicht hatten, erschien ein in lange weiße Gewänder gehüllter alter Mann mit ebensolchen, weit über die Schultern fallenden, weißen Haaren und einem sorgfältig geflochtenen, ebenfalls weißen Bart in der Tür. Das musste Tankhir sein, Tante Yunas Mann.
Sie wurden aufs Herzlichste willkommen geheißen und zunächst einmal mit einem erfrischenden Trunk bewirtet. Yuna und Tankhir bedauerten sehr, dass sie in der Nacht beschäftigt sein würden. Denn elf junge Männer aus der Umgebung hatten sich angekündigt, um die Mannbarkeitsprobe in einer der Kammern des steinernen Berges zu bestehen. Schnell bereiteten ihre Mägde ein schlichtes, schmackhaftes Mahl, während Yuna und Tankhir sich mit ihrem Neffen sowie seinen Freunden angeregt unterhielten. Insbesondere Broc, in dem sie sogleich den Priester erkannt hatten, löcherten sie mit Fragen nach seiner Heimat und dem Glauben, dem die Menschen dort anhingen. Erstaunt stellten sie schließlich fest, dass sie mehr Gemeinsamkeiten hatten, als zunächst angenommen. Mit vor Begeisterung hochroten Köpfen sprachen sie über Wissens- und Glaubensdinge und bewunderten insbesondere Sarti als schier unerschöpflichen Quell des Wissens.
Als die Sonne versank, meinten Yuna und Tankhir, dass es an der Zeit sei, die Klippe zu erklimmen, um die elf jungen Männer auf ihre Prüfung in den Grabkammern vorzubereiten. Kurz entschlossen fragte Broc, ob er und seine Freunde mit ihnen kommen könnten. Begeistert sagten Yuna und Tankhir zu, freuten sie sich doch über das Interesse der Fremden.
Der Weg war steil und steinig, so dass Broc, Yuna und Tankhir bald zurückfielen. Sarti versuchte sein Bestes, um mit Khor und Ottel mitzuhalten, dennoch waren sie die Ersten, die das Gipfelplateau erreichten. Dort stand ein Haufen zitternder Knaben, die von ihren Familien begleitet wurden. Als sie den schwer bewaffneten schwarzen Riesen und seinen blonden Begleiter mit dem Wolfshund plötzlich auftauchen sahen, erschraken sie sich und liefen zu ihren Eltern. Schienen sie doch zu fürchten, augenblicklich vom Schwert des Riesen zerhackt oder vom Wolf zerrissen zu werden. Als dann noch Sarti mit seinem feuerroten Haarschopf und den verdrehten Bewegungen angehumpelt kam, glaubten sie einem Kobold zu begegnen. Erst als Yuna und Tankhir eingetroffen waren, beruhigten sie sich wieder, wenngleich der krächzende Rabe auf Brocs Schulter ihnen ebenfalls nicht ganz geheuer war.
Sobald die Sonne das Meer im äußersten Westen berührte, bereitete Tankhir seine Schützlinge auf die ihnen bevorstehende Nacht vor. Man betete zur Sonne, nahm rituelle Speisungen vor und schließlich wurde jedem der Halbwüchsigen ein Schluck eines Trankes verabreicht, von dem Khor annahm, dass er dem Mjördl seiner Heimat ähnlich sei. Tankhir ermahnte die Buben, auf jeden Fall in ihren Höhlen zu bleiben, bis die Sonne des neuen Tages gekommen wäre, um sie zu begrüßen.
Der Ort an dem die Grabhöhlen errichtet worden waren, galt zwar als Heiligtum, da dort seit Anbeginn der Zeit im Herbst die Vögel aus allen Himmelsrichtungen zusammenkamen, um von dort aus zu ihrem Zug in den Süden aufzubrechen. Sarti wusste aufgeregt zu berichten, dass dies ebenso auf die Ebene zutraf, wo man auf Gwenaëls Insel den Großen Steinkreis errichtet hatte oder wo man in ihrer Heimat, ganz in der Nähe des Mittelberges, in alter Zeit den Großen Holzkreis von Gosecke erbaut hatte, der heute freilich völlig heruntergekommen, nur noch als Unterschlupf für Herumtreiber und Mjördl-Trinker diente. Als sie vor Jahr und Tag vom Mittelberg aufgebrochen waren, hatten sie Gosecke tunlichst gemieden, um sich den erbärmlichen Anblick zu ersparen.
„Wer vor Sonnenaufgang seine Höhle verlässt“, ermahnte Tankhir die Prüflinge, „muss ein weiteres Jahr warten, bis er abermals einen Versuch unternehmen darf.“ Wer dann wieder scheitern sollte, würde endgültig sein Leben ohne Mannbarkeitsprüfung führen müssen. Einer der Buben, der Khor aufgefallen war, weil er kreidebleich wie Espenlaub zitterte, hielt sich ängstlich an seinen Eltern fest. „Ich kann das nicht“, schluchzte er unter Tränen, woraufhin Tarkhir ihn tröstete und meinte, dass es vielleicht besser für ihn sei, noch ein weiteres Jahr zu warten. „Noch hast du dich der Prüfung nicht gestellt. Du hast sie also auch nicht abgebrochen. Wie alt bist du denn, mein Sohn?“
„Er wird im Sommer zweimal sieben Jahre alt“, entgegnete der Vater des Jungen.
„Ach, dann ist es sowieso noch ein wenig zu früh“, versuchte Tankhir, den Buben aufzuheitern. „Warte ruhig noch ein weiteres Jahr. Es ist keine Schande und es ist sicherlich vernünftiger so.“
Und nachdem nun eine der elf Höhlen unbenutzt bleiben würde, fragte Tankhir seine Gäste, ob sie sich nicht ebenfalls der Prüfung unterziehen wollten. „Nun, ist da einer unter euch, der seine Mannbarkeit noch nicht unter Beweis gestellt hat? Gwenaël hat vor Jahren schon bewiesen, dass er eine Nacht mit Dämonen und Geistern zu bestehen weiß. Broc ist eindeutig zu alt, ebenso wie Ottel, der außerdem sowieso als großer Krieger zu erkennen ist. Aber wie sieht es mit den beiden jüngeren Herren aus?“
Sarti war sogleich begeistert. Vielleicht würde es ihm hier endlich einmal gelingen, irgendwelchen dunklen Wesen aus der Schattenwelt zu begegnen, von denen er bislang nur gehört hatte. Noch nie hatte er welche gesehen und wollte doch so gerne mehr über sie wissen. Khor hingegen meinte, lieber darauf verzichten zu wollen. Denn als Vater, der er nun einmal war, müsste er seine Mannbarkeit ja wohl kaum unter Beweis stellen.
Tankhir lachte. „Die Vaterschaft hat mit Mannbarkeit leider gar nichts zu tun. Auch ein Feigling kann Kinder zeugen.“ Nur wer Kinder schließlich auch großgezogen hat, könne auf diesen Beweis seiner Mannbarkeit verzichten.
Ein weiterer Junge meinte plötzlich, dass er wie sein Freund ebenfalls noch ein weiteres Jahr abwarten wolle. Tankhir sah Khor fragend an.
„Nun gut“, sagte der, „dann werde ich die Nacht in solch einer kalten dunklen Höhle verbringen und euren Geistern und Dämonen trotzen.“
So bekamen also auch Sarti und Khor einen kleinen Schluck des geheimnisvollen Tranks bevor sie auf allen Vieren in jeweils eine der verlassenen Grabkammern krochen. Augenblicklich spürte Khor, wie die Luft im engen Zugang kühler wurde. Er war, wie das Äußere des Tumulus, aus Bruchsteinen aufgeschichtet, die man zueinander passend ausgesucht hatte, so dass ein stabiles, wenn auch unregelmäßiges Mauerwerk ohne jegliche Hohlräume entstanden war. Kaum hatte der Wolfshund Khor im dunklen Schlund verschwinden sehen, als auch er sich dorthin aufmachte. Verständnislos sah er Khor an, der ihn zu verscheuchen suchte. „Ksch … Du hast hier nichts verloren. Du musst schön brav draußen warten.“ Offenbar verstand der Wolfshund, dass er sich vor dem Eingang aufhalten sollte. Doch wollte er es nicht ohne weiteres hinnehmen, seinen Menschen unbeschützt in einem dunklen Loch verschwinden zu sehen. Erst als auch Ottel rief und lockte, kroch der Wolfshund mit eingeklemmter Rute wieder nach draußen.
„Leg dich hin und bleib wo du bist!“, herrschte Ottel ihn mit strenger Miene an, was der Wolfshund schließlich auch widerstrebend tat, allerdings nicht, ohne ständig darauf zu achten, ob Ottel nicht doch noch seine Meinung ändern würde. Unablässig tanzten seine Ohren hin und her. Kam vielleicht ein Rufen aus der Höhle? Oder vielleicht würde Ottel ihn ja auffordern, nach Khor zu sehen?
Als schließlich alle im letzten Licht des Tages die Halbinsel verließen, sah der Wolfshund ihnen erstaunt nach. Wie konnten sie nur Khor und Sarti allein zurücklassen, ohne sich um deren Wohlergehen zu kümmern? Ganz nah legte er sich nun neben den Eingang, so dass seine unablässig sich hin und her bewegende Nase auch Khors Witterung wahrnehmen konnte.
Khor hatte es sich so gut es ging in der Höhle gemütlich gemacht. Eigentlich hatte er gehofft, irgendeine Wirkung des verabreichten Tranks zu verspüren. Doch ihm schien alles wie immer zu sein. Mit dem letzten Rest des Tageslichts hatte er gerade noch sehen können, dass das Innere der Grabkammer aus riesigen Steinplatten erbaut worden war, in die man zum Teil uralte geheime Zeichen geritzt hatte. Was sie bedeuteten, wusste niemand mehr. Sie waren alt, uralt, und einstmals von Menschen gemacht, die völlig anders dachten und wohl auch völlig anders lebten. Die ganze Kammer, einschließlich ihres spitzen Gewölbes, erschien Khor jedoch auffallend sauber. Nirgendwo waren Spinnweben, keine Fledermäuse, kein Mäusekot, nicht einmal Asseln oder Tausendfüßler hatte er im Zwielicht ausmachen können. Nichts, wirklich nichts schien hier zu leben. Es war ein Ort, an dem alles Leben abwesend war.
Als er hörte, wie sich die Stimmen von Ottel und Broc, von Gwenaël und allen anderen langsam entfernten, überkam Khor dann schließlich doch ein beklemmendes Gefühl. Es fühlte sich an, als sei er lebendig begraben, eingeschlossen in einen Berg aus Steinen, während draußen das Leben ohne ihn weiterging. Als dann auch das letzte Halbdunkel gewichen war und in der Folge nicht einmal mehr das Schreien der Möwen in sein steinernes Verlies drang, beschlich Khor das Gefühl unendlichen Verlassenseins.
Er war allein, in tiefster, kalter Dunkelheit, begraben unter klammen Steinen. Mit der Zeit verlor er das Gefühl für Oben und Unten. Alles war gleich, denn er schien nur vom Nichts umgeben zu sein. Khor rief sich in Erinnerung, dass ein riesiger Berg aus Steinen sich über ihm auftürmte. Er wusste es und er sagte es sich immer wieder. Dennoch fühlte er nur das endlose, unbegreifliche Nichts. Ihm war, als würde er schweben und gleichsam in einen schwarzen Nachthimmel hineintreiben, an dem weder Sterne noch Mond leuchteten. So musste der Tod sein, das Nichts, endlos und schwarz. Ja, der Tod war das Nichts. Und somit war er auch keineswegs etwas, das man fürchten musste. Doch Khor war überzeugt, dass es aus jedem Tod ein Erwachen gab. Alles in der Welt war ein endloser Kreislauf. Jahr um Jahr, seit Anbeginn der Zeit, kam nach dem Winter der Frühling und nach dem Sommer der Herbst. Wie viel Angst hatten die Menschen dereinst gehabt, weil sie fürchteten, dass die Sonne nicht mehr wiederkehren könnte und sie auf alle Zeit verschwunden blieb. Noch früher hatten Khors Vorfahren den Mond verehrt, den zuverlässigen Gefährten, den die Frauen noch immer als ihren Zeitgeber betrachteten. Und nachdem sie gelernt hatten, die regelmäßige Wiederkunft von Sonne und Mond zu berechnen, vertrauten die Menschen auf ihr Wissen und verloren ihre Angst, dass einer von beiden sie für immer verlassen könnte. Nur der Tod war den Menschen von Anfang an ein Geheimnis geblieben. Denn noch nie war jemand zurückgekehrt, um ihnen die Angst zu nehmen vor dem, was sie dort erwartete. Khor ahnte es nun: Es war das Nichts. Er wusste, dass es eine Seele gab, die den Körper bewohnte. Denn wie oft hatte er schon festgestellt, dass ein Mensch mit dem Augenblick des Todes vollkommen verändert aussah. Selbst sein Großvater war ihm fremd geworden und nur noch eine seelenlose Hülle, als Khor damals an seine Bahre getreten war. Vielleicht war seine eigene Seele im Augenblick ebenfalls körperlos?
Khor drückte den Nagel seines Daumens fest ins Fleisch. Nein! Er lebte! Er fühlte Schmerz und er konnte sich selbst wahrnehmen. Seinen Körper, seinen Herzschlag sowie ein warmes Gefühl auf der Brust, das von Fenhilds Amulett herzurühren schien und die klamme Kälte halbwegs erträglich machte. Sonst nahm er nichts weiter von der Außenwelt wahr, als einen dumpfen, modrigen Geruch, der nicht einmal unangenehm war. Khor ließ sich furchtlos treiben und vertraute sich den ewigen Steinen an, deren unbarmherzige Härte und Kälte er fühlte.
Khor war sich gar nicht einmal sicher, ob er noch wachte oder bereits eingeschlafen war, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Er hätte noch nicht einmal sagen können, was es war oder wie es geklungen hatte, so leise war es. Aber es war da. Und wieder! Ein Hauch nur, gerade einmal nicht mehr Nichts. Je mehr Khor lauschte, desto mehr schien er wahrzunehmen. Er bildete sich sogar ein, die Möwen wieder schreien zu hören. Doch natürlich wusste er, dass es längst schon finstere Nacht sein musste, zu der keine Möwe mehr umherflog.
Je mehr Khor also lauschte, desto klarer wurde ihm, dass er es war, der dem Nichts eine Gestalt gab. Ein Knistern, ein Heulen. Khor dachte an das kaum wahrnehmbare Geräusch, das die Nase des Wolfshundes machte, wenn er nachts aufstand, um ganz vorsichtig an Khor zu schnüffeln, ob es ihm auch gut ginge. Und er dachte an den Atem von Yasemin. Vier Jahre war es inzwischen her, seit er seinen Sohn gezeugt hatte. Als sie damals nachher nah und warm beieinander lagen, glücklich, weil es nichts mehr gegeben hätte, das sie sich noch hätten wünschen können, hatte er ihren Atem gehört: Ganz leise, wie eine weit entfernte, kaum noch wahrnehmbare Brandung. Oder war es doch das Meer, das er durch den steinernen Berg hindurch hörte? War es Musik, die in der Ferne erklang? Krächzte da nicht Brocs Rabe immer wieder dessen Namen? Ihm war, als zischte und raunte es auf einmal in einem fort.
Nicht einmal die Seele erträgt das Nichts, dachte er. Sie lässt den Körper Wahrnehmungen erfinden, nur um das Gefühl zu haben, nicht tot zu sein; nur, um doch noch dem Nichts zu entrinnen. Khor lächelte und legte seine Hand auf Fenhilds Amulett, das ihn wärmte. Er zog es hervor und genoss seinen eigenartigen Geruch. Er lächelte in Yasemins Gesicht, das er so deutlich vor sich sah, wie schon seit langem nicht mehr. Er sah in das rote Gesicht seiner Mutter, in Ottels liebevolle Augen, Fenhild zwinkerte ihm zu und Broc lachte ihn stolz an. Seine Großmutter bimmelte mit ihren Glöckchen und er erinnerte sich an das Gefühl, wenn seine kleine Schwester Perachta ihre Hand ganz sanft in die Seine schob. Wie reich er doch war, dachte Khor. All dies gehörte ihm, es waren jene Augenblicke seines Lebens in denen er vollkommen glücklich gewesen war. Sie lebten in ihm fort und zauberten ihm noch immer ein Lächeln aufs Gesicht. Sie nährten ihn mit Mut und Kraft und nichts und niemand konnte sie ihm nehmen.
Plötzlich hörte Khor etwas, das er weder seinem Körper noch seiner Seele zuschreiben konnte. Es waren Schreie. Zunächst gedämpft, doch schnell immer lauter werdend. Offenbar war einer der Buben entgegen der Anordnung Tankhirs aus seiner Gruft gekrochen. Er schrie fürchterlich.
„Sie fressen mich! Sie fressen mich bei lebendigem Leibe auf!“
Khor hörte, wie der Junge in hilflosem Grauen davonlief. Seine immer leiser werdende Stimme verriet es deutlich. Es dauerte nicht lange ‑ gerade einmal, dass wieder Stille eingekehrt war ‑, bis der nächste jammernd und weinend aus einer anderen Gruft gekrochen kam. „Ich sterbe dort drinnen!“ konnte Khor ihn gerade noch rufen hören, bis sich auch seine Stimme unter unbändigem Schluchzen in der Ferne verlor.
Dann herrschte wieder Grabesstille. Khor meinte noch, das Schnuppern des Wolfshundes gehört zu haben. Dabei war es ihm einerlei, ob er sich dies eingebildet hatte oder nicht. Denn er wusste nur zu gut, dass sein Freund nicht weit von ihm zuverlässig wartete. Irgendwann einmal ließ Khor es zu, dass ihm die Augen zufielen. Er träumte so lebhaft wie schon lange nicht mehr. Schwerelos flog er durchs Schwarz und bemerkte erst, als er nach unten sah, dass er hoch über dem Land schwebte. Winzig klein schwamm das Schiff auf dem Gezeitentümpel und er konnte gerade noch erkennen, dass in Yunas und Tankhirs Haus Licht brannte. Je höher er in den schwarzen Himmel stieg, desto mehr verschwand das Land im Dunkel, bis er nichts anderes mehr wahrnahm als das Schwarz, das Nichts, die Abwesenheit aller Sinneseindrücke.
Seine Träume hatte Khor allesamt vergessen, als er jäh auffuhr. War dies nicht abermals ein Schrei gewesen? Oder war es nur ein weiterer Traum? Noch einmal hörte er denselben markerschütternden Schrei, der ihn augenblicklich hellwach werden ließ. Es klang, als würde man einen Menschen aufs Fürchterlichste foltern, als müsse er die schlimmsten Qualen erdulden, die je erdacht worden waren. Offenbar hatte ein weiterer Junge es nicht ertragen, sich selbst, seiner Endlichkeit und seinen Ängsten gegenübergestellt zu sehen. Als die Schreie nicht endeten, kamen schließlich Leute, die den Verängstigten aus der Grabkammer holten und in ihre Obhut nahmen. Langsam verschwanden ihre Schritte sowie das Schluchzen in Richtung des Dorfes. Von da an herrschte endgültig Stille. Khor glaubte, sie gar fühlen zu können.
Als Khor wach wurde, meinte er, dass seine Augen tatsächlich wieder etwas sahen. Keine Einzelheiten, sondern nur einen kaum wahrnehmbaren Schimmer. Dennoch vermochte er, die Umrisse der größten Steinplatten in der Grabkammer auszumachen. Es war die Sonne, die sich gerade im Osten zeigte, die Bringerin allen Lebens, deren Licht sogar an diesen Ort des Todes einen Gruß zu schicken vermochte. Khor steckte seinen Kopf in den engen Gang, der nach draußen führte, wagte sich aber noch nicht hindurch. Wollte er doch keinesfalls der Erste sein, der die Grabkammer verließ. Die anderen Jungen waren mindestens sechs, sieben Jahre jünger als er. Außerdem hatte er sich auf diese Prüfung ja nur eingelassen, weil er neugierig war und wissen wollte, was mit ihm in diesem steinalten Heiligtum geschehen würde.
Ja! Das Leben rief. Der Schimmer wurde golden und immer stärker. Es war als wolle ihm das Licht den Weg weisen. Langsam kroch Khor in den Gang, der nach draußen führte. Er wollte sich Zeit lassen. Denn er wollte die Rückkehr ins Leben genießen. Er musste fast lachen, denn hatte er nicht soeben das Fiepen des Wolfshundes gehört, der sich ungeduldig auf ihn freute. Khor merkte, wie diese Freude auf ihn übersprang und ihn wärmte: Die Sonne wieder zu sehen, die grünen Wiesen und das blaue Meer! Die Freunde und alles was man liebt.
Noch im Gang bemerkte Khor, dass die Sonne ihn zu blenden drohte. Sie war gerade erst aufgegangen und strahlte ihm rund und groß vom östlichen Horizont ins Gesicht. Khor war von ihrem Gleißen und Glänzen vollkommen geblendet. Er sah nichts anderes mehr, als ihr strahlendes Funkeln und ihr grelles, weißes Licht. Als er die Zunge des Wolfshundes über sein Gesicht schmatzen fühlte, stand er auf und breitete die Arme aus, damit die Sonne mit ihren wärmenden Strahlen soviel als möglich von seinem Körper erreichte. Khor konnte Ottels Stimme hören, der den Wolfshund zurückrief, weil er ständig versuchte, an Khor emporzuspringen. Und er konnte Tankhir hören, der irgendetwas in einer vollkommen fremden Sprache murmelte, ihm dabei die Hand auf den Kopf legte und ihm schließlich mit zwei Fingern eine angedeutete Ohrfeige gab.
„Dies war der letzte Schlag, den du hinnahmst“, sagte Tankhir und legte ihm ein Lederbändel mit einem Amulett um den Hals. „Von nun an bist du ein Mann.“ Khor wagte es endlich, die Augen zu öffnen. Ja, Ottel war da, ebenso wie Broc und Gwenaël. Der Wolfshund wartete nur darauf, seine Wiedersehensfreude endgültig ausdrücken zu können und Sarti stand, zwei Grabkammern weiter, ebenso wie Khor in der Sonne und hatte die Arme ausgebreitet.
„Es ist schön, das hinter sich zu haben“, rief Sarti herüber. „Als Vierzehnjähriger wäre ich wohl auch davongelaufen wie die Buben heute Nacht. Aber es war durchaus aufschlussreich, muss ich sagen.“
„Hast du dich auch nicht verkühlt?“, fragte Ottel und fühlte Khors Wams. „Na, wenigstens bist du trocken.“
„Und?“ Broc starrte Khor ins Gesicht. „Hast du Stimmen gehört? Sind dir Dämonen erschienen? Hast du gar irgendwelche Todeserfahrungen gemacht?“
„Ich habe das Nichts gehört und ich habe es auch gesehen. Ich habe das Nichts erfahren, Broc“, entgegnete Khor. „Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“
Broc guckte ein wenig verstört, verstand aber schließlich, dass dies ein sehr viel wichtigeres Thema für die gelegentlichen Streitgespräche sein mochte, als irgendwelche in der völligen Abgeschiedenheit eingebildeten Dämonen. Denn wer vermochte es schon, sich das Nichts vorzustellen? „Oh, mein lieber Khor, du musst uns dringend davon berichten.“ Fürsorglich legte Broc seinen Mantel um Khors Schultern.
Natürlich hatte man Khors und Sartis Mannbarkeitsprüfung nicht wirklich ernst genommen, waren sie doch bereits um Jahre zu alt. Und außerdem waren sie Fremde und somit wohl, wenn überhaupt, nur mit Gwenaëls seltsamer alten Tante verwandt. Dennoch begegneten ihnen die Dorfbewohner mit Achtung, manche senkten sogar den Kopf vor ihnen, als sie den Hügel zum Dorf hinunterliefen. Auch Tante Yuna deutete eine knappe Verbeugung an, als sie das Haus betraten und die Mägde nickten in einem fort.
„Was verbeugt ihr euch ständig“, fragte Khor unsicher. „Müsst ihr denn vor jedem der Männer euren Kopf senken?“
Yuna sah ihn ratlos an. „Nicht vor jedem. Nur vor denen, die diese Prüfung bestanden haben. Denn sie sind es, die von da an in den Weisheiten unterrichtet werden, um vielleicht eines Tages unser Volk zu führen.“
„Ach so“, begann Khor zu verstehen. „Ich dachte, es sei eine allgemeine Prüfung der Reife.“ Er fühlte tatsächlich ein wenig Stolz. „Und welche Prüfung machen die Frauen, die führen sollen?“
„Frauen führen bei uns nicht“, gab Yuna trocken zurück. „Jedenfalls nicht mehr. Diese neumodischen Sitten, die sich wie die Pest verbreiten, kommen den Männern natürlich nur zupass, um sich die Welt nach ihrem Plan einzurichten. Ich bin die letzte Heilerin weit und breit. Das machen jetzt ebenfalls die Männer. Und darum meiden sie mich. Aber wenn es ihnen schlecht geht, wenn die Geschwüre sie zerfressen oder ihr Schwanz sie im Stich lässt, dann kommen sie zu mir und können am Ende gar nicht genug bittere Kräuter fressen.“ Yuna lachte.
„Gwenaëls Frau Coira wurde vor kurzem erst zur Führerin ihres Volkes gewählt“, wusste Khor zu berichten. „Und keiner zweifelt daran, dass sie ihr Amt gut ausfüllen wird.“
„Mit Recht!“, rief Yuna begeistert. „Sie war immer schon ein kluges Mädchen und mutig wie drei Kerle zusammen. Hier würde das keiner mehr einer Frau zutrauen.“
„Wie hat es denn soweit kommen können?“, wollte Khor wissen, der inzwischen ein köstliches Frühstück genoss.
„Wir hatten einmal eine Führerin, die mit einem Seegeborenen verschwunden ist. Einfach so, holterdiepolter. Und das ohne ihren Mann und sogar ohne ihre Kinder, was natürlich besonders schändlich ist. Seither sagt man, dass Frauen zu schwach seien, um Versuchungen zu widerstehen. Sie seien zu launisch und zu wechselhaft, um auch führen zu können.“
„Wir alle wissen, dass es starke und schwache Männer wie Frauen gibt“, lachte Khor ungläubig. „Und wenn nun einmal eine Frau die Gabe hat, zu führen, dann ist es schiere Vergeudung, diese ungenutzt zu lassen.“ Die Mägde kicherten ob derartiger Ungeheuerlichkeiten und steckten ihre Köpfe zusammen.
„Das sieht man hier anders.“ Yuna zuckte mit den Schultern. „Und darum sieh dich ein wenig vor, was du sagst. Lass nicht jedermann gleich wissen, wie du denkst. Die weisen Männer südlich von hier sind jedenfalls der Meinung, dass man Frauen halten soll wie das Vieh. Und wer etwas anderes sagt, ist vom Weiberdämon befallen, wie sie sagen. Dagegen helfen nur Feuer und Schwert.“
Besorgt fragte Sarti den schon langsam zum Aufbruch drängenden Gwenaël, ob sie denn von nun an bei jedem Hafen, in dem sie anlanden würden, diese Geisteshaltung vorfinden würden.
„Nein, keinesfalls“, nahm er seine Verwandten entlang der Küste in Schutz. „Aber wir werden sie immer häufiger vorfinden, je weiter wir in den Süden kommen und von Zuhause fort sind.“
Dieses Mal hätte Gwenaël beim Abschied von Barremeer und seiner Tante Yuna gerne etwas eingetauscht. Nicht, weil er irgendetwas aus ihrem Besitz begehrte, sondern weil er einfach meinte, den beiden alten Leuten etwas Gutes tun zu müssen. Schenken konnte er nichts, was über die üblichen Gastgeschenke hinausging, außer, er würde sich selbst den Tod wünschen. Denn nur dann konnten Yuna und Tankhir ohne ein entsprechend größeres Gegengeschenk davonkommen, wenn er sie wieder einmal besuchen kam. Und ließe sich Gwenaël, um dies zu vermeiden, nie wieder bei ihnen blicken, so würden sie die weite Reise auf sich nehmen müssen, nur um ihm oder seiner Frau eines Tages das Gegengeschenk zu überreichen.
„Ich brauche noch eine Medizin von dir, Tante Yuna“, flunkerte er also ein wenig unüberlegt.
„Was fehlt dir denn, mein Junge?“, fragte sie besorgt.
Nun bereute es Gwenaël, dass er nicht schon früher darüber nachgedacht hatte, was er darauf antworten sollte. „Magendrücken?“
„Dann friss nicht soviel. Und auch nicht zu spät, hörst du?“ Yuna winkte ab. „Dafür brauchst du meine Kräuter nicht.“
„Mein Herz …“, beharrte Gwenaël.
„Dein Herz ist viel auf Reisen.“ Tante Yuna lachte. „Herzen, die viel auf Reisen sind, flattern auch viel. So ist das nun mal. Und meistens sind die Schwänze schneller als die Herzen. Warum auch nicht, wenn das Leben noch so voller Saft in einem steckt, dass man es immer wieder spüren möchte. Wie viele Kinder hast du inzwischen, Gwenaël? Ich meine all überall und nicht nur jene, die du mit deiner Coira hast.“
Gwenaël lachte schallend. „Welcher Seegeborene weiß das schon so genau? Ich weiß von einigen. Aber von allen?! Wohl kaum. In manche Gegenden kommt man nur noch selten einmal wieder, in manche nie, so dass man kaum erfährt, ob man Spuren hinterlassen hat.“
„Siehst du, du liebst es, dein Leben zu spüren“, freute sich Yuna. „Genieße es, so lang du kannst.“
„Das werde ich!“ versprach Gwenaël. „Wenngleich man sich schon sehr genau ansehen muss, mit wem man das Leben denn auch spüren möchte. Die Leute können Krankheiten haben, die man dann selber bekommt.“
„Red doch nicht solch einen Unsinn!“, raunzte ihn Yuna an. „Das sind nicht irgendwelche Krankheiten, das sind Dämonen, die wie Flöhe von Mensch zu Mensch springen.“
„Mach mir keine Angst“ stutzte Gwenaël. „Ich dachte Dämonen seien ausgestorben wie die Drachen, deren Gebeine man hin und wieder findet.“
„Wer erzählt dir nur solchen Unsinn“, mit einem strafenden Blick sah Yuna zu Broc hinüber. „Dämonen sterben nicht aus. Ihr gebt ihnen einfach nur andere Namen. Ihr nennt sie zum Beispiel Krankheit oder auch Zufall. Dann erfindet ihr eine kluge Erklärung und schon habt ihr sie aus eurem Leben verbannt. Aber was rede ich. Es hört ja sowieso keiner zu.“
„Hast du nicht vielleicht gegen diese Dämonen eine Medizin?“, ließ Gwenaël nicht locker.
„Bäh“, baute sich Yuna auf. „Und ob ich etwas gegen diese Biester habe. Sogar zwei Mittel. Einmal für vorher, damit sie dir vom Leib bleiben und einmal für nachher, für den Fall, dass sie dich bereits erwischt haben.“
Gwenaël lachte lauthals. „Also, wenn dein Mittel für nachher genauso wirksam ist wie jenes für vorher, dann fange ich an zu zweifeln.“ Alle lachten.
„Dummkopf!“, fauchte Yuna. „Hättest du mein Mittel für vorher genommen, dann bräuchtest du das für nachher nicht. Aber wie ich schon sagte, der Schwanz ist schneller als das Herz oder auch der Verstand. Und was machst du, wenn dich einer der Dämonen erwischt hat? Es brennt wie Feuer zwischen den Beinen und es tropft …“ Wie eine Siegerin breitete Yuna die Arme aus. „Na! Du nimmst Tante Yunas Lebensspieldämonentod. Fünf Tage und die Dämonen sind weg.“
Gwenaël war begeistert. „Das muss ich haben! Und was ist mit dem anderen Mittel für vorher?“
„Lebensspieldämonenschutz. Es wirkt recht zuverlässig. Manche sagen, dass es brennt, wenn der Kerl sich vorher den Schwanz damit eingerieben hat. Es gibt eben auch empfindliche Leute.“
Gwenaël entlohnte seine Tante großzügig. Etliches an Geschirr ging von Bord, nicht die bunt bemalte Spitzenware, sondern einfaches, aber gut gebranntes Alltagsgeschirr, eine weitere Bahn besonders schönen Karostoffs und ein stattlicher Krug mit Bier, über den sich Yuna am meisten zu freuen schien. Feierlich überreichte sie Gwenaël dafür die beiden kleinen Gefäße. „Das Tönerne ist für Davor und das Schwarze für Danach.“ Geschäftstüchtig wandte sich Yuna an die übrigen. „Na, noch jemand Bedarf? So viele Mannsbilder und keiner nimmt die Dämonen ernst.“
„Na ja“, meinte Khor schließlich, „es kann ja nicht schaden, für den Fall der Fälle vorzusorgen.“ Sarti war vollkommen seiner Meinung und bat ebenfalls um je ein Fläschchen.
Alles, was sie zum Tausch anzubieten hatten, war allerdings Bernstein. Also suchte sich Yuna bei jedem etwas aus. Sie wählte nur die allerkleinsten Stücke, die sie, wie sie dem erstaunten Khor erklärte, leichter weitervertauschen konnte als die wertvolleren großen Brocken. Gerne nahm Yuna den Grus und fühlte sich reichlich entlohnt damit.
Es dauerte ein wenig, bis die Flut genügend Wasser in die Rinne gedrückt hatte, um sie wieder passierbar zu machen. Beim ersten Versuch, die Schwelle zu überfahren, die den Gezeitentümpel von der immer breiter werdenden Rinne trennte, knirschte es gefährlich und ließ Gwenaël wüste Flüche ausstoßen. Endlich aber war das Wasser hoch genug gestiegen, um die Schwelle überwinden zu können. Man winkte und rief einander die besten Wünsche für die Zukunft zu und schon schaukelte das Schiff zwischen kleinen Felseninseln dem offenen Meer entgegen.