Читать книгу Khors Fahrten - Wieland Barthelmess - Страница 11

Die Rote Gaëlle

Оглавление

Trotz Myrdins Warnung machte Gwenaël Anstalten zum Aufbruch. Broc und Sarti waren bereits in der Hütte von Belas verschwunden, wo sie sicherlich längst friedlich schlummerten. Als Khor erfuhr, was sein Freund vorhatte, machte er sich ebenfalls bereit. „Ich komme natürlich mit dir, Gwenaël“, sagte er keinen Widerspruch duldend. „Vier Arme und ein kräftiges Wolfsgebiss dürften eine bessere Aussicht auf heile Ankunft bieten, als ein Einzelner.“

„Sechs Arme!“, rief Ottel begeistert. „Ich werde euch beide wohl kaum alleine gehen lassen!“

Die Stadt lag bereits in tiefstem Schlaf, als Gwenaël, Ottel und Khor mit dem Wolfshund aufbrachen. Das Tor war längst schon geschlossen, obwohl die Mitte der Nacht noch nicht erreicht war. Der Wächter saß auf einer Bank in der Tordurchfahrt und hatte seinen Kopf gegen den Speer gelehnt. Er schnarchte laut.

„Aufgewacht!“, Gwenaël trat gegen den Schaft des Speers, so dass der Kopf des Wächters aus dem Gleichgewicht geriet und ihn erschrocken zusammenzucken ließ. „Auf, Gevatter! Öffne das Tor für uns!“

„Ihr schon wieder?“, kam es überrascht zurück. „Hat euch Myrdin schließlich doch noch rausgeschmissen, ihr Wassernomaden.“

„Red nicht, sondern öffne das Tor“, herrschte ihn Ottel an.

„Das Tor ist bereits geschlossen. Hier kommt keiner mehr rein.“

„Wir wollen auch nicht rein – sondern raus!“ Breitbeinig stellt sich Ottel auf. „Außerdem ist es noch nicht Mitternacht. Also: Auf das Tor!“

„Vielleicht habt ihr ja Myrdin und seine ganze Familie erschlagen und sucht nun das Weite mit eurer Beute?“

„Red keinen Blödsinn!“ Myrdin war hinzugekommen. „Und jetzt mach das Tor auf!“

Es war Khor wahrlich nicht wohl, in dunkler Nacht den Weg entlang zu gehen, der im Licht des abnehmenden Mondes gerade einmal auszumachen war. Schob sich eine Wolke über den bleichen Gesellen, hoffte Khor jedes Mal, dass sie schnell vorüber ziehen würde. Wie ein Blinder folgte er dann dem Wolfshund, der sehr wohl verstanden hatte, dass es an ihm war, den Weg zu weisen.

Anfangs kicherte Ottel noch, wenn er über irgendeinen Stein oder Ast stolperte. Irgendwann einmal wurde es ihm jedoch zu bunt und er fluchte, was das Zeug hielt. Gwenaël hatte es eilig. „Na, viel Schlaf bekommen wir heute Nacht nicht mehr“, knurrte er. Er erzählte seinen Freunden, was seine Pläne für den morgigen Tag waren, wenn die Tauschgeschäfte abgeschlossen seien. Er wolle endlich eine Antwort darauf finden, ob er seine Pflichten gegenüber einem Kind vernachlässigt hatte oder nicht. Khor schaute betreten drein, wusste er doch, dass er selbst gar nicht erst nach einer Antwort suchen musste. Denn er wusste, dass irgendwo in den Wäldern, wo der Honig von den Bäumen tropfte, sein Sohn ohne ihn aufwuchs. Sogar Ottel hing entsprechenden Gedanken nach. Hatte er es doch immer vermieden, sich diese Frage überhaupt zu stellen. Ein, zwei kleine Ottels könnten schon in der Welt herumlaufen, überlegte er. Manche Frauen fand er schon durchaus anziehend. Und wenn dann noch die Stimmung entsprechend war und die Frau ihn wissen ließ, dass sie auch ein wenig Spaß haben wollte … Nein, Ottel war nie ein Kostverächter gewesen.

Khor war froh, dass der Mond endlich eine größere Wolkenlücke gefunden hatte. So konnte er schon bald den spitz zulaufenden Eingang zu den ersten Steinreihen erkennen. Wie bleiche Gestalten hoben sich die aufgestellten Steine vor dem Schwarz des Waldes ab. Khor verstand nur zu gut, warum die Menschen glaubten, dass jeder der Felsen für einen ihrer Ahnen stehe. Wenn dem so war, so überlegte er, dann dürfe er sich wohl gut geleitet fühlen. Er glaubte sogar zu spüren, wie er gelassener wurde, als er die Reihen abschritt. Mit einem Kopfnicken begrüßte er jeden der Steine, als seien sie altehrwürdige Verwandte. „Sei gegrüßt, Gevatter.“

Ottel kicherte. Aber auch er war ergriffen von der Vorstellung, dass all seine Ahnen bis zurück nach Wilusa ‑ von wo seine Vorfahren einst gekommen waren ‑ hier versammelt wären. Von einigen wusste er die Namen und so versuchte er irgendwelche Anhaltspunkte zu finden, ob er sie vielleicht sogar unter den Abertausenden von Steinen erkennen könne. „Nichts für ungut“, flüsterte er dann, wenn er am jeweiligen Stein vorüberging. „Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

Das gleichmäßige Hecheln des Wolfshundes wirkte beruhigend auf Khor, wäre sein Freund doch der Erste, dem etwas Ungewöhnliches auffallen würde. Zudem hatten sich Khors Augen mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, so dass er sich gar nicht mehr so hilflos fühlte. Gerade hatten sie den großen Knick nach links erreicht, den die Steinreihen machten, während sie immer schmaler wurden, als der Wolfshund drohend knurrte. Er war schon seit einiger Zeit nicht mehr voraus- und wieder zurückgelaufen, wie es sonst seine Gewohnheit war, sondern hatte sich dicht neben Khor gehalten. Khor folgte dem Blick des Wolfshundes – und sah schließlich den Grund für dessen Knurren im dichten Unterholz.

„Gevatter Bär, troll dich!“, rief Ottel amüsiert. „Wir sind zu dritt und haben außerdem einen ebenfalls vierfüßigen Freund. Wir wollen dir nichts Böses. Also geh deines Wegs.“

Als hätte der Bär ihn verstanden, richtete er sich auf, brummte missmutig, drehte sich um und verschwand im Dickicht.

„Er wäre wohl kaum so ohne weiteres verschwunden, wenn ich allein des Wegs gekommen wäre“, meinte Gwenaël. Er gab Khor einen Klaps auf die Schulter und stieß Ottel mit der Faust auf die Brust. „Und wenn dein Fell nicht so stinken und du nicht so haaren würdest“, wandte sich Gwenaël dem Wolfshund zu, „würde ich dich auch mal in den Arm nehmen.“ Der Wolfshund legte den Kopf auf die Seite und guckte ratlos. „Lasst uns weitergehen“, meinte Gwenaël schließlich.

Hatten sie den ersten Teich, der die Geburt symbolisierte, noch einfach umgehen können, so mussten sie nun wohl oder übel die Furt nehmen, um den Teich zu durchqueren, der für das Erwachsenwerden stand. Beide Teile des wie eine Sichel geformten Sees waren von dichtem Gehölz umstanden, so dass man sich den Weg erst hätte frei schlagen müssen, um ihn umgehen zu können. Also nahmen sie lieber die nassen Füße in Kauf, die in einer kühlen Frühlingsnacht nicht eben angenehm waren. Weiter ging es, unendliche Steinreihen mit Abertausenden von grauen Gestalten entlang. Wenigstens lichtete sich der Wald, so dass man einen weiten Blick zum Meer hatte. Khor meinte gar, bereits das Schiff erkennen zu können. Doch Gwenaël brummte nur „Das ist nicht meins“ und stapfte weiter. Nebel stiegen auf und zogen wie feine Rauchschwaden übers Land. Sie drangen herüber und umschlossen die Steinreihen, was sie keineswegs heimeliger machte.

„Also, ich weiß ja, dass der Stein nur ein Stein ist“, gluckste Ottel. „Aber weiß der Stein das auch?“ Khor guckte verunsichert. „Und wenn da doch einer drinnen steckt?“, fuhr Ottel fort. „Womöglich noch einer, der gar nicht zu unseren Ahnen zählt und der es gar nicht schätzt, wenn wir hier seine Nachtruhe stören.“

„Dann halte besser den Mund, Ottel.“ Gwenaël mochte solche Späße offensichtlich nicht. „Dann störst du auch niemanden.“

Es war nur ein Käuzchen, das rief; aber Gwenaël hatte in Windeseile sein Schwert gezogen. „Ich bin ein Seegeborener“, entschuldigte er sich. „Ich kenne nur das Schreien der Möwen. Meine sonst immer so starke Coira bekommt das Zittern, wenn solch ein Vogel wie eben ruft. Doch warum müssen wir immer alles mit Bedeutung beladen? Ich werde gleich morgen Broc danach fragen. Gibt es denn nichts, das ist, ohne eine Bedeutung zu haben?“

Khor erinnerte sich an die langen Tage in der Priesterschule, an denen man über genau darüber erbittert gestritten hatte. „Nichts hat von sich aus Bedeutung, Gwenaël“, sagte er leise. „Außer wir messen sie ihm bei. Die Dinge und was wir in ihnen sehen, ist nur eine Spiegelung dessen, was in unserer Seele ist. Unsere Ängste, unsere Wünsche, unsere Sehnsüchte, unsere Erwartungen.“

„Mir kommt es aber manchmal schon so vor, als ob die Dinge belebt seien.“ Gwenaël schaute nicht sehr entspannt drein.

„Das ist wieder etwas anderes“, belehrte ihn Khor.

„Oh, ihr Wissenssucher“, lachte Gwenaël. „Anstatt uns Antworten auf unsere Fragen zu geben, findet ihr allenfalls nur neue. Ist die Welt wirklich so schwer zu verstehen? Ist sie so verwickelt vielfältig, dass wir sie vielleicht niemals verstehen werden?“

Der Mond war seit geraumer Zeit hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden und vor ihnen lag nun ein dichter Wald, den die Steinreihen durchquerten. Also zündeten sie schließlich die Fackeln an, um ihren Weg nicht völlig blind fortsetzen zu müssen. Natürlich wussten sie, dass sie damit schon von weitem auf sich aufmerksam machten, weswegen sie es bislang auch unterlassen hatten. Aber zwei Drittel des Wegs lagen bereits hinter ihnen, an die ewig gleichen grauen Steine hatten sie sich inzwischen gewöhnt und beachteten sie nur noch, wenn einer von ihnen eine außergewöhnliche Form hatte. Außerdem waren sie zu dritt - und sie waren bewaffnet.

Weit waren sie noch nicht gekommen, als der Wolfshund seine Rute hochstellte und nur ein leises, kurzes Knurren hören ließ. Khor und Ottel wussten sofort, was dies bedeutete. Ihre Klingen machten ein schleifendes Geräusch, als sie ihre Scheiden verließen. Auch Gwenaël verstand und zückte sein Schwert.

Es huschte links im Wald, es huschte rechts. Ein Wispern hier, das Knacken eines Zweiges dort. Ein Vogel wurde aus dem Schlaf gerissen und flatterte schimpfend davon. Irgendetwas war da, Khor spürte es genau und merkte wie seine Hand um den Schwertgriff feucht wurde.

Es war ein schmächtiger Bursche der plötzlich vor ihnen zwischen den Steinreihen stand und offensichtlich auf sie wartete. Khor konnte nur gerade einmal seine Umrisse erahnen, denn der andere hatte seinen Mantel wie eine Kapuze über den Kopf gezogen. Schwarz wie die Nacht und unbeweglich stand er da und ließ die vier Freunde auf sich zukommen.

Gwenaël konnte nicht mehr länger an sich halten. „Hoiho, du schwarzer Schatten. Wartest du auf uns? Dann sag uns: Bist du Freund oder bist du Feind.“

„Das wird sich zeigen“, kam es ohne eine Spur von Unsicherheit zurück. „Was ist’s euch wert, dass wir Freunde werden?“

„Du frecher Kerl! Noch nicht einmal trocken hinter den Ohren, aber schon ein großes Maul“, rief Gwenaël belustigt.

„Was ist es dir denn wert“, mischte sich nun Ottel ein, „dass wir Freunde werden?“

„Mir?“, lachte eine glockenhelle Stimme zurück. „Mir ist’s einerlei. Ich nehm’s wie’s kommt!“

Es knackte aus allen Richtungen des Waldes und ehe sie es sich versehen hatten, waren sie von Kindern und Alten umringt, die mit Stöcken, Fäusten und Füßen nach ihnen schlugen, stießen und traten.

„Das sind Kinder!“, rief Ottel entsetzt und hielt sein Schwert so weit empor es nur eben ging, damit nur keiner der danach hüpfenden Plagegeister heranreichte. „Ich kann doch keine Kinder erschlagen!“

„Oder alte Weiber!“, schrie Gwenaël nicht minder entsetzt.

Khor hatte anfangs noch mit seinem Dolch herumgefuchtelt, was den Wolfshund derart in Rage brachte, dass er etliche, sowieso schon zerlumpte Kleidungsstücke endgültig in Fetzen riss und mancher Schmerzensschrei eine üble Bisswunde anzeigte. Khor musste ihn mehrfach anzischen, bis er schließlich seinem Befehl folgte und auf die ihm eigene Weise hüpfend davonlief, um im Wald zu verschwinden. Im selben Augenblick hätte Khor einem Mädchen, das ihn aus angsterfüllten Augen anstarrte, während sie sein Bein umklammert hielt, die Kehle durchschneiden müssen. Oder ihr zumindest ihre vorlauten Hände zerstechen. Überall zerrte und zog es an ihm und er sah keineswegs nur Angst in den Augen, die ihn anstarrten, sondern auch bösen, mitleidlosen Hass. Mit eiskalten, knochigen Fingern versuchte eine rasende klapprige Alte seine Kehle zuzudrücken. „Ich kann es nicht!“, rief Khor verzweifelt. „Ich kann sie einfach nicht abstechen!“

Gwenaël und Ottel war es kaum anders ergangen. Sie lagen wie Khor unter einem grapschenden, geifernden, unablässig nach ihnen greifenden Haufen zerlumpter Menschen.

„Dass mir die drei aber auch heil bleiben“, brüllte der Bursche mit sich überschlagender Stimme. Und das Gewicht, das Khor zu erdrückten drohte, wich langsam und ließ ihn wieder Luft schöpfen. „Bah, ihr stinkt vielleicht!“, entfuhr es ihm.

„Und wie!“, rief Ottel herüber, „wie die Schweine. Man sollte euch erst mal alle ins Meer tunken.“

„Unsere Möglichkeiten sind leider nur sehr begrenzt“, antwortete der schwarze Bursche. „Für manche Menschen ist es nämlich ein Spaß, an badenden Ausgestoßenen ihre Fähigkeiten mit Pfeil und Bogen auszuprobieren. Von den Klippen aus ist dies ja auch nicht allzu schwer.“

„Du willst mir doch nicht weismachen“, schimpfte Gwenaël, „dass es hier keine Bäche und Flüsse gibt, in denen man sich nicht genauso gut waschen könnte.“

„Doch.“ Ganz ruhig kam die Antwort. „Jedenfalls keine, deren Ufer nicht von einem Bauern, einem Schmied oder sonst jemandem beansprucht werden. Für solche wie uns gibt es noch nicht einmal Wasser.“ Der Bursche kam näher und ließ die Falte des Mantels von seinem Kopf rutschen. Lange rotblonde Haare quollen hervor.

„Wen haben wir denn da?“, rief Ottel verdutzt. „Noch so ein grapschendes Gör. Ist es denn hier in eurer Gegend üblich, dass junge Mädchen auf Raubzug gehen?“

„Wenn es die Umstände erfordern …“, sagte die Rotblonde. „Glaubt aber ja nicht, dass wir weniger entschlossen seien, euch die Kehlen durchzuschneiden. Allein eure Kleidung lohnt schon den Mord, ganz zu schweigen von euren Waffen.“

„Um sie zu bekommen, müsst ihr uns allerdings tatsächlich die Kehlen durchschneiden“, sagte Ottel fest. „Keiner von uns wird kampflos seine Waffen hergeben.“

„Ihr wärt schon längst an eurem eigenen Blut erstickt, wenn ich es so gewollt hätte.“ Breitbeinig baute sich die junge Frau, die alle drei für einen Burschen gehalten hatten, vor ihnen auf. „Ihr seid gestern mit einem Schiff gekommen. Was haltet ihr also von einem kleinen Tauschhandel?“ Siegessicher schaute sie einen nach dem anderen an. „Euer Leben gegen eure Ladung.“

„Na, na, na“, polterte Gwenaël. „Meinst du nicht, dass du ein wenig unverschämt bist mit deinen Forderungen?“

„Das hängt nur davon ab, wie teuer euch euer Leben ist.“ In der Ferne hörte man einen Wolf heulen, doch Khor wusste augenblicklich, dass es der Wolfshund war. „Wo ist denn der Köter, der euch begleitet hat?“, fragte die Frau. „Er hat sich wohl im Wald verkrochen.“

„Der Köter ist ein Wolf“, erwiderte Khor. „Und er tut, was Wölfe bei Gefahr immer tun.“

Schon wollte die Rotblonde antworten, als sie an Khor irgendetwas entdeckte, das ihr Interesse hervorrief. „Du da“ rief sie und stieß mit ihrem Fuß gegen Khors Bein. „Was trägst du da um den Hals?“

Khor dachte, sie meinte Fenhilds Wurzel und zog sie hervor.

„Das meine ich nicht, diesen albernen Zauberkram. Sondern das Amulett.“ Mit dem Prügel, den sie noch immer in der Hand hielt, deutete sie auf Khors Hals. „Wo hast du das her? Hast du es etwa gestohlen?“

„Ich habe nichts gestohlen“, entgegnete Khor entrüstet und zog an dem Lederband, um das Amulett gänzlich hervorzuholen, das er von Tankhir erhalten hatte. „Ich habe es mir nach einer grausigen Nacht in einem steinernen Loch verdient.“

Die Spießgesellen raunten plötzlich und auch die Rotblonde schien unsicher zu werden, wie sie sich weiterhin verhalten sollte. Sie griff nach dem Amulett und besah es sich genau. „Ihr seid keine Seegeborenen“, stellte sie fest. „Also wer seid ihr? Wo kommt ihr her?“

„Wir kommen von dort, wo der Honig von den Bäumen tropft“, gab Khor verunsichert Auskunft. „Aus der Mitte des Festlandes, weit im Nordosten.“

„Der da auch?“, fragte das Mädchen und deutete mit dem Prügel auf Gwenaël.

„Nein, ich bin Seegeborener“, erwiderte er stolz. „Ich bin der Sohn des Flynn und der Tirrha. Meine Familie lebt in der Nähe des Großen Steinkreises auf dem Land im Meer. Falls du davon schon einmal gehört haben solltest.“

„Meine Mutter hat mir davon erzählt.“ Das Mädchen sah in Gwenaëls Gesicht und schwieg. „Du hast eine eigentümliche Haarfarbe“, sagte sie schließlich.

„So, wie du auch“, gab Gwenaël zurück. „Man möchte geradewegs meinen, du bist eine von uns.“

„Ich gehöre nirgendwo dazu“, entgegnete das Mädchen kühl. „Meine Verbindung zu den Ahnen war zu Ende als meine Mutter starb. Ich war gerade einmal sieben Jahre alt.“

„Und dein Vater?“, wollte Gwenaël wissen.

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Meine Mutter hat mir von ihm erzählt. Ein großer, stattlicher Mann mit ebensolchen Haaren.“ Sie deutete auf Gwenaël. „Ein Seegeborener. Insgeheim hatte sie wohl gehofft, dass er sie mitnehmen würde. Aber er war fortHaarfarbe, als sie am nächsten Morgen aufwachte. Und sie hat nie wieder von ihm gehört.“

„Seegeborene nehmen keine Weiber auf ihren Schiffen mit“, erläuterte Gwenaël. „Das ist Gesetz. Das Meer kann äußerst eifersüchtig sein. Magst du uns deinen Namen und den deiner Mutter nennen?“

„Man nennt mich die Rote Gaëlle. Meine Mutter war die verstoßene Tochter des Gerbers.“

„Und ihr Name war Margaëlle?“, wollte Gwenaël wissen.

„Ihr Name war Margaëlle“, nickte das Mädchen.

„Man erzählt sich üble Geschichten von dir in Kharrenac“, mischte Khor sich ein. „Sie wollen sich Waffen besorgen und dich töten.“

„Dazu müssen sie mich erst einmal fangen. Ihr seht ja selbst: Ihr drei strotzt vor Waffen und konntet dennoch nichts gegen uns ausrichten.“

„Aber nur, weil wir keine Kinder und alte Frauen totschlagen“, sagte Ottel trocken.

„Das ist allein euere Sache“, erwiderte Gaëlle frostig. „Wir können uns derartige Bedenken jedenfalls nicht leisten, denn Myrdin wird es ebenso wenig tun. Wir sind die Ausgestoßenen, die keinen Vater haben, der sich zu ihnen bekennt und der sie beschützt. Wir sind die Ahnenlosen, die keine Reihe von Vorfahren aufzählen können, weil die meisten von uns noch nicht einmal wissen, wer ihr Vater ist. Wir sind die Rechtlosen, die aus der Stadt Getriebenen, die man zu feige war, zu töten. Hoffte man doch, dass die wilden Tiere dies erledigten. Wir sind diejenigen, die von Anfang an niemand wollte und die vor dem verschlossenen Tor stehen, weil man sie nicht bei sich haben möchte. Mitleidlos hat man uns vertrieben. Und ohne jedes Mitleid werden wir auch mit euch verfahren.“

„Aber Kind“, wurde sie von Gwenaël unterbrochen. „Ihr werdet doch nicht eure eigenen Väter töten.“

„Ich weiß nichts von meinem Vater, außer dass er Seegeborener ist und Haare hat wie du. Nicht einmal meine Mutter wusste mehr von ihm. Selbst seinen Namen ahnte sie mehr, als dass sie ihn wusste. Gleichwohl hat sie nie ein schlechtes Wort über ihn verloren. Denn es war ihr selbst gewähltes Schicksal. Für eine einzige glückliche Nacht gab sie ihr Leben auf. Einmal nur wollte sie mit einem solch prächtigen Burschen Freude an der Lust haben. Rücksichtslos hat er seinen Spaß mit ihr gehabt und ließ sie dann in ihrem Unglück allein.“

„Er war ein Seegeborener“, gab Gwenaël zu bedenken. „Und er war noch sehr jung damals. Er hat nie davon erfahren, wie sehr er geliebt wurde. Er hielt es für nichts weiter als Lust und Begehren. Und er wusste nichts von seiner Vaterschaft.“

„Natürlich nicht“, entgegnete Gaëlle. „Er machte einfach die Augen zu. Wie ein Kind, das nicht mehr sehen möchte, was ihm nicht gefällt.

„Manchmal dauert es eben, bis einem die Augen geöffnet werden.“ Gwenaël richtete sich auf. „Keiner von uns ist ohne Fehl.“

„So ist es“, gab Gaëlle zurück. „Und darum haben wir auch keinerlei Bedenken, euch die Kehlen durchzuschneiden. Irgendeine Sünde werdet ihr schon begangen haben, für die der Schnitt sich lohnt.“

„Bedenke!“ Gwenaël sah sie entsetzt an. „Niemand ist ohne Fehl. Also gilt dasselbe dann auch für dich!“

„Aber sicher! Ich kann dir versichern, Väterchen, dass jeder von uns hier den Tod verdient hat. Aber was soll’s? Wir haben nie Mitleid erfahren, also wissen wir auch nicht, wie es ist, Mitleid zu haben. Unser Leben wird von anderen Menschen bestimmt und nicht durch das Schicksal, den Flug der Vögel oder durch die Götter.“ Gaëlle zückte einen spitzen Feuersteindolch. „Und es ist mir einerlei, wer du bist und was du willst. Denn es ist mir genauso einerlei, ob ich heute sterbe oder morgen. Ja, selbst wenn du mein eigener Vater wärest, ich schnitte dir die Kehle durch.“

Khor sah gerade noch die Augen des Wolfshundes im Unterholz aufblitzen, als sich nahezu Gwenaëls gesamte Mannschaft auf die Überraschten stürzte. Elster und Rotfuchs führten sie an und wüteten gnadenlos. Khor ekelte es fast davor, mit ansehen zu müssen, wie sie ihr blutiges Handwerk mit Freude und Stolz zur Vollkommenheit ausübten. Gwenaël hatte sich sogleich auf Gaëlle gestürzt, die ihm zwar noch einen Ritzer am Hals beibringen konnte, aber schnell unter dem mächtigen Mann ihre Kraft verlor, der schwer und blutend auf ihr lag.

„Kind, Kind!“ Die Tränen liefen Gwenaël übers Gesicht. „Die Welt ist nicht nur so, wie du sie kennen gelernt hast. Lass mich dir ihre andere Seite zeigen!“ Um ihn herum stob alles auseinander. Es wurde geschrieen, gestorben und gefleht. „Lasst sein!“ brüllte Gwenaël und stand auf. „Lasst es sein! Hört auf damit! Lasst sie abhauen.“ Gaëlle rappelte sich auf und wollte ebenso die Gelegenheit nutzen, um im Wald zu verschwinden. „Nein, mein Kind“, Gwenaël hatte sie am Schlafittchen gepackt. „Du bleibst hier. Es gilt nachzuholen, was bislang versäumt worden ist.“ Er drehte ihr den Arm auf den Rücken, so dass sie vor Schmerzen aufschrie und in die Knie ging. „Nie, hörst du, Kind, niemals darfst du jemanden herausfordern, der dich mit Gewissheit in die Knie zwingt.“

„Was soll das, Seegeborener!“, schrie sie zurück. „Willst du jetzt all das nachholen, was du in zwanzig Jahren versäumt hast? Du Heuchler!“

Elster und Rotfuchs schauten verwundert drein und waren wohl auch ein wenig enttäuscht, ihr blutiges Handwerk nicht doch noch ein wenig länger ausüben zu können. Khor konnte ihren Widerwillen sehen, mit dem sie ihre Schwerter wieder fortsteckten.

„Du, Ottel! Aber nix großer Krieger heute“, stichelte Rotfuchs.

„Standst ja bloß da und hast Watschen verteilt“, ergänzte Elster.

„Wenn ihr alten Weibern die Kehle durchbohren und Kindern den Arm abhacken könnt, bitte! Ihr seid Kriegshandwerker, ich aber bin Priesterkrieger!“

„Priesterkrieger“, wiederholten die beiden, nickten einander zu und begannen, die Spuren ihrer Arbeit zu beseitigen.

Gaëlle war kaum zu bändigen. Sie trat und biss um sich wie ein gefangener Dachs, bis Gwenaël sich schließlich keinen anderen Rat mehr wusste, als ihr die Hände auf den Rücken zu binden. Sie erreichte seinen Arm und biss zu so fest sie konnte. Gwenaël schrie auf vor Schmerz. „Zwei blutige Wunden sind für heute genug, Kind!“ Er holte aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, so dass sie torkelte und schließlich benommen umfiel.

„Aufs Schiff!“, befahl Gwenaël. „Bevor die andere Brut womöglich mit Verstärkung zurückkommt.“ Seine Augen suchten Khor. „He, Khor, mein Freund! Wo ist denn der Wolfshund?“

„Direkt neben dir, da, schau!“

„Ach, da ist er ja“, Gwenaël ging in die Knie. „So ein braves Hündchen, ist gleich gelaufen und hat Hilfe geholt.“

Der Wolfshund legte seinen Kopf auf die Seite und tat einen Schritt zurück.

„Heute muss ich dich in die Arme nehmen, obwohl du aus dem Maul stinkst und elendiglich haarst.“ Und tatsächlich machte Gwenaël Anstalten, das verstörte Tier zu umarmen. Der Wolfshund legte die Ohren an, ließ ein kurzes Winseln hören, machte sich so dünn es nur ging und ließ das Unabwendbare über sich ergehen. Als Gwenaël ihn wieder losließ, sprang er mit einem Fiepen schnell zu Khor und legte sich flach hinter ihm auf den Boden. Gwenaël lächelte verlegen und klaubte sich eingebildete Hundehaare aus dem Bart. „Los jetzt! Aufs Schiff!“

Es war tatsächlich nur noch ein kurzer Fußweg bis zur Bucht, in der das Schiff lag. Wie aus einer Schlacht in einer der alten Erzählungen kehrten sie heim, dachte Khor, siegreich und frohgemut. Allerdings war die Beute lediglich ein zappelndes, bissiges Bündel, das langsam aus seiner Ohnmacht erwachte. Während des ganzen Weges unterhielten sich Elster und Rotfuchs nur darüber, welchen Unterschied es wohl machen möchte, wenn man einen Mann, eine Frau oder ein Kind tötete.

„Ihr versteht das nicht“, gab Ottel schließlich alle Erklärungsversuche auf. „Nuraghen, wenn ich das schon höre. Ihr seid Wilde von irgend so einer verdorrten Insel. Aber kämpfen könnt ihr, das muss der Neid euch lassen!“

Kaum an Bord ließ Gwenaël Gaëlle ohne weiteres Federlesen in einen der Käfige stecken. Sie wehrte sich so gut sie konnte, schrie, spuckte und trat. „Na, komm schon Mädchen“, sagte Rotfuchs so freundlich er es eben noch vermochte. „Es hat ja keinen Sinn, so herumzuzappeln. Ich muss dir sonst noch wehtun.“

Gwenaël versuchte, mit ihr zu reden, doch Gaëlle schrie ihn nur an und hielt sich schließlich sogar die Ohren zu, um nicht hören zu müssen, was er sagte. „Wozu entführst du mich, alter Mann!“, rief sie immer wieder. „Meine Leute brauchen mich. Ich war es, die sie erst zusammengebracht hat, damit nicht jeder für sich allein verhungert.“

„Du kannst tun und lassen, was du magst“, entgegnete Gwenaël seelenruhig, während Khor seinen Schnitt am Hals versorgte. „Aber erst einmal solltest du die andere Seite des Lebens kennen lernen, damit du dich auch wirklich entscheiden kannst. Geh zurück in dein namenloses Dasein in Dreck und Armut, wenn du willst. Aber vorher bin ich es dir schuldig, dass du erst einmal weißt, wie das Leben auch sein kann.“

„Ich brauche deine edlen Stoffe und die reich gefüllten Teller nicht“, zeterte Gaëlle. „Ich will mich um meine Leute kümmern!“

„Das Kind kostet mich noch den Verstand“, sagte Gwenaël zu Khor, der einen leidlich ansehnlichen Verband zustande brachte. „Sie ist wie ein wildes Tier, das nur um sich kratzt und beißt. Wenn du so weitermachst, du kleine Wildkatze, dann wirst du den Rest deines Lebens noch in einem Käfig verbringen müssen.“

Gaëlle heulte nur noch umso mehr. „Mit welchem Recht hältst du mich hier fest? Bei nächster Gelegenheit beiße ich dir die Gurgel durch!“

„Ich fürchte, ich muss ernst nehmen, was sie sagt“, meinte Gwenaël zu Khor. „Aber ich habe weder Zeit noch Lust, sie zurecht zu biegen. Außerdem bin ich sicherlich auch nicht der Richtige, der ihr beibringen kann, dass es auch Zuneigung, Achtung, Liebe und Mitgefühl auf der Welt gibt. Sie hat ja nur gelernt, wie man sich möglichst schnell ein Stück Brot stibitzen kann.“

„Du kannst mich ja Myrdin ausliefern!“, schrie Gaëlle. „Der schlägt mir den Schädel ein und dann sind alle zufrieden.“

„Wenn dem so wäre, würde ich’s tun“, gab Gwenaël zurück. „Aber ich wäre auf gar keinen Fall zufrieden mit deiner dummen Lösung.“ Und zu Khor gewandt meinte er schließlich: „Da kann nur Tante Una helfen. Das Kind muss erst einmal für einige Zeit zu ihr. Dann kann sie Kräuter sammeln, die Kranken heilen und mithelfen, das Üble aus der Welt zu schaffen.“

„Meine Leute sind ohne mich verloren“, rief Gaëlle verzweifelt. „Ohne mich werden sie verhungern, wenn Myrdin sie nicht vorher totschlägt.“

„Deine Leute müssen zunächst einmal lernen, selbst für sich zu sorgen. Was bleiben sie hier hocken, wie das Vögelchen vor der Natter? Hier haben sie keinerlei Zukunft. Warum gehen sie nicht woanders hin? Die Welt ist groß genug, so dass sich auch für sie noch ein Plätzchen finden wird. Geht landeinwärts! Oder meinetwegen auch auf eine der unbewohnten Inseln! Aber hier, wo euch keiner will, habt ihr keine Möglichkeit zu überleben. Es gibt unendliche Wälder, Wiesen und Weiden auf dem Festland, wo ihr euch niederlassen könnt. Hier erwartet euch nur der Tod.“

„Red du nur recht klug!“, schimpfte Gaëlle. „Wir sind Habenichtse. Kannst du mir sagen, womit wir uns ein neues Leben aufbauen sollen?“

Gwenaël schwieg und schaute nachdenklich nach dem Mond, der hinter Wolkenfetzen sein fahles Licht aussandte. Dann seufzte er tief und winkte Arkan herbei. „Stelle mir einen großen Korb mit allen wichtigen Dingen für eine Urbarmachung zusammen. Beile, um Bäume zu fällen, Sicheln für die Ernte, Stoffe, damit sie vernünftig gekleidet sind, etwas Geschirr. Und irgendwo habe ich auch noch Saatgut, hörst du! Ich leg von mir aus noch etwas Bernstein dazu. Und dann sollen Elster und Rotfuchs damit an Land gehen und zusehen, dass das Lumpenpack den Korb bekommt.“

„Was soll das, du Heuchler!“ Gaëlle raste vor Wut. „Willst du dich etwa von deinem schlechten Gewissen freikaufen?“

Gwenaël sah sie lange an. „Vielleicht. Obwohl, wenn ich’s mir recht besinne, habe ich eigentlich gar keines.“

„Verzeih mir, Gwenaël“, mischte sich Khor ein. „Meinst du nicht, dass es unter Umständen nicht so günstig wäre, wenn Elster und Rotfuchs an Land gingen. Sie haben vorhin arg gewütet. Und von Ottel und mir wissen die Leute, dass ihnen nichts Böses droht. Lass Ottel und mich den Korb an Land bringen.“ Gwenaël brummte zustimmend. „Und dann, bitte“, Khor flüsterte Gwenaël ins Ohr, „nenn Gaëlle nicht immer Kind. Sie ist eine erwachsene Frau.“

Ein wenig mulmig war es Khor schon, als er mit Ottel auf dem kleinen runden Boot aus Weidenrinde an Land ruderte. Glücklicherweise konnte Ottel gut damit umgehen, denn Khor erreichte mit seiner Paddelei nur, dass das Boot wie ein betrunkener Fischotter durchs Wasser taumelte. Sie gingen mit dem gut gefüllten Korb an Land, umtanzt vom Wolfshund, der sich freute, so bald wieder das Schiff verlassen zu können. Es war die kälteste Zeit der Nacht ‑ kurz vor der ersten Dämmerung ‑ und Khor hoffte, dass sich bald jemand zeigen würde, denn es war kalt und feucht. Schließlich riefen Khor und Ottel lauthals, doch niemand ließ sich blicken. Also packten sie den Korb und gingen langsam auf den Wald zu. Je näher sie ihm kamen, desto angespannter lief der Wolfshund ein paar Schritte voraus. Plötzlich ließ er sein übliches kurzes Knurren hören und stellte die Rute auf. Ein altes Mütterchen, so zerbrechlich wie ein Bündel Reisig, kletterte auf wackeligen Beinen über Wurzeln und Gestrüpp aus dem Wald heraus.

„Was wollt ihr hier schon wieder?“, keifte sie herüber. „Vier von uns habt ihr bereits totgeschlagen! Vier!“

„Sie würden noch leben, wenn es nach uns gegangen wäre“, rief Khor ihr entgegen. „Du hast doch selbst mit deinen eiskalten, knochigen Händen versucht, mir die Kehle zuzudrücken. Ich erkenne dich wieder.“

„Und wenn ich’s könnte, so würde ich’s wieder tun!“ Die Alte drohte mit ihrem Stock. „Von Leuten wie euch ist ja auch nichts Gutes zu erwarten.“

„Na, dann“, rief Ottel ihr zu und machte Khor ein Zeichen, damit sie den Korb abstellten. „Dann schau dir erst einmal an, was wir für euch mitgebracht haben.“

So schnell sie konnte, humpelte die Alte heran und blieb mit einigem Abstand vor dem Korb stehen. Vorsichtig lugte sie hinein, als fürchtete sie, dass ein Dämon herausspringen könnte. Sie mochte ihren Augen kaum trauen und wagte sich näher heran. „Ist das Stoff?“ Khor und Ottel nickten. „Ohhh … Und ist das ein Teller, eine Sichel?“ Khor und Ottel nickten abermals. „Und Saatgut!“ Sie fiel auf die Knie. „Saatgut!“ jubelte sie in die Nacht und faltete die Hände. Auf einmal wurde der Wald lebendig. Immer mehr Zerlumpte trauten sich nun hervor und umringten schließlich das unerklärliche Wunder.

„Es ist ein Geschenk für eure Zukunft, hört ihr!“ Khor breitete den Inhalt vor ihnen aus. „Geht fort von hier. Hier könnt ihr nie ein gutes Wort erfahren. Sucht euch ein neues Zuhause. Hinter den Wäldern liegen noch mehr Wälder. Dort gibt es auch Wiesen und Weiden auf denen niemand lebt. Und hier vor euch liegt alles, was ihr braucht, um das Land urbar zu machen. Es ist alles da, um ein neues Leben beginnen zu können.“

Mit zitternden Händen ging die Alte auf Khor zu und streichelte ihm über die Wange. „Bübchen, dass ich dich erdrosseln wollte, werde ich mir nie verzeihen.“

Khor lachte. „Lass gut sein, Mütterchen! Und danke nicht mir. Dankt Gwenaël. Gwenaël, dem Geflügelten. Gwenaël dem Windbezwinger und Wunscherfüller. Gwenaël, dem Seegeborenen.“

Der in dieser Nacht so viel Gepriesene war allerdings wenig gut gelaunt, als Khor und Ottel wieder zurück an Bord kamen. „Endlich wieder an Bord kamen“, wie Gwenaël nicht müde wurde, ständig zu wiederholen. „Ich dachte schon, ihr seid mit denen losgezogen, um euch irgendwo als Bauern niederzulassen.“

Sobald der erste graue Schimmer den Osten erhellte, stand Gwenaël am Bug und gab die altbekannten Fingerzeichen. Arkan starrte auf die Hände seines Schiffsführers und wusste jede noch so kleine Bewegung zu deuten, um das Ruder entsprechend zu führen. Die beiden verstanden einander auch ohne Worte. Es war eine Sprache, die nur sie verstanden.

Wie angekündigt, landete Gwenaël im Morgengrauen in Kharrenac an. Myrdin wartete schon ungeduldig auf den Palisaden über dem Hafen. Offenbar hatte er wohl gedacht, dass er in Gwenaëls Schiffsbauch verschwinden könne, um dort nach Herzenslust zu stöbern und seine Wahl zu treffen. So stand ihm die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben, als er erfuhr, dass er sich diesen Gedanken besser gleich aus dem Kopf schlagen sollte.

„Zinn wolltest du, Geschirr und Bernstein. Da schau, was nimmst du mir für dein Leder?“

Es gab die übliche Schacherei mit umständlichen Erklärungen, warum und weshalb man sich ruiniere und worauf man sich auf gar keinen Fall einlassen könne. Khor fand es immer peinlich, weil dann jedes Mal aus erwachsenen Männern geifernde Schleimer wurden. Bei diesem Handel hatte Gwenaël jedoch überhaupt nichts Verbindliches an sich. Er nannte den Preis und dabei blieb es dann auch. Myrdin hatte sich das Geschäft sicherlich ein wenig einträglicher vorgestellt. Er machte ein Gesicht, als wolle er gleich auf den Boden stampfen, um zu verkünden, dass er bei diesem Spiel nicht länger mitmachen würde. Ihm war klar, dass Gwenaël in den fernen Städten, die er anzusteuern plante, ein Vermögen mit den gefärbten Häuten des Schwiegervaters machen konnte. Aber hier in Kharrenac waren sie eben nur eine Zinnspirale wert sowie einen dreiteiligen Satz von Schüsseln, die allerdings wunderbar bemalt waren. Die noch hinzu gegebene Bahn von Coiras selbst gewebtem Stoff reute Gwenaël am meisten, da der Stapel inzwischen deutlich kleiner geworden war. Auf Myrdins Gejammer gab er ihm noch einen nicht eben kleinen Bernstein. Broc war sichtlich entsetzt, dass Gwenaël sich darauf einließ. Der zwinkerte ihm jedoch nur zu und flüsterte in einem günstigen Augenblick: „Der hat einen kaum sichtbaren Sprung. Aber Myrdin hat ja nur Augen für die schiere Größe.“

So oder so, Myrdin fühlte sich zu kurz gekommen und freute sich, Gwenaël wenigstens noch an sein Versprechen von gestern erinnern zu können, sich auf die Suche nach der Roten Gaëlle zu machen.

„Keine Sorge“, rief Gwenaël und strahlte über das ganze Gesicht. „Du bist die Rote Gaëlle schon losgeworden.“ Er lüftete die Plane, die er über den Käfig ausgebreitet hatte. Myrdin erschrak regelrecht als er Gaëlle im Käfig kauern sah und wollte schon sein Schwert zücken. „Lass stecken“, meinte Gwenaël nur trocken. „Sie ist auf meinem Schiff und alles was du wolltest, war, dass du sie loswirst. Wir legen bald ab und dann wirst du sie nie wieder sehen.“ Flugs hatte Gwenaël das Schiff verlassen und stieg die Treppen zu den Palisaden hinauf. „Und jetzt lass mich noch kurz meinen Verwandten einen Besuch abstatten.“

Khors Fahrten

Подняться наверх