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Bei den Salzfeldern

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Khor merkte sogleich an Gwenaëls Verhalten, dass es wohl ein besonders angenehmer Aufenthalt zu werden versprach. Es dürften wohl seine Verwandten sein, auf die er sich so sehr freute. Khor meinte, sich an ein gutes Wort über sie aus seinem Mund erinnern zu können. So unbarmherzig Gwenaël ansonsten darauf achtete, dass nicht gebummelt wurde und man möglichst weite Strecken am Tag zurücklegte, so war er doch immer auch bereit, einmal eine Verzögerung hinzunehmen, solange es sich eben lohnte. Das konnte ein zu erwartendes gutes Geschäft sein oder aber auch eine schöne Begegnung. Und wenn Gwenaël dann schließlich beim Wiederablegen in die Lure blies, war es wohl beides gewesen. Doch heute blies er sogar, als er in die kleine Bucht einlief.

Gleich hinter der Spitze einer Landzunge war die Küste auf weiter Strecke unter dem Ansturm der ewigen Wellen eingebrochen. Und da das Land dort tiefer lag, wurde es bis weit ins Hinterland hinein überspült. Das Meerwasser war in zahllosen abgeteilten Tümpeln gefangen - und die Sonne brannte heiß herab. Schon bei der Einfahrt in die Bucht konnte Khor erkennen, dass man hier Salz abbaute. In der Ferne sah er sie bereits, die unendlichen Salzfelder, auf denen winzig kleine Menschen arbeiteten. Der Hafen, den Gwenaël anlief, bot eine weitere Überraschung. Gleich hinter dem Meeresdurchbruch, durch den man vor den ärgsten Wogen des offenen Meeres geschützt war, hatte man rechter Hand zwei schräg vor dem Land liegende Inselchen jeweils durch ein stabiles hölzernes Bollwerk mit der Küste verbunden, weswegen man auch nur genau zwischen diesen beiden mit dem Land verbundenen Inseln in den solcherart abgetrennten Hafen gelangen konnte. Gwenaël, der sein Kommen ja lautstark genug mit seiner Lure angekündigt hatte, genoss es, auf beiden Inselchen, steuer- wie backbord, von der zusammengeströmten Menschenmenge bejubelt und willkommen geheißen zu werden. So langsam es nur irgend ging fuhr er in den Hafen ein. Augenblicklich war Khor klar, warum Gwenaël unbedingt hier anlegen wollte: War er hier doch alles andere als ein Unbekannter - und offenkundig war es eine wohlhabende Stadt. Auf das durch die beiden Inseln geformte Hafenbecken schaute eine Reihe von mächtigen Häusern mit bunt bemalten Fronten. Seltsame Zeichen waren darauf zu erkennen, aber auch etliche Ornamente, die Khor von Zuhause her kannte. Die Stadt war nicht sonderlich groß, so dass sich Khor umso mehr darüber wunderte, wie viele Menschen sich am Hafen versammelt hatten, um die Ankömmlinge willkommen zu heißen. Es mussten nahezu sämtliche Einwohner sein, die hier zusammengeströmt waren.

„Oh, meine Lieblinge!“, rief Gwenaël laut und breitete die Arme aus wie ein Dichter, der des Abends am Feuer hingebungsvoll von großer Liebe und ewiger Treue singt. Khor schien Gwenaëls Auftreten ein wenig übertrieben, aber den Menschen an Land gefiel es, denn sie jubelten umso mehr. In der Menge hatte Khor auch bereits einige Kinder und Jugendliche mit rotblondem Schopf ausgemacht, die ohne weiteres als Gwenaëls Abkömmlinge durchgehen konnten.

„Wie mir scheint, hat unser Freund Gwenaël hier seine saftigsten Lenzjahre verbracht“, meinte Broc trocken, woraufhin Sarti albern kicherte.

„Aber schau nur, wie sie sich freuen, Gwenaël zu sehen!“ Ottel war begeistert. „Das ist ein anderer Empfang als gestern.“

Offensichtlich waren hier Kinder ohne Väter nichts, was einem Vergehen gleichkam, sondern halbwegs üblich. Jedenfalls konnte Khor einige Frauen in Begleitung sehr unterschiedlicher Kinder sehen, die deren gelegentlich anwesenden Ehemännern auch nicht unbedingt ähnlich sahen. Allerdings sah Khor schnell ein, dass die schiere Anzahl rotblondschöpfiger Kinder und Jugendlicher, selbst Gwenaëls Einsatzwillen überstiegen haben dürfte.

Es war eine Siedlung seiner Sippe, wie Gwenaël erklärte, der die Unterhaltung seiner Freunde mit halbem Ohr mitgehört hatte. Einige der wassermüden Seegeborenen, die sich vor vielen Generationen irgendwo niederlassen wollten, erinnerten sich an diese Bucht – und ihre natürlichen Salzbecken. Und Salz, das wusste ja jeder, bedeutete nun einmal Reichtum. Eindeutig war dem so, wie Khor mit eigenen Augen feststellen konnte: Selten hatte er wohlgenährtere, besser gekleidete und sauberere Menschen gesehen. Und in so viele freundlich lachende Gesichter hatte er ebenfalls lange nicht mehr geblickt. Diese Freundlichkeit war ansteckend. Khor freute sich also auf die liebenswürdigen Fremden, so, wie sie sich offensichtlich auf ihn freuten. Auch Ottel war glückselig. Er lachte und winkte, schäkerte und warf sogar Luftküsse, die sogleich aufs Eifrigste erwidert wurden. Selbst der zurückhaltende Broc ließ sich von der heiteren Stimmung anstecken und winkte hoheitsvoll. Mit Kennerblick hatte er einen in gebleichtem Leinen gekleideten Mann entdeckt, in dem er den Priester vermutete. Offenbar erkannte auch der andere in Broc Seinesgleichen, denn es genügten Blicke, um sie sogleich zu Brüdern werden zu lassen. Auch Sarti spürte die unterschiedslose Wärme des Willkommens. Ein junger Mann auf Krücken rief ihm etwas zu, das er leider nicht verstand. Aber es bestand kein Zweifel daran, dass es etwas Freundliches gewesen war. Schnell waren sie von Bord gegangen und wurden in das Haus von Gwenaëls nächsten Verwandten gebeten. Sollte dies etwa der Ort sein ‑ so überlegte Khor ‑, wo die glücklichsten Menschen lebten?

Nun, es war zweifellos ein gesegnetes Fleckchen Erde, wie Khor schnell feststellen konnte. Doch auch hier hatten die Menschen ein jeder sein eigenes Päckchen zu tragen. Seine Gastgeber, ein rotblonder Hüne und eine unablässig lächelnde rotwangige, ebenso blonde Frau, hatten im vergangenen Jahr ihre älteste Tochter verloren. Gwenaël hatte noch ganz unbedarft nach ihr gefragt, weil er sie vermisste. Er hatte sie nicht mehr gesehen, so erklärte er, seit sie noch Kind und er ihr erster Schwarm gewesen war. Die arme Frau brach in Tränen aus und selbst ihr Mann konnte kaum die Fassung bewahren. In dieser Stunde der Freude so unvermittelt nach dem geliebten Kind gefragt zu werden, ließ sie den Verlust nur noch umso schmerzlicher wahrnehmen. „Weint nicht“, sagte Broc. „Weint nicht um das, was ihr verloren habt. Sondern freut euch, über das, was ihr haben durftet.“ Die Frau wischte ihre Tränen fort und strahlte wieder ihr herzliches Lächeln. Schüchtern gab sie Broc einen Kuss auf die Stirn und flüsterte: „Danke. Du hast die Dämonen gebannt, die mich gefangen hielten. Ich werde von jetzt an versuchen, mich deiner Worte zu erinnern. Vielleicht findet meine Seele dann endlich etwas Ruhe.“

Während Gwenaël sich mit seinen Verwandten austauschte, hatte Broc sich schon längst mit dem Priester in eine Ecke des Hauses der Gastgeber zurückgezogen, wo sie sich angeregt unterhielten. Broc hatte bereits mehrfach nach Sarti gerufen, der allerdings mit dem jungen Mann auf Krücken in ein Gespräch vertieft war, aus dem er sich so nicht schnell wegrufen lassen wollte. Das ganze Haus brodelte vor Emsigkeit. Aufgeregt wurden Anweisungen und Befehle hin und her gerufen und um die Feuerstelle war ein regelrechter Kampf der Mägde entbrannt, galt es doch, ein Festessen vorzubereiten, das allen für immer im Gedächtnis bleiben sollte. Da er nichts dazu beitragen konnte, als lediglich im Weg zu stehen, drückte sich Khor bei nächster Gelegenheit durch die Tür, wo er von dem wartenden Wolfshund wie nach langer Abwesenheit begrüßt wurde. Es war ein warmer goldener Spätnachmittag, der bereits deutlich nach Frühling roch, während sie Zuhause noch immer Schnee haben konnten. Khor atmete tief ein und roch das Salz. Seine Geschwister hatten ihn immer ausgelacht, wenn er sagte, dass er das Salz schon aus der Ferne riechen könne, das Högr aus der Quelle nahe der Uneströdu gewann. „Hmm, Salz“, murmelte er und atmete abermals tief ein.

„Dummkopf! Salz riecht doch nicht.“ Ottel hatte ebenfalls das Haus verlassen. „Hast du Lust, mit uns zu kommen? Sartis neuer Freund will uns eine Stelle zeigen, wo man ein Salzbad nehmen kann.“ In diesem Augenblick gab es nichts auf der Welt, was Khor begehrenswerter erschien, als ein Bad zu nehmen; worin auch immer.

Es war zwar kein allzu weiter Fußweg, aber mit Airil, dem jungen Mann mit der Krücke, dauerte es doch eine gewisse Zeit, bis sie bei den Salzbecken angelangt waren. Airil erzählte derweil, wie ihn ein unsanft anlandendes Schiff zum Krüppel gequetscht hatte, während seine kleine Freundin, die Tochter von Khors Gastgebern, bei diesem Vorfall ums Leben gekommen war. Sie hatte noch nicht einmal mehr schreien können, so schnell hatte der Tod sie fortgeholt. Beinahe hätten sie über dieser traurigen Erzählung die Lust an ihrem bevorstehenden Salzbad verloren. Und so war es Ailin, der sich als Erster die Kleider vom Leib riss und sich einfach ins Wasser plumpsen ließ. Es war eines der ersten Salzbecken, aus dem das Wasser nach etlichen Tagen unter der sengenden Sonne in das nächste, weniger tiefe Becken geleitet wurde, bis schließlich am Ende in einer ganzen Reihe von immer flacheren Bassins das Salz auskörnte. Als Khor es Ailin gleichtat und sich ebenfalls ins Becken fallen ließ, erschrak er zunächst, denn das Wasser war so warm wie in Mutters Badeschüssel. Obwohl die Sonne schon kräftig brannte, war die Luft, entsprechend der Jahreszeit, noch frisch. Doch in dem aufgeheizten Wasser des Salzbeckens fühlte es sich wohlig warm und aufgehoben an. Auch Ottel und Sarti stürzten sich hinein und jauchzten wie die Kinder.

„Was ist das nur für eine Schweinerei“, meinte Sarti plötzlich. „Wir waschen hier unsere stinkigen Leiber in eurer Salzbrühe und irgendwann einmal streut ihr euch das Salz aufs Brot.“

Ailin lachte vergnügt und deutete landeinwärts. „Siehst du die Salzbecken dort? Es sind Hunderte bis endlich Salz aus dieser Brühe hier geworden ist. Dreh dich um! Siehst du, die ganze Bucht ist voll mit solchen Salzbecken. Ein bisschen bis ins Unendliche verdünnter Menschengestank mag sogar noch eine besondere Geschmacksnote hinzufügen. Wir pissen sogar manchmal hinein …“

„Darum ist das Wasser wohl auch so warm, du altes Ferkel“, polterte Ottel und alle planschten ausgelassen wie die Kinder. Doch das warme Wasser war beruhigend und außerdem war man froh, nicht mit nasser Haut an die kühle Luft zu müssen. So lagen sie schließlich einer neben dem anderen im wohlig warmen Wasser und sahen die Sonne im Westen glutrot versinken. Sobald ihre Strahlen die Kraft verloren hatten, stieg weißer Dampf von den warmen Salzbecken in die kühler werdende Luft der Dämmerung. Schon bald waren die Ufer der gesamten Bucht unter zarten Nebelschleiern verschwunden. Khor musste lachen, denn von den Köpfen seiner Freunde zogen ebenfalls feine Nebelgespinste nach oben, so dass man meinen konnte, sie rauchten. „Ihr seht aus, wie Wachteln in der Feiertagssuppe“, frotzelte er. „Gut gesalzen seid ihr jedenfalls.“

Als er dann wenig später, frisch gebadet und im eiskalten Meer von den salzigen Rückständen befreit, mit den Freunden beim Festmahl seiner Gastgeber saß, erinnerte sich Khor an Ailins Bemerkung als sie im Salzbecken saßen und prüfte sehr genau, ob dem Salz etwa ein eigenartiger Geruch oder Geschmack anhaftete. Die Frau des Hauses erkundigte sich sogleich besorgt, ob denn mit dem Salz irgendetwas nicht stimme. Doch Khor schüttelte nur den Kopf, grinste verlegen und streute sich eine ordentliche Prise auf den Brotfladen, der dick mit Rahm und Butter bestrichen war.

Es war ein heiterer Abend voll netter Gespräche und Erzählungen. Khor konnte beobachten, wie Gwenaël etliche Kinder vorgestellt wurden, denen er jeweils ein Geschenk überreichte: Ein halbwüchsiger Junge bekam einen Prunkdolch, ein etwas jüngeres Mädchen eine wertvolle mit Kraken bemalte Schüssel. Gwenaël verteilte sogar von Coiras Stoffen und verschenkte einige Brocken Bernstein. Ein besonders aufgewecktes Mädchen hatte es sich derweil auf Gwenaëls Schoß bequem gemacht und weigerte sich trotz der mahnenden Worte ihrer Mutter strikt, den einmal eroberten Platz wieder aufzugeben. Sie kuschelte sich nur noch umso fester an Gwenaël. Er ließ sie gewähren und liebkoste sie so herzlich, dass Khor fast meinte, einen völlig anderen Menschen vor sich zu haben: Ein Hüne, der nichts als weich und zärtlich war. Es waren dies, wie er später erfuhr, tatsächlich Kinder, die Gwenaëls flüchtigen Liebschaften entsprungen waren. Dem Alter der Kinder entsprechend mussten diese jedoch bereits einige Jahre zurückliegen. Geduldig hörte sich der stolze Vater die Berichte über die jeweilige Entwicklung seiner Sprösslinge an, gab Ratschläge und besprach sich mit den Müttern sowie den Vätern, welche seine Nachkommen an Kindes statt angenommen hatten. Khor staunte, wie herzlich und zugewandt diese Gespräche ohne jedwede Eifersüchtelei oder versteckte Vorwürfe abliefen; selbst die Männer schienen sich untereinander ausnehmend gut zu verstehen. Khor entnahm den Gesprächen, dass eine Tagesreise von den Salzfeldern entfernt, inmitten des Meeres eine Insel lag, die seit alters her für die Seegeborenen als Stützpunkt diente und mit der es regen Austausch gab. Anders als bei ihm zuhause und überall sonst auch, gingen hier nicht die Frauen in die Familien ihrer Männer, sondern umgekehrt - die Männer verließen ihr Zuhause und lebten in den Familien der Frauen. Erst durch Sartis interessiertes Nachfragen verstand Khor, was dies letztendlich bedeutete: Es waren die Frauen, welche die Familie fortführten und schließlich auch deren Besitz erbten. Sie waren die Landgeborenen, die die Felder bestellten und das Vieh versorgten. Früher einmal waren die Männer als Seegeborene ständig unterwegs und brachten reiche Beute von ihren Raubfahrten zurück, während es heute bei den Wenigen, die noch als Seegeborene lebten, Ergebnisse glücklichen Tauschhandels waren. Nichtsdestoweniger wünschten die meisten Frauen einen Ehemann, der auch anwesend war und nicht ständig auf See. Also heirateten sie entweder Einheimische, was jedoch ein wenig anrüchig zu sein schien, wie Khor meinte, bemerkt zu haben, oder aber Landgeborene von jener eine Tagesreise entfernten Insel. Frauen von dort heirateten selbstverständlich auch Männer von den Salzfeldern, so dass beide Sippen, die Menschen von der Insel und jene von den Salzfeldern, inzwischen zu einem einzigen Volk verschmolzen waren. Voller Stolz bestanden sie allerdings darauf, dass die Unterschiede zwischen ihnen kaum größer sein konnten. Khor feixte, als er ihre Beweisgründe hörte, erinnerten sie ihn doch an all die dummen Dinge, die man auch zuhause von den Menschen behauptete, die hinter dem Zerbrochenen Berg, am Meer oder in der Bernsteinstadt im Süden lebten: Sie seien faul, oftmals überheblich, unstet und bei weitem nicht so gebildet wie die Menschen hier. Und nicht wenige von ihnen, so wurde durch lebhaften Beifall bestätigt, waren sogar ausgesprochen dämlich, wenn nicht gar dumm. Sie schmatzten und rülpsten beim Essen, was man hier jedoch als ungehörig empfand. Und schon schmatzten und rülpsten alle, um den Gästen vorzuführen, was ihnen hier erspart blieb. Man lachte viel, durchaus auch gerne über sich selbst, man trank Apfelmost und kostete das Bier. Man nahm die Gelegenheit wahr und ließ diesen Abend zu einem ausgelassenen, zu einem fröhlichen Abend werden.

„Heute habe ich das erste Salz des Jahres geerntet“, rief der Gastgeber plötzlich und erhob sich. „Und heute haben wir liebe Gäste.“ Beifall. „Also soll heute ein Feiertag sein. Heute ist alles erlaubt, was Freude macht und Freude bringt.“ Man bejubelte diese Ankündigung wie ein lang ersehntes Geschenk. Khor verstand auch sogleich warum. So manches über die Zeit versteckte Begehren durfte nun unverhohlen geäußert werden. Der offenbar einheimische Mann der Mutter des Mädchens, das auf Gwenaëls Schoß saß, teilte einer drallen Roten lächelnd mit, dass er ihren Busen stets mit Lust und Freude betrachte. Woraufhin die Angeschwärmte in albernes Kichern ausbrach und ein atemloses „Wirklich?“ nach dem anderen losließ, um ja nur noch mehr von derart netten Worten gesagt zu bekommen. Derweil rückte die zurückgelassene Ehefrau noch ein Stückchen näher an Gwenaël heran. „Er liebt große Brüste“, hauchte sie. „Du doch auch, wenn ich mich recht entsinne.“ Khor nahm zur Kenntnis, dass dem offenkundig so war.

„Bist du nicht der mit dem Wolf?“ wurde Khor plötzlich gefragt, während sich eine Hand auf seinen Oberschenkel legte. Ein strahlend schöner Jüngling mit goldenen Ringen im Haar hatte sich neben ihn gesetzt.

„Doch“, entgegnete Khor, „das bin ich“ und nahm die Hand des anderen und legte sie sanft, aber bestimmt auf dessen eigenes Bein zurück.

„Ach, schade“, lachte der Goldberingte und bemerkte Khors erstaunten Blick. „Damit meine ich nicht, dass ich es schade finde, dass du der Wolfshundtreiber bist, sondern dass du meine Hand zurückgelegt hast. Dabei habe ich eben noch zu meiner Schwester gesagt, dass du wohl etwas für mich sein könntest.“ Fragend blickte er Khor in die Augen. „Nicht? Na dann sollte ich doch wohl besser ihr diesen Platz hier neben dir überlassen.“

„Es ist Feiertag, nicht wahr?“, grinste Khor.

„Jawohl, es ist Feiertag! Und, mein Freund, das heißt, dass jeder jedem sagen darf, dass er gerne ein wenig die Lust am Leben mit ihm teilen würde. Wenn der andere nicht mag, dann darf man aber nicht gram sein, dass man abgewiesen wurde. Ebenso wenig wie jener, der gefragt wurde, verärgert darüber sein darf, dass er gefragt wurde.“

„Aha“, meinte Khor, nicht sicher, ob er auch richtig verstanden hatte. „Niemand nimmt jemand etwas übel, nicht wahr?“

„So ist es!“, rief der Goldberingte begeistert und gab Khor einen Kuss auf die Stirn. „Was für ein hübscher und kluger junger Mann du doch bist.“

Khor schubste ihn lachend zurück. „Lass das, du frecher Kerl. Ich hab’s dir doch schon gesagt, dass mir nicht der Sinn danach steht.“

„Ach, bist du süß! Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn ich nicht doch einen Versuch unternommen hätte. Also wenn du deine Meinung noch ändern solltest …“, er zwinkerte auffordernd. „Von euch Vieren hast du mir jedenfalls am besten gefallen.“

„Ottel“, fiel es Khor ein.

„Ihhh, nein! So ein Mannsbild! Er sieht ja ganz sauber und gepflegt aus, aber er ist bestimmt ein grober Kerl.“

Khor wollte seinem Gegenüber schon mitteilen, wie sehr er sich mit dieser Einschätzung geirrt hätte, als er sich eines Besseren besann. „Und wie gefällt dir Sarti, unser rothaariger Freund?“

„Der Humpler? Eigentlich hat er ja ein ganz nettes Gesicht. Und wenn er lacht, sieht er herzallerliebst aus. Und seine roten Haare …“ Abschätzend wiegte er seinen Kopf. „Ich schau mir das einmal von der Nähe aus an. War nett, mit dir geplaudert zu haben.“ Und so schnell er gekommen war, so schnell war der Goldberingte auch wieder verschwunden. Sarti, dessen war sich Khor sicher, war allerdings schon längst vergeben. Er war umzingelt von einigen üppigen rotblonden Schönheiten, die sich sehr um seine Aufmerksamkeit bemühten. Offenbar hatte er sich aber noch nicht recht entscheiden können, denn er schäkerte mal mit der einen und dann wieder mit einer anderen. Der Goldberingte musste allerdings einsehen, dass er auch hier nicht weiterkommen würde und wandte sich stattdessen einem betrübt dreinschauenden Ehemann zu, dessen Frau sich an diesem Feiertag jemand anderen ausgesucht hatte. Und wie Khor vergnügt feststellen konnte, war der Alleingelassene auch bald sehr viel weniger betrübt.

Ottel war neben Gwenaël der am meisten begehrte Gast des Abends und genoss die bewundernden Blicke sichtlich. Er war umlagert von den Bewunderern von Männlichkeit – und zwar beiderlei Geschlechts. Stolz zeigte er seine Waffen vor und berichtete von waghalsigen Heldentaten, bemerkte aber schnell, dass bronzene Schwerter und Dolche für seine Zuhörer lediglich ein willkommener Anlass waren, um mit ihm zu plaudern und ihm ein wenig näher zu kommen. Eine üppige Blonde schien ihm besonders zugetan zu sein und hing mit vor Aufregung roten Wangen an seinen Lippen. Aber auch Ottel hatte offenbar Gefallen an ihr gefunden, wie Khor erheitert feststellte. Ihre Lust auf ihn erweckte offenbar auch die seine. Nun, es war schließlich Feiertag …

Selbst um Broc scharten sich etliche Bewunderer, die erkennen ließen, dass sie nicht nur an seinen Weisheiten interessiert waren. Doch wie Sarti konnte auch er sich nur schlecht entscheiden, welcher der Frauen er seine Gunst schenken sollte. Verstohlen blickte Khor zu ihm herüber, denn es interessierte ihn sehr, ob Broc sich nicht doch für die zurückhaltende, nicht mehr ganz junge Frau entscheiden würde, die ihn in ein Gespräch über Heilpflanzen zu verwickeln versuchte. Es sah so aus, als ob sie sich in der Lobpreisung der Heilkräfte des Huflattichs einig waren und sich über die Begeisterung des jeweils anderen freuten. „Dein Wissen um die Heilpflanzen“, hörte Khor seinen Freund Broc noch säuseln, „ist überaus beeindruckend.“

„Mein Bruder schickt mich“, unterbrach ihn plötzlich eine Stimme in seinen Beobachtungen. Als Khor sich danach umdrehte, bemerkte er, dass auch auf ihm etliche Augenpaare ruhten. Ein Mädchen hatte sich direkt neben ihn gesetzt. „Er sagt“, flüsterte sie ihm zu, „dass du die Lust am Leben lieber mit Frauen als mit Männern genießt.“

Khor sah sogleich die Ähnlichkeit des Mädchens mit ihrem Bruder. Auch sie trug goldene Ringe in ihrem rotblonden Haar und ließ keinerlei Zweifel daran, dass sie Gefallen an ihm gefunden hatte.

„Du musst entschuldigen“, sagte Khor zu ihr, „aber dort, wo ich herkomme, ist man zurückhaltender. Bei uns fürchten die Frauen immer gleich, schwanger zu werden. Denn eine Frau mit Kind und ohne Mann hat es schwer bei uns, weil man ihr schnell einen lockeren Lebenswandel unterstellt.“

„Ach“, entgegnete das Mädchen, „wie bei den Ureinwohnern hier auch. Aber mach dir keine Gedanken“, sie rückte näher an ihn heran und strich ihm eine Locke aus der Stirn. „Wir sehen Kinder immer als Geschenk. Außerdem darf jeder von uns sein Leben so leben wie er es will. Und ganz besonders an Feiertagen wie diesen. Heute ist alles erlaubt.“ Sie griff seine Hand und zog ihn einfach mit sich fort.

Khor wusste gar nicht, wie er sich verhalten sollte. Am liebsten hätte er sich umgedreht und seine Freunde zur Hilfe gerufen. Aber das hätte ihm nur höhnisches Gelächter und Spott auf Lebenszeit eingebracht. Also ließ er sich von dem Mädchen fortziehen wie ein Schaf, das seinen Weg verloren hat. Fahrig schaute Khor sich um, doch niemand beachtete ihn und ebenso wenig bemerkte jemand, wie er an der Hand des Mädchens aus dem Haus verschwand.

„Hach“, seufzte sie, vor der Tür angekommen, „hier ist es schön frisch und nicht so heiß wie drinnen. Und der Rauch beißt heute auch so in den Augen.“ Sie gab vor, sich eine Träne fortwischen zu müssen. „Ich heiße Eara. Und wie heißt …“ Weiter kam sie nicht. Sie riss ihre Augen derart entsetzt auf, dass Khor sich sogleich erschrocken umdrehte. Es waren die Augen des Wolfshundes, die ihnen aus der Dunkelheit entgegenleuchteten. Er wartete nur auf Khors Schnalzen, um zu ihm zu springen und ihn gebührend zu begrüßen.

„Ist das nicht gefährlich, so eine Bestie um sich zu haben?“, sagte Eara und Khor meinte, einen eifersüchtigen Unterton in ihrer Frage zu hören.

„Keineswegs“, antwortete Khor, während er die Begrüßung des Wolfshundes erwiderte. „Zumal er keine Bestie ist, sondern ein lieber Freund.“ Die Herzlichkeit, mit der die beiden sich begrüßten, ließ keinerlei Zweifel aufkommen, dass dem so war.

„Und der Wolf ist immer an deiner Seite?“

„Fast immer“, entgegnete Khor und gab dem Wolfshund ein Zeichen, woraufhin der sich etliche Schritte entfernt vor einem Haufen aufgestapelten Gerümpels niederlegte und aufmerksam herüber äugte.

„Komm mit“, sagte Eara und ergriff Khors Hand. „Gleich dort drüben ist das Haus meiner Eltern. Und als sie merkte, dass Khor zögerte, setzte sie lächelnd hinzu: „Sie sind wie alle anderen auch in Ronals Haus, um euren Besuch zu feiern. Komm mit, Wolfsbezwinger. Lass uns die Lust am Leben teilen.“

Eara war nicht eigentlich schön. Sie hatte einen rundlichen Kopf, wunderschöne blaue Augen, die ohne jedes Arg in die Welt schauten, einen herrlich vollen roten Mund, aber ein seltsam verkümmertes Kinn, so dass sie immer ein wenig schmollend aussah. Unwillkürlich dachte Khor daran, dass seine Mutter ihr sicherlich sogleich in den Oberarm gekniffen und gemeint hätte, dass sie tüchtiger essen müsse. Nun war Yasemin als Seiltänzerin alles andere als ein Schwergewicht, doch als Eara verschämt lächelnd ihr Gewand fallen ließ, war Khor über die Zartgliedrigkeit ihres Körpers dennoch erstaunt. Weiße Haut leuchtete in der Dunkelheit, umrahmt von rotblonder Lockenpracht - so zart wie eine Schlehenblüte. Berührt man sie, muss man fürchten, sie zu zerdrücken. Khor strich ganz sanft über ihren Arm und sah, wie sich dort die Härchen aufrichteten und Eara ein Schauer über den Rücken lief. Er legte beide Hände auf ihre kleinen Brüste und spürte, wie die Knospen darunter sich aufrichteten und fester wurden.

„Ich mag es, wenn du sie küsst“, lächelte Eara und so genossen beide schließlich die Lust zu leben.

Als die Amseln begannen, ihre Lieder zu singen, wachte Khor auf. Er war verwirrt, dachte er doch zuerst, er sei noch in Twynavon. Aber dann erinnerte er sich, dass er schon seit Tagen unterwegs war. Und er erinnerte sich, woher der Geruch kam, der noch immer an seiner Haut haftete: Eara. Sie schlief selig neben ihm, ihre goldenen Locken wie die Strahlen der Sonne ausgebreitet. Khor wollte schon aufstehen, als er sah, dass man zwei Becher mit verdünntem Apfelmost neben ihr Lager gestellt und einen Kranz aus Vergissmeinnicht darum gewunden hatte.

„Das waren nur die Eltern“, murmelte Eara, die Khors Verwirrung bemerkte. „Du musst dich also nicht davonschleichen. Komm, leg dich wieder zu mir. Es ist immer so kalt am frühen Morgen.“ Sie hob die Decke, damit Khor zurück in die Wärme schlupfen konnte. Als er sich zu ihr legte und ihre weiche Wärme spürte, drückte er sie ganz fest an sich und schmeckte das Salz auf ihrer Haut. So sehr er sich auch bemühte, er konnte es nicht riechen. Er roch nur Eara.

Die Sonne war schon längst aufgegangen, als Khor abermals erwachte. Er sah direkt in Earas lächelndes Gesicht. Sie hatte ihn offenbar schon eine ganze Weile betrachtet, denn sie strich ihm sanft über den Kopf. „Nun ist er wach, der Wolfsbezwinger“, sagte sie sanft. „Jetzt wird aber jemand Hunger haben. Die Eltern warten schon mit dem Frühstück auf uns.“

Es war Khor überaus peinlich, mit Eara aus der Schlafnische zu kriechen, um sich zu den Eltern an die Feuerstelle zu setzen. Die benahmen sich jedoch so, als wäre es vollkommen üblich, dass ein Liebhaber ihrer Tochter sich zu ihnen gesellte, um gemeinsam mit ihnen das Frühstück einzunehmen. Noch peinlicher war es Khor jedoch, dass Earas Eltern sich ungeniert danach erkundigten, ob sie während der gemeinsamen Nacht die Lust am Leben auch in vollen Zügen genossen hätten. Sollte Khor etwa einen Bericht darüber abgeben? Eara ließ auch ohne Worte keinen Zweifel daran, dass sie die Begegnung glücklich gemacht hatte. Sie strahlte ihre Eltern an, die sich unverhohlen darüber freuten, dass ihre Tochter das Erlebnis einer schönen Nacht hinter sich hatte. Die Blicke flogen hin und her und wurden immer wieder von einem Kichern der Mutter begleitet. „Aber leider“, sagte Eara schließlich doch noch und ließ erkennen, dass sie es wohl nicht ganz ernst damit meinte, „leider hat er mir den Vergissmeinnichtkranz nicht überreicht.“

„Kind, was erwartest du?“, entgegnete der Vater. „Ein Fahrensmann, der auf dem Schiff eines Seegeborenen daherkommt. Du wusstest doch, dass er heute wieder abreist.“

„Sicherlich“, nickte Eara. „Dennoch wäre es so schön gewesen.“ Khor sah sie unsicher an. „Keine Angst“, beruhigte sie ihn. „Es ist gut, wie es ist. Ich weiß, dass du nicht bleibst und wahrscheinlich auch nie mehr wiederkommst. Aber wir Mädchen träumen nun einmal gerne von Vergissmeinnichtkränzen, die uns überreicht werden. Nun, was bleibt, ist eine Nacht voller Sinnlichkeit und Lust am Leben, auch wenn du heute wieder gehst.“

Einerseits fiel es Khor schwer, sich von Eara und ihrer Familie zu verabschieden. Andererseits war er jedoch froh, dass sein Leben keine unerwartete Wendung nehmen würde und er aufs Schiff zurückkehren konnte. Als er ins Freie trat, atmete er erleichtert auf. Der Wolfshund begrüßte ihn in gewohnter Weise und tänzelte den ganzen Weg bis zum Hafen um ihn herum. Obwohl er sich nun wirklich nicht über die letzte Nacht beklagen konnte, war Khor doch froh, wieder aufs Schiff zu kommen.

Dort erwartete man ihn schon längst in allerbester Laune. Gwenaël hatte gute Geschäfte gemacht und reichlich von dem überall begehrten Salz geladen. Allen vieren seiner Freunde konnte Khor jedoch an der Nasenspitze ansehen, dass auch sie eine Nacht der Lust genossen hatten. Sie winkten allesamt eifrig, als das Schiff ablegte und langsam zwischen den beiden mit dem Land verbundenen Inseln in die Lagune zurück steuerte. Dort stand auch Eara neben den anderen Frauen und warf, wie diese, ebenfalls einen Kranz aus Vergissmeinnicht aufs Schiff. Fünf Kränze hatte Khor erwartet, doch es waren deutlich mehr, was er sich zunächst nicht recht erklären konnte. Es waren die Mütter von Gwenaëls Kindern, die deren Vater wissen lassen wollten, dass er jederzeit willkommen war. Aber auch einige Mitglieder der Mannschaft waren wohl ebenfalls mit einem derartigen Abschiedsgruß bedacht worden, denn die Kränze wurden allesamt schnell aufgehoben. Auch Sarti hatte sich nach dem ihm zugedachten Blumenkranz gebückt und ihn an sein Herz gedrückt.

„Sieh dich vor, Sarti“, mahnte Gwenaël. „Diese Kränze sind zaubermächtig. Sie umschlingen dein Herz und halten es gefangen, wenn du nicht aufpasst. Es ist besser, du gibst sie dem Meer.“ Und schon hatte Gwenaël alle seine Kränze ins Wasser geworfen.

„Fort mit den Zauberzeugs“, rief Ottel und überließ auch seinen Kranz den Wellen, während Broc noch eine Weile zögerte und die Vergissmeinnicht dann schließlich doch ins Wasser gleiten ließ. Khor kam sich schäbig vor, als er es ihm gleichtat. Aber es war, was es war: Die Nacht eines Feiertages, die ohne weitere Folgen oder Verpflichtungen vorübergegangen war. Doch was ist, schoss es ihm durch den Kopf, wenn Eara ein Kind von ihm erwartete? Er würde wohl kaum jemals davon erfahren.

Schweigend saß Khor im Heck und verwöhnte den Wolfshund mit Liebkosungen. Längst hatten sie die Lagune hinter sich gelassen und steuerten bereits auf offener See. Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Es war Gwenaël.

„Sag bloß, es wäre dir lieber, wenn wir umkehrten“, fragte er.

Khor schüttelte den Kopf. „Aber nein. Ein Leben in den Salzfeldern passt leider nicht zu dem, was ich mit meinem Leben anzustellen gedenke.“

„Na, siehst du!“ Gwenaël lachte und klopfte ihm auf die Schulter. „Sieh es doch einfach als das, was es war: Ein Feiertag.“

„Ich denke Eara sieht es ebenso“, erwiderte Khor. „Dennoch habe ich kein gutes Gefühl, einfach so auf einem Schiff davonzusegeln. Wer weiß, vielleicht habe ich ihr ein Kind gemacht.“ Fragend sah er Gwenaël an.

„Nun, das wirst du wohl kaum je erfahren“, antwortete der. „Außer du kommst eines Tages wieder, um nachzusehen. Ich habe auch gestern erst erfahren, dass mein letzter Besuch vor Jahren ebenfalls nicht ohne Folgen blieb. Solch ein herziges Mädelchen. Am liebsten hätte ich sie mitgenommen und zu meiner Coira gebracht. Aber sie ist gut aufgehoben, dort wo sie ist und es geht ihr gut. Ich mache meiner Coira lieber noch ein weiteres Kind, wenn ich zurückkomme. Und dann ist da ja auch noch das Ungeborene, das dann zur Welt gekommen sein wird. Ich liebe Kinder, weißt du“, rief Gwenaël und strahlte Khor glücklich ins Gesicht.

„Aber fühlst du dich als ihr Vater nicht auch verantwortlich für sie?“ Khor plagten eindeutig Gewissenbisse.

„Nun, sie haben doch alle ihre Väter, die sich um sie kümmern und sie groß ziehen.“ Gwenaël zuckte mit den Schultern. „Ich bin doch nur ihr Erzeuger und sonst nichts.“

„Aber weißt du auch, ob es ihnen allen gut geht und sie ausreichend versorgt sind? Dass sie mit Achtung und Respekt ihr Leben beginnen und auch späterhin führen können? Dass sie geliebt werden und selber zu lieben lernen?“

„Bei jenen, von denen ich weiß, ist das sicherlich so. Und zu jenen, von denen ich nichts weiß, kann ich dir natürlich nichts sagen.“

„Von Gaëlle hast du nichts gewusst“, wandte Khor ein. „Und irgendwann einmal wäre sie mit Gewissheit als Räuberin und Diebin erschlagen worden.“

„Ihre Mutter wusste damals, worauf sie sich einließ – nämlich auf einen Seegeborenen. Aber sie hatte sich und ihre Kraft überschätzt. Bei diesen Völkern zählen Mütter und Kinder ohne Väter eben leider nicht viel. Also meide deren Weiber besser, wenn du kein Unglück in die Welt setzen willst. Ich habe jedenfalls keine mehr von ihnen angefasst.“

„Es soll mir eine Lehre sein“, nickte Khor.

Sie hatten die Halbinsel, an deren nördlichen Längsseite die Einfahrt zu den Salzfeldern lag, schon längst umrundet, als Khor sich noch einmal umsah. Das Land zog sich immer weiter zurück, bis es kaum noch als schmaler Streifen am östlichen Horizont auszumachen war. Die Sonne brannte hier deutlich stärker als zur selben Jahreszeit zuhause. Sie wärmte, trotz der kühlen Frühlingsluft. Das Meer war tiefblau und über den Himmel jagten freundliche weiße Wolken. Khor beobachtete, wie Sarti irgendwann doch noch den Kranz aus Vergissmeinnicht ins Wasser fallen ließ. Weitab vom Land, so dass er mit Sicherheit nicht mehr dort angespült werden konnte. Broc, müde, ständig bei Namen gerufen zu werden, bemühte sich, dem Raben Gwenaëls Namen beizubringen. So begabt der Vogel ansonsten auch war, hier brachte er nichts weiter hervor, als ein klägliches Geweneël. Doch Broc blieb hartnäckig. Währenddessen saß der solcherart Verballhornte mit Ottel am Bug, wo sie munter miteinander plauderten.

Khor liebte diese Augenblicke, in denen sich Zeit und Raum verloren. Das Land war so gut wie außer Sichtweite, so dass man keinerlei Bezugspunkte mehr hatte, an denen man sein Fortkommen hätte feststellen können. Und das Meer bot immer denselben Anblick: Blau und weit, mit immer gleichen Wellen und ohne Ende. Ebenso verlor Khor auch das Gefühl für die Zeit. War es nun ein halber Tag, den sie durchs große Blau trieben oder hatte es nur ein paar Atemzüge gedauert? Er legte sich flach auf die Bank und schaute in den Himmel. Die Wolken schienen unbewegt am Himmel zu stehen, was Khor wunderte, denn es wehte eine stete Brise, die sie beständig vor sich hertrieb. Da diese Brise aber auch das Schiff antrieb, schlussfolgerte Khor, waren Schiff und Wolken in etwa gleich schnell.

Das Starren in den Himmel ermüdete seine Augen und so musste er blinzeln. Wie kräftig die Sonne doch schon brannte, obgleich die Frühjahrstagundnachtgleiche noch nicht lange her war. Wieder musste Khor daran denken, dass sie zuhause vielleicht sogar noch Schnee hatten. Vielleicht schimpfte der Vater just in diesem Augenblick, weil der Schnee die aufgestapelte frische Holzkohle zugedeckt hatte. Mutter würde mit hochrotem Kopf an irgendetwas herumwerkeln und seine Schwester Perachta … Wie sie jetzt wohl aussehen mochte, überlegte Khor. Es quälte ihn, dass er sich keinerlei Vorstellung davon machen konnte. Ebenso wenig, wie er sich das Gesicht seines Sohnes vorstellen konnte. Ob Yasemin und Chrabor ihn auch zu einem guten Menschen heranwachsen ließen? Er fühlte, dass dem so sein musste. Hatte er nicht mit eigenen Augen gesehen, wie liebevoll Chrabor mit dem Kleinen umgegangen war? Aber waren sie auch alle gesund? Khor versuchte, zu hören, ob denn der Wind ihm etwas berichtete. Aber es war nichts Aufgeregtes in seinem Hauch zu hören, nur ein wohlig einlullendes, sanftes Rauschen. „Khorrr“, rief der Rabe plötzlich und umflatterte ihn.

Khors Fahrten

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