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Vetter Adgair
ОглавлениеDie Verwandten staunten nicht schlecht, als es am frühen Morgen an ihrer Tür pochte und bollerte. Vetter Adgair öffnete verschlafen. „Was ist denn los, dass ihr so früh an unsere Türe klopft?“ Als er Gwenaël davor stehen sah, schreckte er zusammen. Einen Rotblonden hatte er auf gar keinen Fall erwartet. „Beim Licht des Mondes“, stotterte er, „kennen wir uns nicht?“
„Doch wir kennen uns, Adgair“, entgegnete Gwenaël. „Es ist schon lange her, seit ich euch besucht habe. Drei mal sieben Jahre etwa.“
„Gwenaël!“, fiel es Adgair ein. „Gwenaël, den man jetzt den Geflügelten nennt. Du hast eine Landgeborene auf der Insel geheiratet und bist seitdem der Herr ihres Volkes.“
„Nein“, Gwenaël schüttelte den Kopf, „sie ist die Herrin ihres Volkes. Ich habe Wichtiges mit dir zu bereden. Darf ich in dein Haus kommen?“
Adgair überschlug sich fast vor Ehrerbietung und bat den unerwarteten Besucher, einzutreten. Es war ihm offenbar peinlich, Gwenaël in seine wenig ordentliche Bleibe zu bitten, denn er warf schnell irgendwelche herumliegenden Decken, Kleidungsstücke und Kinderspielzeuge in die nächstbeste Ecke, in der bereits andere Dinge aufgetürmt lagen. „Ailin, mein Liebes“, rief er mit gespielter Freude, „schau nur, wer uns besuchen kommt!“
Ailin, die noch vollkommen verstrubbelt aus der Schlafnische kam, hatte Gwenaël nie kennen gelernt. Also starrte sie ihn ratlos an. „Verwandtschaft? Was will er?“ Kaum hatte sie geendet, als plötzlich aus allen Ecken mehr oder weniger kleine Rotblondschöpfe auftauchten. Es wuselte nur so vor ihnen.
„Du hast das Fischerboot deines Vaters übernommen?“, fragte Gwenaël auf weitere, sonst übliche Begrüßungsfloskeln verzichtend.
„Aber ja“, bestätigte Adgair. „Gleich heute wollte ich auf große Fahrt gehen. Die Frühlingsheringe warten.“
„Das trifft sich gut. Du wirst bestimmt nach Norden steuern.“
„Aber ja, es geht auf jeden Fall um die Halbinsel der Priester herum, irgendwo zwischen dem Festland und Deiner Insel.“ Adgair scheuchte seine gaffenden Kinder fort. „Aber nun setz dich, Gwenaël. Du nimmst doch das Frühstück mit uns ein? Salzheringe und Schwaneneier.“ Und ohne auf eine Antwort zu warten, drückte er Gwenaël auf eines der Sitzpolster an der Feuerstelle. „Oh, was für ein prächtiger Herr du geworden bist. So reinlich. Und was man sich nicht alles von dir erzählt! Trotz Familie immer noch auf Handelsreisen unterwegs?“
„Immer noch“, bestätigte Gwenaël und richtete es sich auf dem Polster gemütlich ein. Schließlich sagte er ohne Umschweife: „Ich bin gekommen, weil ich eine Bitte an dich habe Adgair.“
„Oh je!“, jammerte der. „Du weißt, dass ich nur ein einfacher Fischer bin, der viele Mäuler zu stopfen hat. Wir gehören nicht zu den Vermögenden.“ Adgair wurde kreidebleich, denn Gwenaëls anfängliche Frage nach dem Schiff des Vaters, konnte nur das Eine bedeuten. „Ich kann dir also mein Schiff nicht geben, falls du danach fragen wolltest. Ich brauche es selbst, um auf Fang zu gehen. Gleich heute wollte ich aufbrechen und es ist schon alles vorbereitet.“
„Umso besser“, lächelte Gwenaël. „Ich wollte dich bitten, etwas für Tante Una mitzunehmen.“
Adgair war zunächst erleichtert. Doch dann fiel ihm ein, dass Tante Una ein gutes Stück weiter im Norden lebte, als er eigentlich fahren wollte. „Tante Una?! Sie ist berühmt geworden für ihre Medizin. Aber soweit nach Norden wollte ich gar nicht …“
„Ich muss dich aber darum bitten“, bestand Gwenaël. „Und natürlich soll es auch dein Schaden nicht sein.“
Natürlich wusste Adgair, dass er eine derart dringlich gestellte Bitte eines Verwandten nicht einfach abschlagen konnte. Doch er wand sich wie eine Eidechse, die man am Schwanz festhielt. „Ich werde mindestens vier Tage für diesen Abstecher verlieren“, klagte er und sah Gwenaël forschend in die Augen, in der Hoffnung, dort Einsicht zu finden, die ihn von der lästigen Pflicht befreien würde. Doch Gwenaël zückte nur einen der prächtigen Dolche aus Abalon und legte ihn wortlos vor seinen Vetter.
„Ui“, zischte der durch die Zähne. „Was für ein prachtvolles Stück! Von deiner Insel? Sieht fast so gediegen aus wie ein Dolch aus Abalon.“
„Es ist ein Dolch aus Abalon“, bekräftigte Gwenaël und legte noch einen Brocken Bernstein dazu.
Es war deutlich zu sehen, wie die Vorstellungskraft in Adgair aufblühte und er sich gerade ausmalte, wie eindrucksvoll der Dolch an seiner Seite aussehen würde. Nie hätte er sich erträumt, jemals solch eine Waffe besitzen zu können. Was würden die anderen für Augen machen, wenn sie ihn damit sähen? Doch er war auch lebenserfahren genug, um sich zu fragen, warum der andere einen derart guten Preis zu zahlen bereit war.
„Sag einmal, Gwenaël“, fragte Adgair aufrichtig besorgt. „Was gibt es denn so Wichtiges, das zu Tante Una gebracht werden soll?“
„Einen Käfig mit einer wilden Bestie.“
„Was?!“, rief Adgair entsetzt. „Und wenn sie ausbricht und meine Mannschaft mitten auf dem Meer zerfleischt?! Was für ein Biest ist es denn? Hast du einen Bären gefangen? Und was soll Tante Una mit solch einem Untier?“
„Nein“, gab Gwenaël ruhig zurück. „es ist die Rote Gaëlle, die in dem Käfig steckt.“
„Was?“, Adgair Stimme überschlug sich fast. „Warum schlägst du sie nicht tot, die Bestie? Sie hat uns allen arg zugesetzt! Dem Sohn meines Nachbarn hat sie fast die Hand abgeschnitten.“
Gwenaël sah ihn fest an. „Weil sie meine Tochter ist.“
Adgair schluckte und verstand, dass es nun kaum mehr eine Möglichkeit geben würde, seinem Vetter diese Bitte abzuschlagen.
„Ich möchte, dass du Gaëlle zu Tante Una bringst“, fasste Gwenaël sein Anliegen zusammen. „Und ich zähle fest auf dich, dass du sie auch wohlbehalten dort ablieferst, hörst du?! Ich wünsche, dass du sie gut behandelst, verstanden? Sag Tante Una, dass Gaëlle meine Tochter ist und ich erst jetzt von ihr erfahren habe. Als Kind ohne Vater hat sie als Ausgestoßene gelebt. Tante Una möchte ihr zeigen, wie es sich lebt, wenn man nicht zu den Geschmähten gehört, sondern die Tochter eines ehrenwerten Mannes ist. Meinst du, du kannst das behalten und ihr entsprechend ausrichten?“
„Aber ja“, wiegelte Adgair ab, machte er sich doch inzwischen über ganz andere Dinge Gedanken. „Ich weiß nur nicht, ob ich es meiner Mannschaft zumuten kann, solch eine gefährliche Fracht an Bord zu nehmen. Unter Umständen hat der eine oder andere von ihnen noch eine offene Rechnung mit dem Weib. Sie war erbarmungslos.“
„Es liegt nur bei dir, Adgair, ob du ablehnst oder zustimmst“, sagte Gwenaël trocken.
Natürlich wusste Adgair, dass er gar keine andere Wahl hatte, wenn er sich nicht für alle Zeiten außerhalb der Sippe stellen wollte. Und die Entschädigung für den Umweg, so wägte er ab, war schließlich mehr als großzügig. Er sah ein, dass ihm gar keine andere Wahl blieb. „Ich wollte gleich heute noch vor Mittag ablegen. Kann sie bis dahin auf mein Schiff gebracht werden?“
„Aber sicher“, entgegnete Gwenaël erleichtert. „Wir legen dann zusammen ab und fahren gemeinsam in die Bucht hinaus, was meinst du Adgair?“
Nun, es war eine Ehre, neben dem Geflügelten segeln zu dürfen, aber so richtig freuen konnte sich Adgair dennoch nicht. Gwenaël legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Dann steuerst du dein Schiff nach Norden, während ich nach Süden weiterreise. Spätestens beim nächsten Vollmond bist du bei Tante Una. Du wirst sie auch schon lange nicht mehr gesehen haben.“
„Och, Ewigkeiten!“ Adgair war mit Gedanken jedoch bereits bei ganz anderen Dingen. „Sag einmal, Gwenaël, brauchst du nicht etwa noch ein Fässchen Salzheringe oder getrockneten Kabeljau? Ich würde sie dir äußerst günstig überlassen.“
„Ich glaube, wir beide haben bereits genug gute Geschäfte gemacht, meinst du nicht auch?“ Gwenaël lächelte Adgair an und wandte sich zum Gehen. „Wo liegt dein Schiff, damit ich hinzukomme, um den Käfig umzuladen?“
„Nein, nein!“ Adgair witterte die Gelegenheit, die Miteinwohner zu Augenzeugen werden zu lassen, wie ein reicher, mächtiger Händler, dessen Namen man überall rühmt, mit ihm, dem Fischer mit den falschen Gewichten, Geschäfte machte. „Ich komme mit meinem Schiff zu dir in den Hafen.“
„Auf gar keinen Fall!“ Gwenaëls Tonfall ließ keinerlei Zweifel aufkommen, dass er sich keinesfalls darauf einlassen würde. „Ich werde meine Tochter nicht den Gaffern zur Schau stellen. Ich komme mit meinem Schiff zu dir.“
„Na, dann.“ Adgair zuckte mit den Schultern. „Vom Hafen aus weiter stromaufwärts, um die Stadt herum. Da mündet ein Bach. Dort, wo die Gerber arbeiten, da liegt mein Schiff.“ Eigentlich hatte er noch eine spitzzüngige Bemerkung von Gwenaël erwartet, da die Gerber wegen des üblen Gestanks, den sie verursachten, gemeinhin wie Unberührbare behandelt wurden und Adgair mit seinem längst schon ranzig gewordenen Fischkahn dort doch wohl in guter Gesellschaft wäre. Aber Gwenaël lächelte ihn nur an: „Ich bin dir zu Dank verpflichtet, Vetter Adgair. Wir sehen uns wie vereinbart.“
Adgairs Frau Ailin schleppte gerade ein Fässchen Salzheringe aus dem Vorratshaus herbei und sah gerade noch wie Gwenaël, ohne von ihrem Frühstück gekostet zu haben, wieder ging.
„Lass uns richtig schön frühstücken, Liebes“, rief ihr Adgair entgegen. „Ich werde lange fort sein und …“ er fuchtelte mit dem Bernstein vor Ailins Gesicht herum, „ich habe gute Geschäfte gemacht.“ Ailin schrie auf vor Entzücken und hielt den Bernstein mal an ihr linkes Ohr, dann wieder ans rechte und wies ihm schließlich einen Platz an ihrem Busen zu. Den Dolch bekam sie allerdings nicht zu Gesicht, denn den hatte Adgair längst schon weggesteckt.
Khor hatte den Geruch, den Gerbereien von sich gaben, schon immer als widerwärtig empfunden. Die Gehilfen liefen des Morgens mit ihren Krügen von Haus zu Haus und sammelten die erste Pisse des Tages. In den Ställen, beim Vieh trieben sie sich ebenfalls herum. Dementsprechend stank es in der Nähe der Werkstätten zum Himmel, weswegen sie immer ein wenig abseits lagen. Ebenso wie die Schmieden, die man allerdings wegen der Feuergefahr fürchtete, die von ihnen ausging. Kein Wunder, dass Myrdin die Gerberstochter geheiratet hat, dachte Khor. Sie sind bestimmt als Nachbarskinder miteinander aufgewachsen. Leider machte der üble Gestank jedoch jeden gemütvollen Gedanken augenblicklich zunichte: Eine derart große Gerberei hatte Khor noch nie gesehen – geschweige denn gerochen. Sarti und Broc schien es ähnlich zu gehen, denn sie wedelten mit ihren Händen vor dem Gesicht herum, während Gwenaël und Ottel offenbar entschlossen waren, keinerlei Regung zu zeigen. Nur der Wolfshund schien den Gestank zu genießen, denn er schnüffelte in einem fort und hechelte mit geschlossenen Augen, als könne er gar nicht genug davon bekommen. Die Gerber freuten sich, weil ihnen Gwenaëls Schiff ein paar prächtige Wellen herübersandte, während Adgair an Bord seines schäbigen Fischerbootes stand.
„Ist dein Kahn auch sicher?“, rief Gwenaël hinüber, dem es offensichtlich nicht mehr ganz wohl bei dem Gedanken war, seine Tochter Adgair anzuvertrauen.
„Ja, freilich! Was denkst du denn?!“, kam die Antwort.
Doch Gwenaël sprang erst einmal an Bord von Adgairs Schiff und schaute sich ein wenig um. „Das musst du aber unbedingt richten lassen!“, sagte er und deutete auf eine angebrochene Planke. „Eine unerwartet hohe Welle und dir fliegen die Splitter um die Ohren.“ Er pfiff und schon kam Boron, der Schiffsschreiner, an Bord und kümmerte sich darum.
„Na, diese Fahrt hätte die Planke schon noch gehalten“, nuschelte Adgair beleidigt.
„Nichts da!“ Gwenaël blieb unerbittlich. „Du hast eine wertvolle Fracht an Bord.“
Mit vereinten Kräften wurde schließlich der verhängte Käfig an Bord bugsiert, aus dem die übelsten Beschimpfungen drangen. Gwenaël war das Gezeter irgendwann einmal leid. Er lüpfte die Plane und schüttete einen ganzen Zuber Wasser hinein. Es gab ein fürchterliches Geschrei, anschließend war jedoch endlich Ruhe. Und da Adgair breit grinste, nahm Gwenaël ihn beiseite und sagte ihm ganz ruhig ins Ohr: „Damit wir uns verstehen, Vetter. Wenn ihr auch nur ein einziges Haar gekrümmt wird, werde ich dich zur Rechenschaft ziehen. Du weißt, dass ich dich überall finden werde.“
„Aber, Vetter Gwenaël! Was denkst du von mir! Du kannst dich unbedingt auf mich verlassen.“
„Das dachte ich mir“, nickte Gwenaël zufrieden.
Nachdem Adgair von den Seinen herzlich Abschied genommen hatte, was alleine schon wegen der Anzahl seiner Kinder eine Ewigkeit zu dauern schien, ließen sowohl er als auch Gwenaël die Segel setzen. Knarrend fing sich der Wind in ihnen, der die Schiffe vorwärts drückte. Myrdin schaute von den Palisaden aus zu, wie die beiden Schiffe an der Stadt vorbeizogen, in den aufgestauten See einfuhren und schließlich die beiden Felsen passierten. Sie rauschten den Trichter des Flusses entlang, der sie direkt ins Meer entließ. Abermals legten sie dieselbe Strecke zurück, wie gestern Abend. Doch fuhr nun Adgairs Schiff neben ihnen. Gemeinsam durchfuhren sie die Meerenge, welche die Insel Khiberon vom Festland trennte. Dann war es Zeit, Abschied zu nehmen.
„Bleib tapfer, Gaëlle!“, rief Gwenaël aus Leibeskräften herüber. „Wenn wir uns wieder sehen, wirst du mich verstehen.“ Er lauschte, doch es kam keine Antwort. Adgairs Schiff bog schließlich nach Norden ab, während Gwenaël Kurs Südost nehmen ließ. Er griff sich die Lure, setzte sich dieses Mal aber nicht an den Bug, sondern ganz hinten ins Heck, wo der Rabe hauste und der Wolfshund seine Stelle für den Notfall hatte, und blies schwermütige Töne in die Mittagsluft.
Nach einer Weile tat Khor so, als wolle er nach jener Stelle im Heck sehen und blieb neben Gwenaël stehen.
„Es ist nicht leicht, Vater zu sein“, sagte er schließlich, weil ihm gerade nicht Besseres einfallen wollte.
„Ach, Khor, mein Freund, du bist’s“, sagte Gwenaël abwesend. Dann lachte er. „Na, gerade du musst es ja wissen!“ Khor lachte mit ihm. „Wenn ein Mensch ohne Liebe aufwächst, wird er auch nie welche geben können“, sinnierte Gwenaël. „Und ein Mensch, der nicht lieben kann, der ist bei lebendigem Leibe tot. Das wollte ich meiner Tochter ersparen, das musste ich ihr ersparen. Denn das ist nun einmal die Aufgabe jener, die neues Leben hervorgebracht haben: Es ist ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass der in die Welt Hinzugekommene weiß, was Liebe ist.“ Khor fühlte sich hundsmiserabel. Schuldig! „Und wenn man selbst nicht dazu in der Lage ist“, fuhr Gwenaël fort, „aus welchem Grund auch immer“, er gab Khor einen Knuff, „dann hat man dafür zu sorgen, dass diese Erfahrung woanders gemacht werden kann. Und jetzt schau nicht so zerknirscht drein. Deinem Kleinen geht’s doch gut bei Chrabor.“
„Ich will es hoffen, Gwenaël. Doch wissen tu ich’s nicht.“
„Komm, setz dich her!“ Gwenaël klatschte auf das Holz. „Und dann mach die Augen zu und sperr die Ohren auf.“ Khor tat wie ihm gesagt. „Hörst du, wie der Wind in deinen Ohren rauscht und pfeift? Er kommt von ganz weit her und hat die Welt gesehen auf seiner Reise. Er erzählt dir, was immer du wissen willst. Du musst ihn nur verstehen. Und verstehen wirst du ihn nur mit deinem Herzen. So kann es dann auch kommen, dass du ihn an einem Tag genau verstehst, am nächsten jedoch nicht weißt, wovon er berichtet. Aber jetzt sperr’ die Nase auf!“ Gwenaël legte die Hand auf Khors Arm. „Riechst du den Tang. Es ist kein Tang von hier, er wurde von der Strömung angespült. Er riecht so, wie der Tang zuhause. Manchmal meine ich fast, der Wind weht den Duft der Veilchen zu mir, die dort jetzt blühen. Es macht mich glücklich“, lachte Gwenaël und seufzte. „Aber jetzt, mein lieber Khor, sage ich dir, was ich sehe: Ich sehe Coira, mein Weib, wie sie unser Jüngstes säugt, wie sie Streitigkeiten schlichtet und wie sie sich mit den Ältesten berät. Und ich sehe sie, wie sie an mich denkt, während sie nachts in ihrem Bett liegt. Das Salzwasser riecht nach ihr. Und lecke ich meine Lippen, so schmecke ich ihre Haut.“
„Ich kenn das auch“, lachte Khor. „Nur geht es mir im Wald immer so.“
„Im Wald?“
Khor zuckte mit den Schultern.
„Oh, du Landgeborener, du“, rief Gwenaël und drückte ihm einen Kuss mitten auf die Stirn.
Fast den ganzen Nachmittag saßen Khor und Gwenaël beisammen im Heck, so dass sich Broc und Sarti schon wunderten, was die beiden so ausführlich zu bereden hatten. Als Broc nach dem erstaunlich ruhigen Raben sah, der sich, wohlig aufgeplustert in seinem Käfig sitzend, von Khor den Nacken kraulen ließ und er dabei feststellen durfte, dass er ebenso willkommen war, setzte Broc sich zu ihnen. Es dauerte nicht lang und auch Sarti gesellte sich hinzu.
„Na, was ist denn mit euch los“, polterte Ottel. „Seit wann ist denn der Hundeabtritt euer Lieblingsplatz?“
„Auf meinem Schiff ist mir ein Platz so lieb wie der andere“, gab Gwenaël zurück. „Komm, setz dich zu uns, Ottel. Wir reden gerade über das Erlebte.“ Das ließ Ottel sich nicht zweimal sagen. Denn von Erlebtem zu erzählen war für Ottel, so wie für die meisten seiner Zeitgenossen auch, das Schönste, was Freunde miteinander teilen konnten.
Broc und Sarti staunten nicht schlecht, als sie nun endlich im Einzelnen hörten, was alles sich in der vergangenen Nacht zugetragen hatte. Sarti war sogar ein wenig beleidigt, weil man ihn nicht geholt hatte und ohne ihn losgezogen war. Wie gerne hätte er solch ein Abenteuer erlebt! Broc erinnerte daran, dass der Blick auf Vergangenes immer entspannter sei, als jener auf Gegenwärtiges oder gar Zukünftiges, da man von dem Vergangenen den Ausgang ja schließlich kenne. Aber davon einmal abgesehen, ließ Broc keinerlei Zweifel daran, dass Sarti sehr viel besser an seiner Seite aufgehoben war, da es von Belas, ihrem Gastgeber, nämlich etliches zu erfahren gab, was Sarti sich schließlich einprägen sollte. Offensichtlich hatte sich ein bislang noch nicht offen zu Tage getretener Machtkampf zwischen Myrdin, dem Schmied, und den Priestern entwickelt. Beide beanspruchten die Macht für sich, zu bestimmen, wie die Menschen von Kharrenac zukünftig leben sollten. Während die Priester eine von ihnen geführte heilige Stadt anstrebten, sah Myrdin die Pilgerscharen lediglich als einen weiteren Einkommenszweig an. Außerdem war es ihm auch schlicht einerlei, dass einige der Priester, die sich in Kharrenac niedergelassen hatten, nichts weiter waren als Blender und Halsabschneider, wohingegen seine Gegner deren Ausschluss von den Riten anstrebten. Für Myrdin waren die Pilger jedenfalls nur Fremde, die essen, trinken und schlafen wollten und dafür auch durchaus bereit waren, überhöhte Preise hinzunehmen. Selbst Hilfe, wie man sie gerade Kranken und Gebrechlichen anbot, die sich zuhauf unter den Pilgern fanden, sollte nur noch im Tausch entlohnt werden. Kharrenac war ein riesiger Ramschplatz geworden, an dem man wohl nahezu alles finden konnte, was es auf der Welt gab. Belas besaß eine Reihe von kleinen blauen Tonstatuetten, die Broc übrigens sehr an Gwenaëls Ahnenfiguren erinnert hatten, wie er berichtete. Belas hatte sie von einem Pilger aus den weißen Bergen erhalten. Dieser, so behauptete er jedenfalls, habe sie von einem Händler, der von der Dunawe hochgekommen war und sie seinerseits von fremden Händlern auf dem Fluss eingetauscht haben wollte.
Alle schwiegen.
„Und was willst du uns jetzt damit sagen?“, fragte Ottel.
„Na! Dass du in Kharrenac eben alles bekommen kannst. Belas hat da so ein Ding …“
„Eine Gerätschaft“, unterbrach Sarti.
„…jedenfalls so eine hölzerne Vorrichtung mit einer Schnur daran, von der er meint, dass man damit den Ablauf der Zeit messen kann.“
„Was?“, fragte Gwenaël ungläubig. „Wozu das denn?
„Ich habe auch schon überlegt, welchen Nutzen dies haben könnte“, gestand Broc nachdenklich.
„Also: Wenn beispielsweise ein Töpfer seine Ware brennt“, ließ Sarti sich kleinlaut vernehmen, „dann mag es durchaus von Vorteil sein, wenn es gelänge, die Zeit des Brandes genau bemessen zu können.“
„Dazu braucht der doch kein Stück Holz an einem Seil“, machte Ottel sich lustig. „Als Töpfer merkt man doch von selbst, wenn der Brand genug ist. Ebenso wie der Bauer weiß, wann es Zeit ist, zu ernten und der Schmied, wann das Erz lang genug erhitzt wurde.“
„Nun“, versuchte Broc ein Ergebnis zu benennen. „Wir Menschen haben gelernt, alles um uns herum zu benutzen. Wir pflanzen Gräser und haben gelernt daraus Brot zu backen. Wir durchlöchern die Erde, um Erz herauszuholen, aus dem wir Beile schmieden, die so viel besser und schneller Bäume abhacken können, aus denen wir uns schließlich gemütliche Häuser bauen, die uns Schutz und Geborgenheit bieten, so dass wir unsere Kinder großziehen können. Und da Kinder immer Hunger haben, pflanzen wir noch mehr Gräser und backen noch mehr Brot.“ Triumphierend hob Broc die Arme, doch alle schwiegen.
„Und was ist es, was du uns damit sagen willst?“ Es war Khor, der dieses Mal fragte.
„Dass wir danach trachten, alles um uns herum zu benutzen“, entgegnete Broc. „Also werden wir auch versuchen, die Zeit zu nutzen.“
„Aber wozu nur“, fragte Gwenaël. „Was vergangen ist, das ist vorbei. Das ist geschehen und Vergangenheit. Man erzählt davon oder denkt daran. Aber es ist abgeschlossen. Was kommt, wird kommen. So wie der Sommer kommt und dann der nächste Herbst. Doch nur was ist, das zählt.“
“Aber du planst doch auch vor“, erwiderte Broc. „Du denkst doch auch an das, was kommen könnte und machst deiner Coira schnell noch ein Kind, bevor du auf Fahrt gehst. Du trägst über den Winter die Ware zusammen, die du im Sommer vertauschen möchtest.“
„Ich weiß genau, wann mein nächstes Kind geboren wird“, lachte Gwenaël. „Nämlich zur Wintersonnenwende. Dafür brauche ich weder Strick noch Holz.“ Und in einem versöhnlichen Tonfall fügte er hinzu: „Wir Menschen können sehr wohl die Zeit fühlen. Doch wir werden unser Wissen darum und die Fähigkeit dazu verlieren, wie schon so vieles, wenn wir Gerätschaften einsetzen, die uns diese Arbeit abnehmen. Jetzt aber, meine lieben Freunde des Wissens, muss ich mich, so leid es mir tut, um den nächsten Hafen kümmern. Selbst ohne Gerat aus Holz und Seilen weiß ich, dass wir ihn bald anlaufen werden.“ Er blinzelte in die schon tief stehende Sonne und ging einen Vers vor sich hinmurmelnd zum Bug, um Ausschau zu halten.