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Erstes Buch: Gwenaëls Sippe

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Die Amseln hatten noch nicht angefangen, ihre wehmütigen Lieder zu singen, als Khor ganz vorsichtig die Augen öffnete. Er lag Stirn an Stirn mit Ottel, der ihn ‑ Khor mochte es kaum glauben – bereits voller Erwartung anblickte und nicht im Geringsten einen verschlafenen Eindruck machte. Geradewegs so, als ob er nur darauf gewartet hätte, dass Khor endlich aufwachte, strahlte Ottel ihm ins Gesicht und ließ keinen Zweifel daran, dass er augenblicklich bereit war, das Seine zur Erfüllung des Khor entgegengebrachten Morgengrußes beizutragen. „Möge es ein schöner, ein glücklicher Tag werden! Für einen jeden von uns!“

Khor wollte schon eine mürrische Antwort geben, aber dann besann er sich. Wusste er doch nur zu gut, wie sehr Ottel daran gelegen war, nicht ständig als Schläfertor zu gelten, wie man hier auf Gwenaëls Insel den Letzten zu nennen pflegte, der seinen Weg in den Tag gefunden hatte. „Ottel, bitte“, brummte Khor stattdessen, „es ist doch noch stockdunkel. Es ist mitten in der Nacht. Meinst du etwa, Gwenaël wird für dich Fackeln, Späne und Kerzen verzündeln lassen, nur damit du zu nachtschlafender Zeit herumwerkeln kannst?“ Ottels hochgezogenen Mundwinkel und sein gequälter Blick ließen Khor verstehen. „Ich hätte eigentlich gedacht, mein lieber Khor, dass du vielleicht mal eben kurz vor die Tür gehen möchtest, um nachzusehen, ob …“ Ottel hatte den Satz noch nicht einmal beendet, als Khor schon aus seiner Schlafnische geschlüpft war. Schnell und so leise als irgend möglich war er vor die Tür getreten und sah nichts, was er nicht auch erwartet hatte: Schwarze Nacht, allenfalls ein kühles Glimmen am östlichen Horizont, ein schlafendes Dorf – und keinerlei Lebenszeichen von Wölfen, geschweige denn, von seinem Wolfshund. Schnell schlich Khor wieder zurück an den schnarchenden Mägden vorbei in die Schlafnische und legte sich wieder zu Ottel ins Warme.

„Er hat sich also entschieden“, sagte der nach einer Weile, denn alleine schon die Art und Weise wie Khor zurückgekehrt war und sich wortlos wieder neben ihn gelegt hatte, zeigte Ottel die Antwort. „So hat er also den neuen Tag ohne dich begonnen. Und so wird er ihn wohl auch ohne dich beenden.“ Wie zum Trost legte Ottel den Arm um den Freund. Lange lag Khor schweigend da und starrte vor sich hin.

„Lass uns noch ein wenig schlafen, Ottel“, sagte er schließlich. „Es ist wie es ist.“

Doch auch an diesem Morgen war Ottel letzendlich wieder zum Schläfertor geworden, was ihn außerordentlich ärgerte. Er versuchte, sich herauszureden, indem er Khor als Zeugen für sein frühes Wachsein berief. Aber es half nichts, denn Ottel war ja nun einmal wieder eingeschlafen und tatsächlich als Letzter in Gwenaëls Haus aufgestanden. Und hätte Khor, der ebenfalls wieder eingenickt war, ihn nicht geweckt, so wäre Ottel nicht nur zum Schläfertor geworden, sondern möglicherweise sogar noch zu einem ausgewachsenen Ärgernis, wollte man heute doch endlich in See stechen. Natürlich wurmte sich der sonst immer so zuverlässige Recke darüber am meisten.

So mampfte Ottel schließlich noch immer an seinem Frühstück, als alle anderen bereits ihre Bündel schulterten. Mit noch nicht einmal abgewischtem Mund küsste er jeden zum Abschied, den er greifen konnte. Bei dem Gedanken, Gwenaëls Kinder, mit denen er über die vergangenen Monde so viel Spaß gehabt hatte, womöglich nie wieder zu sehen, kullerten dem Riesen glitzernde Tränen in den schwarzen Bart. Er umarmte sogar die Mägde und schließlich selbst Fenhild und küsste alle mitten auf den Mund. Die alte Fenhild wie eine verliebte Göre.

„Oh, welch ein Kuss! Und sein Mund war inzwischen so schön sauber gewischt!“ Anschaulich gab sie ihrer Begeisterung mimisch Ausdruck. „Seine Lippen sind so warm und weich und voller Zärtlichkeit, wie ihr’s euch nur träumen könnt, ihr Weiber von Twynavon! Lass sie uns bald wieder spüren, Ottel, hörst du?“, rief sie dem Recken hinterher, der gerade durch die Tür entschwand. „Du Kusskönig, du Lippenliebster, du! Wir warten voller Sehnsucht auf deine Rückkehr!“

Und alle waren froh, ihren Abschiedsschmerz fortlachen zu können.

Als Khor endlich über die ausgelegten Planken das Schiff betrat, versuchte er, nicht an das zu denken, was er hinter sich ließ, sondern an das, was er vor sich hatte: Andere Menschen, die vielleicht über dieselben Dinge nachdachten wie er selbst und die vielleicht sogar schon Antworten gefunden hatten. Sie zu finden, war ihm wie die Erfüllung einer Aufgabe, die ihm eine höhere Macht für sein Leben gestellt hatte. Wie sehr hatte er gehofft, doch noch zu erfahren, dass es dies war, was Gwenaëls Tante Una in ihm gesehen hatte. Ohne sich umzudrehen ging Khor an Bord.

Es war ein eigentümliches Schauspiel, Gwenaël Abschied von den Seinen nehmen zu sehen. Allesamt waren sie in ihrer schönsten Kleidung im Hafen erschienen, der so voll von Leuten war, wie Khor es noch nie zuvor erlebt hatte. Eigentlich hatte Khor eine gedrückte Stimmung erwartet, wie sie bei Abschieden eben nun einmal üblich war. Doch er hatte sich getäuscht: Niemand benahm sich betrübt, bedächtig oder gar feierlich. Die Menschen waren gekommen, um Gwenaël wissen zu lassen, dass ihre besten Wünsche ihn begleiteten. Ja, sie wollten ihn feiern, ihm danken und ihm zeigen, wie sehr man sich auf seine Wiederkehr freute. Also zeigten sie ihre Freude auf das Wiedersehen und nicht ihre Trauer über den Abschied.

Gwenaël schritt die Reihen ab und bedankte sich bei jedem einzelnen herzlich und gutgelaunt für sein Kommen. Die Habenichtse, denen er Land gegeben hatte, zeigten sich ganz besonders ausgelassen und freuten sich, dass sie ihrem Wohltäter zum Abschied noch einmal danken konnten. Sie streuten die ersten Blüten des Jahres auf ihn, was Gwenaël besonders freute. Er tanzte förmlich durch die Reihen und lachte donnernd laut. Wieder und wieder ließ man ihn hochleben. Und als er schon fast bis zum Schiff getänzelt war, drehte sich Gwenaël plötzlich um und hob die Arme. „Jawohl“, rief er mit hochrotem Kopf, „her damit, gebt sie mir! Gebt mir eure Kraft, gebt mir eure Zuneigung! Wir werden lange unterwegs sein. Also gebt uns, was ihr geben könnt, denn wir müssen lange davon zehren!“ Ein unbeschreiblicher Jubel hob an, voll herzlicher Wünsche, aber auch voller Erwartungen, dass Gwenaël mit einem Schiff voll von nie zuvor gesehenen Reichtümern zurückkehren möge.

Gwenaël küsste jedes seiner Kinder, von denen nicht eines eine Träne verlor. „Wir freuen uns auf dich, wenn du wieder zu uns kommst“, riefen sie im Chor, wobei ihre Mutter ebenfalls einfiel. Coira hatte sich zum Abschied eine unglaubliche Frisur ausgedacht. Khor musste gestehen, dass es ihn erregte, sie so zu sehen. Sie sah aus, als ob ihre Feiertagsfrisur im Liebesrausch ein wenig durcheinander geraten wäre. Nicht übermäßig, aber doch so, dass sie hastige Lust offenbarte. Ihre leuchtend roten Haare waren in Strähnen zu Schleifen aufgetürmt, deren Enden lang über ihre Schultern auf ihren Rücken fielen. Gegen das Feuerrot der Haare und das Tiefschwarz ihrer Kleidung, leuchtete Coiras weiße Haut in der Morgensonne wie frische Milch. Selbst aus der Ferne konnte Khor die Adern auf Coiras Busen bläulich schimmern sehen. Was konnte es Empfindlicheres, Schützenswerteres und Zarteres geben, als diese Haut, dachte Khor, als er seinen Freund Gwenaël sie vor aller Augen liebkosen sah.

„Leider, mein Lieb, mein Alles, mein Leben, bin ich heute Abend verhindert“, Gwenaël, der eben noch die Brüste seiner Frau geküsst hatte, verbeugte sich galant und grinste frech in die Menge. „Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Wie jedes Mal, so werden wir auch dieses Mal alles nachholen.“ Er umfasste Coiras Hüfte und zog seine Frau sanft an sich. „Und bis dahin werde ich ständig an dich denken, mein Lieb. Wie stolz ich bin, dass du mein Weib bist! Wenn ich wieder bei dir bin, ist diese Schwangerschaft überstanden“, Gwenaël beugte sich nieder und küsste Coiras Bauch, „und dann werden wir uns freuen, dass wir einander wiederhaben. Bleib so, wie du bist, meine Liebste. Ich freue mich darauf, dich wieder in meine Arme schließen zu können.“

Mit lauter Stimme richtete er sich schließlich an alle anderen. „Und jetzt lasst uns glücklich sein! Glücklich, dass wir einander haben. Vor allem aber, dass wir uns auf etwas freuen können.“ Gwenaël hob die Arme und rief so laut er nur konnte: „Auf unser Wiedersehen.“

Behände sprang er an Bord und lachte, als sei er der glücklichste Mensch auf Erden. Es war ihm anzusehen, wie sehr er sich über die Treue der Menschen freute, die ihm die Ehre machten, sich von ihm zu verabschieden. In der Tat: Wie beneidenswert war Gwenaël doch, dachte Khor, derart viele Menschen an seiner Seite zu wissen. Wie sehr musste er sich geliebt fühlen von seinen Leuten. Wie sehr musste er sich darauf freuen, irgendwann einmal wieder bei ihnen zu sein. Alle dachten nur an die glückliche Rückkehr. Niemand sprach von Abschied und Trennung. Niemand dachte an die bevorstehenden Gefahren, um ihnen ja nur nicht noch Macht zu verleihen. Niemand ließ vorerst den Schmerz des Abschieds in sein Herz und so feierte man die Freude auf das Wiedersehen.

Gerade wollte man die letzten Planken einholen, als ein Raunen durch die Menge ging. Ein Schatten huschte umher und lief schnurstracks auf das Schiff zu. Khor erstarrte. Hatte er sich getäuscht? Nein, keineswegs: Es war der Wolfshund! Zielstrebig und mit gesenktem Kopf, so als wolle er eine Spur erschnüffeln, schnürte er die Planken empor und legte sich ganz selbstverständlich neben Khor, ohne auch nur irgendjemanden zu begrüßen, so, als sei er nur für einen kurzen Augenblick abwesend gewesen. Khor starrte ihn mit großen Augen an. Doch der Wolfshund blinzelte nur zurück, gähnte ihm teilnahmslos ins Gesicht und legte sich schmatzend wieder hin.

„Khor, schnell“, Gwenaëls Stimme riss Khor aus dem Staunen, ob dies alles denn nichts weiter sei als ein Traum. „Gib mir die Schnitzerei von Ciaràn, schnell!“ Und schon hatte ihm Gwenaël unters Wams gegriffen, hatte jedoch die Wurzel von Fenhild erwischt. Augenblicklich ließ er sie los und wischte sich fluchend die Hand an seinem Gewand ab. Nichts von alledem verstehend nestelte Khor die Figur hervor und streifte sie ab, als auch schon Ciarán an Bord gekommen war und vor ihm stand.

„Dankeschön“, lispelte der, nickte artig und griff sich die Schnitzerei. Er stellte sich direkt neben den Wolfshund, dessen Ohren anzeigten, dass er sehr wohl ganz genau das Geschehen um sich herum verfolgte, obgleich er so tat, als ginge ihn dies alles nichts an. Mit einem unerwartet lauten Knacken, das in einem eigentümlich seufzenden Ton ausklang, zerbrach Ciaràn die Schnitzerei. Wie vom Donner gerührt sprang der Wolfshund auf, knurrte warnend und fletschte die Zähne. Ciaràn lachte vergnügt und hielt ihm furchtlos die Bruchstücke unter die Nase. Der Wolfshund schnüffelte daran, schnäuzte sich und sprang plötzlich wie von Sinnen auf Khor zu, um ihm das Gesicht zu lecken. Er quietschte wie ein Welpe, rannte um Khor herum, zwängte sich zwischen seinen Beinen hindurch und sprang an ihm hoch. Dann lief er zu Ottel, von Ottel zu Sarti, von Sarti zu Broc, von dort zu Gwenaël, ja, er sprang sogar zu Elster und Rotfuchs und rempelte Arkan stürmisch an, um schließlich wieder bei Khor zu enden, dem er von da an nicht mehr von der Seite wich.

Ciaràn warf das zerbrochene Amulett ins Wasser und hüpfte lachend wieder von Bord, nicht ohne seinem Vater noch einen letzten Kuss gegeben zu haben. Khor wusste gar nicht, wie ihm geschah. Er hockte sich neben seinen so unerwartet wieder gewonnenen Freund, der sich gar nicht genug damit tun konnte, den nur die zudringlichsten Liebesbezeugungen abwehrenden Khor abzuschlecken.

Missbilligend blickte Broc herüber. „Glaubst du etwa an dieses Zeugs der Altgläubigen? Wolfshundamulette und so etwas? Und dann baumelt auch noch Fenhilds Stinkwurz um deinen Hals!“

„Natürlich glaube ich nicht daran“, versuchte Khor den Freund zu beruhigen, während er sich weiter mit dem Wolfshund beschäftigte. „Es sind nichts weiter als Andenken an mir lieb gewordene Menschen.“

„Ach so“, maulte Broc. „Und die lässt du dir einfach so zerbrechen?“

„Das verstehst du nicht, Broc. Das sind andere Sitten und Gebräuche. Aber was dahinter steckt, ist Anteilnahme, ist Zuneigung und eine Menge guter Wünsche. Und was du Stinkwurz nennst, trägt einen ganz anderen Namen, den ich aber vergessen habe. Sarti wird ihn uns sagen können. Außerdem stinkt sie nicht, sondern duftet ganz außerordentlich. Hier, riech doch mal.“ Und schon schwebte Fenhilds Knolle unter Brocs Nase.

„Ich weiß, dass diese Knollen nicht stinken.“ Broc war eindeutig schlecht gelaunt. „Ich hab auch so eine …“ Er zupfte an einem Bändel um seinen Hals, das Khor noch nie zuvor bemerkt hatte.

„Holla“, mischte sich nun Ottel ein. „Lass mich raten von wem du sie bekommen hast! Es wird doch wohl nicht die liebe Fenhild gewesen sein, die mich seit Neuestem Lippenliebster nennt.“ Er hatte aufmerksam zugehört, da er Brocs Eifersucht witterte. „Kann es denn angehen, mein lieber Broc, dass sie dir, ebenso wie mir sowie Khor und Sarti ebenfalls solch einen Heilsbringer, einschließlich Schutzgeist geschenkt hat?“ Broc tat, als ob er nichts gehört hätte. „Ich könnte mir sehr wohl vorstellen“, stichelte Ottel weiter, „dass der Duft dich an einen liebenden Menschen erinnern soll.“

„Und wenn schon“, gab Broc zurück. „Jeder misst solchen Dingen eine andere Bedeutung bei. Du trägst doch auch so eine Knolle, wie du gerade zugegeben hast. Erzähl mir also nicht, dass es für dich ebenfalls lediglich ein Andenken an einen lieben Menschen ist.“

„Ach, ein wenig schon“, lächelte Ottel verschmitzt. „Aber für mich ist diese Knolle eher eine Art Sicherheit. Das Letzte was zu tun bleibt, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Noch niemand hat solch eine Knolle gegessen und dies auch überlebt. Es ist gut, wenn man als Krieger zur Not so etwas um den Hals hängen hat. Denn wer weiß schon, was die Zukunft für uns bereithält.“

„Also nach dem Genuss einer solchen Alraunewurzel“, warf Sarti eifrig ein, der nur darauf gewartet hatte, endlich zu Wort zu kommen, „wird man zunächst Herzrasen verspüren, dann einen trockenen Mund bekommen und schließlich werden die Lungen keine Luft mehr aufnehmen wollen. Die Bewusstlosigkeit tritt nach kürzester Zeit ein …“

Keiner beachtete Sartis Ausführungen, stand man doch inzwischen im Kreis um Khor, damit man den Wolfhund nun endlich angemessen bestaunen und begrüßen konnte. Der hatte den Kopf auf Khors Schoß gelegt und ließ sich die Zuwendungen bereitwillig gefallen.

Vor lauter Wiedersehensfreude hatten sie überhaupt nicht bemerkt, dass Gwenaëls Schiff inzwischen abgelegt hatte. Ottel war es, der seine Freunde ermahnte, besser noch einen letzten Blick auf Twynavon und seine Bewohner zu werfen, die sie möglicherweise nie wieder sehen würden. Als Khor über die Reling lugte, waren die Gesichter der Menschen schon kaum mehr zu erkennen und das Schiff fuhr gerade in die schmale Wasserstraße ein, die direkt zum Meer führte. Noch immer standen an beiden Ufern vereinzelt winkende Menschen und riefen ihre Heilswünsche herüber. Gwenaël blies in seine Lure, die lang gezogene, wehmütige Laute von sich gab. Ein ganzer Chor von Luren antwortete daraufhin an Land. Khor schien es, als ob die Luft von ihren Tönen zitterte.

Schon war die Stadt hinter den Dünen verschwunden und das Schiff steuerte geradewegs aufs offene Meer zu, als Gwenaël einen stattlichen Brocken Bernstein an der ständig in einem metallenen Korb am Glimmen gehaltenen Glut entzündete und anschließend abermals in seine Lure stieß.

„Damit die Wasser des Meeres auch wissen, dass wir sie befahren“, erklärte er, ohne gefragt worden zu sein. Und in einem Augenblick, in dem er sich unbeobachtet fühlte, ließ er schnell ein kleines, in eine Tierhaut eingenähtes Päckchen ins Wasser gleiten, dem er lange hinterher sah. Er holte seine blauen Ahnenstatuetten aus der Tasche, küsste sie eine nach der anderen und erklärte ihnen geduldig den Kurs, den Weg und das Ziel der nun beginnenden Reise.

„Siehst du“, sagte er schließlich zu Khor, dem es unangenehm war, dabei ertappt worden zu sein, wie er Gwenaël beobachtet hatte, „auch die Ahnen haben nicht die geringsten Einwände gegen unsere Reise.“

Der erste Tag war fast wie im Flug vergangen. Khor war überglücklich, dass der Wolfshund sich so überraschend wieder eingefunden hatte. Unablässig kraulte und streichelte er ihn, was dieser sich mit genüsslich zusammengekniffenen Augen gefallen ließ. Einer nach dem anderen schauten die Männer der Besatzung vorbei, um die wilde Bestie an Bord zu begrüßen, die offenbar so anhänglich und treu war, wie ein Haushund. Wie gerne hätte Khor den Wolfshund gefragt, wie es denn zu seinem Sinneswandel gekommen war und er seine junge Familie schließlich doch verlassen hatte. Arkan, der Feinfühlige, hatte als Erster eine Antwort parat. „Es ist einfach seine Lebensaufgabe, Khor, an deiner Seite zu sein“, raunte er sichtlich beeindruckt. „Ein jeder von uns hat seine Lebensaufgabe - die Tiere offenbar auch.“

Elster und Rotfuchs waren ebenfalls der Meinung, dass es wohl die Götter waren, die den Wolfshund damit beauftragt hatten, Khor beizustehen. „Unsere Fahrt steht unter günstigsten Zeichen“, fassten sie schließlich ihre Betrachtungen zusammen. „Gwenaël hat die Wasser des Meeres wissen lassen, dass wir sie befahren und die Götter haben dir ein wildes Wesen geschickt, das dich beschützen wird.“

Und tatsächlich: Auch die Frühlingssonne schien vom wolkenlosen Himmel herab und versprach allerbestes Reisewetter. Das Meer lag ruhig und freundlich, während eine muntere Brise stetig wehte und das Schiff gleichmäßig vorantrieb. Als sich schließlich dann noch ein Sperling auf dem Bug niederließ und inbrünstig einen Abschiedgruß tschilpte, bevor er wieder zurück an Land flog, waren alle restlos davon überzeugt, dass diese Reise unter einem ganz besonders glücklichen Stern stand.

Es war kurz nach Mittag und die Sonne hatte gerade ihren Zenith überschritten, als in der Ferne vor ihnen Land in Sicht kam. Es war die Insel der Ausgestoßenen, wie Gwenaël erklärte, auf die sie direkt zuhielten. Allein ihr Name ließ Khor an wenig Erfreuliches denken. Wortlos deutete Gwenaël auf die Kimmung links neben der Insel. Auch dort begannen sich, blau in blau, schroffe Felsen abzuzeichnen, die sich unaufhörlich in den Himmel schoben. „Das Festland“, meinte Gwenaël vielsagend.

„Leben auf der Insel wirklich nur Ausgestoßene?“, fragte Khor ein wenig beunruhigt.

Gwenaël lachte. „Ach was! Früher einmal, da war das so. Um die Insel herum entstehen oft schwere und vollkommen unvorhersehbare Strömungen. Es müssen Hunderte von Wracks an ihrer Küste liegen. Früher war es nicht leicht, die Insel zu erreichen oder sie zu verlassen. Darum hat man seinerzeit die Ausgestoßenen dort hingeschickt. Doch das ist Generationen her. Aber natürlich machen noch heute alle ihre Witze über die Mörderkinder und Räuberenkel. Vielleicht sind die Leute dort ja deswegen so grimmig. Es ist jedenfalls selten ein Vergnügen, sich dort aufzuhalten. Das Bier ist so schrecklich wie das Essen und von Gastfreundschaft hält man sowieso nicht viel.“ Schon konnte man Häuser und Felder auf der Insel erkennen.

„Vielleicht sollten wir dann besser darauf verzichten, dort anzulanden“, meinte Khor plötzlich. „Der Tag hat so schön angefangen.“

Gwenaël schaute ihn vollkommen entgeistert an. „Die Insel liegt auf dem Weg. Ich bin Händler. Natürlich ist dort nicht viel zu holen, aber man kann überall Geschäfte machen. Außerdem stehe ich im Wort, dort kurz anzulegen. Aber keine Angst, es wird gewiss nicht lange dauern.“ Und schon war Gwenaël unter Deck verschwunden.

Khor staunte, wie schnell sich das Schiff dem kleinen Hafen genähert hatte und mit einem wohligen Ächzen vertäut worden war. Viel Aufmerksamkeit erregten sie jedenfalls nicht, denn es gab kaum jemanden, der nach ihnen schaute. Gwenaël erschien wieder an Deck und hatte ein unförmiges Paket unter dem Arm, das in irgendwelche Tücher gewickelt war.

„Hier ist Gwenaël!“, rief er aus Leibeskräften. „Gwenaël, der Geflügelte ist hier. Gwenaël, der Windbezwinger, der Wunscherfüller!“ Die meisten Umherstehenden im Hafen schauten noch nicht einmal nach dem Gebrüll. Doch ein altes Männchen, krumm und gebeugt, den Mantel in sein Gesicht gezogen, geradewegs so, als ob er sich verbergen wollte, humpelte überraschend behände auf das Schiff zu.

„Hör auf mit dem Geschrei“, zischte er und flatterte mit den Armen, „was sollen die Habenichtse schon mit dir tauschen.“

„Wateran!“, freute sich Gwenaël sichtlich. „Du bist mir inzwischen also doch nicht weggestorben! Ich fürchtete schon das Schlimmste, weil es ja doch bereits eine ganze Weile her ist, seit du mir deine Bestellung aufgegeben hast. Hier, ich habe etwas für dich, was dein Herz erfreuen wird.“

Er reichte das Paket herunter, das der Alte mit zitternden Händen in Empfang nahm. Vorsichtig schlug er die Tücher beiseite, die eines der südländischen, mit Kraken bemalten Gefäße freigaben, die Gwenaël im vergangenen Sommer zufälligerweise in der Stadt an der Odrawa hatte eintauschen können. Der Alte seufzte überwältigt und griff sich ans Herz. Offenbar war soeben ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen.

Sorgfältig packte der Alte alles wieder ein. „Genauso, wie ich es gewünscht habe“, strahlte er. „Mein Weib wird sich freuen. Sie kennt diese Gefäße von Zuhause und hält sie für den Inbegriff des Schönen. Vor zwei Sommern ist ihr die letzte Schale zerbrochen. Sie stammte noch aus ihrer Mitgift.“ Offenbar erwartete Wateran eine Reaktion von Gwenaël, doch der lächelte ihn nur stumm an.

„Nun“, seufzte der Alte schließlich, „heute wird sie das Ungeschick endlich vergessen können.“ Ehrerbietig reichte der Alte ein Lederbeutelchen nach oben. Gwenaël hielt es wägend in der Hand, schaute flink hinein und entnahm einen silbernen Brocken, auf den er mit den Eckzähnen biss. Zufrieden grunzend ließ er den Klumpen wieder ins Beutelchen plumpsen und schwenkte es zum Zeichen des Einverständnisses.

„Habt ihr Hefe zum Tausch?“, rief plötzlich einer der Umstehenden. „Unser Hefestamm ist schon alt und müde und das Bier wird fad.“

„Mag sein“, erwiderte Gwenaël. „Was könnt ihr mir den dafür bieten?“

„Apfelmost.“

Man war sich schnell einig. Und nachdem Gwenaël sich gebührend verabschiedet und das Schiff wieder abgelegt hatte, wurde erst einmal vom eingetauschten Apfelmost gekostet. Khor war begeistert von dem herben, fruchtigen Geschmack und trank, während er sich von Gwenaël die Umstände des unerklärlichen Silberreichtums des Alten erklären ließ, einen Becher nach dem anderen.

„Was meinst du“, erklärte ihm Gwenaël, „wie viele Schiffe hier an den Klippen zerschellen. Oft sind es Ortsunkundige, die von ganz weit her kommen. Man kann sich also sicher sein, dass niemals jemand erscheinen wird, um das Treibgut zurückzufordern. Und wie du siehst, mein lieber Khor“, Gwenaël tätschelte den Lederbeutel, „findet man hier so einiges …“ Gwenaël blinzelte Khor verschmitzt an und kicherte dann leise. Denn seinem Freund waren unterdessen, müde vom Apfelmost, die Augen zugefallen.

Als Khor erwachte, war die Sonne dem Horizont bereits sehr nahe gekommen. Zuerst wusste er überhaupt nicht, wo er sich befand. So erschrak er, als er das Schwanken des Schiffs unter sich spürte. Wie oft hatte er nicht davon geträumt, wieder auf See zu sein? Wobei er sich auch dieses Mal nicht schlüssig war, ob dies eher Angstträume oder doch Wunschträume gewesen waren. Nein, dieses Mal träumte er nicht. Er war tatsächlich mitten auf dem Meer. Und es war ebenfalls kein Traum, dass der Wolfshund tief und fest neben ihm schlummerte.

„Na, du Schläfertor“, brummte Ottel ihn freundlich an. „Die Sonne versinkt und der Herr erwacht.“

„Wo sind wir?“, fragte Khor und sah sich um.

„Sarmia. Wir legen gleich an.“

Sarmia. Khor hatte von der Insel gehört. Er rief Sarti, der vor Aufregung, endlich wieder einmal gefragt worden zu sein, sogleich rot anlief. Vor langer Zeit, bevor die Wasser kamen, so berichtete er, war Sarmia noch Teil des Festlandes und ragte als Landzunge weit ins Meer hinein. Auf ihren höchsten Erhebungen stehen seither die Heiligtümer der Altvorderen. Aufrecht stehende Steine, wie jene des Großen Steinkreises auf Gwenaëls Insel, jedoch nur halb so groß wie diese. Aber manche von ihnen tragen Brüste oder auch Gesichter, berichtete Sarti und betonte einmal mehr, dass man von der Gedankenwelt der Vorfahren noch kaum etwas wisse.

„Na, irgendwo wird man schon noch darum wissen“, warf Ottel ein. „Irgendwo auf dem Festland, weit ab von den Händlerstraßen oder irgendwelchen Flüssen.“

„Ja“, rief Khor begeistert. „Auch deren Weisheit sollten wir sammeln, bevor sie endgültig verloren geht!“

Sarti räusperte sich. „Ich habe lediglich von unserem Unwissen über den alten Glauben berichtet, um darauf hinzuweisen, dass Sarmia heutzutage ein bedeutendes Pilgerziel ist. Mit anderen Worten: In Sarmia kann man leicht reich werden, wenn man den Hilfesuchenden nur ein wenig Hoffnung gibt. Die Insel wimmelt von echten und falschen Magiern und Heilern. Die alten Heiligtümer werden von ihnen für ihr Blendwerk missbraucht. Sie lassen die Pilger sich in alte, höhlenartige Gemäuer hocken und sie für jeden Wunsch je eine Napfschnecke verspeisen, die sie ihnen natürlich vorher gegen teuer Ding vertauscht haben. Dabei sind die Viecher hier fast schon eine Plage, so sehr vermehren sie sich.“

„Ui“, staunte Khor. „Das erinnert mich aber sehr an Gotenansk.“

„Aber erst, nachdem wir es besucht hatten“, lachte Ottel.

„Ein Glück, dass wir an Bord schlafen können“, ließ sich Broc verlauten. „Mir wird unwohl unter solchen Seelenfängern.“

„Es ist wohl wie an jedem Pilgerort“, endete Sarti. „Aber ob es Humbug oder Magie ist, muss jeder für sich selbst entscheiden.“

Obwohl es schon langsam dämmerte, wollte sich Khor unbedingt noch ein wenig auf Sarmia umsehen, denn morgen würden sie gleich mit dem ersten Licht des Tages wieder aufbrechen. Der Wolfshund gab außerdem bereits eindeutige Zeichen, dass es für ihn an der Zeit war, einen kleinen Rundgang an Land zu unternehmen. Ottel bestand darauf, Khor zu begleiten und so schlossen sich dann schließlich auch Broc und Sarti an. Gwenaël war natürlich mit seinen Tauschgeschäften beschäftigt und empfing bereits die ersten Interessenten auf seinem Schiff. Doch zu allererst musste er einem geckenhaft herausgeputzten Kerl, der als Erster gleich mit vier Bewaffneten an Bord gekommen war, einen Beutel Salz in die Hand drücken. Khor hatte bereits davon gehört, dass man in großen und wichtigen Häfen etwas einforderte; einfach dafür, dass man anlanden und Geschäfte machen durfte. Dennoch empfand er es nun, da er solches zum ersten Mal miterlebt hatte, geradezu als Unverfrorenheit, derart schamlos gegen das Gastrecht zu verstoßen.

„Daran wirst du dich wohl noch gewöhnen müssen“, lachte Ottel und gab Khor einen Schubs, damit er endlich von Bord ging. „Wir in unserem Dorf am Mittelberg nehmen ja schließlich auch etwas von den Fremden, wenn sie unsere Uneströdu überqueren wollen.“

„Ja, schon“, gab Khor ärgerlich zu. „Aber wir zeigen ihnen wenigstens noch die Furt oder führen sie sogar hinüber.“

„Was auch unbedingt erforderlich ist“, lachte Ottel, „weil sie die Furt ansonsten niemals alleine finden würden, nicht wahr?“ Ottel knuffte Khor in die Rippen, was dieser überhaupt nicht mochte, da der vergnügte Riese seine Kräfte oft genug unterschätzte.

Sie hatten keine zehn Schritte getan, als sie schon von etlichen Männern in weißen, schwarzen, braunen und blauen Kutten angesprochen wurden. Man bot ihnen zuverlässige Heilung von allen möglichen Gebrechen oder aber auch Erfüllung jedweder Wünsche, wenn sie ihnen nur zu den Heiligtümern folgten. Selbstverständlich erwartete man eine entsprechende Gegenleistung. Ottel machte ein wildes Gesicht und grunzte sonderbare Laute, die entfernt an eine Sprache erinnerten. „Chrarrbatzrum furr chrubur tschessri. Hessborfum tchorma pflahm. Forrthing?“

Die Kuttenträger sahen einander ratlos an und winkten schließlich ab: Mit solchen Stotterern, die nur ein derart sinnloses Gegrunze von sich gaben, wird man keine Geschäfte machen können. Was sollten solche Leute auch mit ihren Orakeln und Weissagungen anfangen. Khor prustete fast los, als sie enttäuscht kehrt machten und einer wie der andere in der Menschenmenge verschwanden, um sich neue Opfer zu suchen.

Der Hafen lag in einer nahezu vollkommen runden, natürlichen Bucht. Nördlich davon erhob sich eine steile Halbinsel auf deren Spitze die wichtigsten Heiligtümer der Insel lagen. Khor wollte zumindest einen Blick auf sie werfen und machte sich also auf den Weg dorthin. Der Ort selbst machte ihm einen recht sauberen, wohlhabenden Eindruck. In den Lehm der Hauptstraße hatte man sogar schwere Felsbrocken gedrückt, so dass die Karren der Händler ordentlich rumpelten, wenn sie darüber fuhren. Seltsamerweise erregte der Wolfshund hier keinerlei Aufsehen - außer bei den Dorfhunden, die einer wie der andere das Weite suchten, sobald sie seiner gewahr wurden. „Man kennt hier keine Wölfe“, gab Sarti zur Erklärung. „Darum haben die Bewohner auch keine Angst vor ihnen.“

Der Aufstieg war relativ steil und setzte Broc ein wenig zu, so dass er nur schnaubend vorwärts kam. Obgleich es bereits dämmerte, war der Weg noch immer gesäumt von Händlern, die irgendwelche Amulette, heiligen Steine und natürlich körbeweise Napfschnecken anboten. Broc schimpfte in einem fort über die üble Geschäftemacherei, mit der man sich offensichtlich an Leidenden und Hilfesuchenden bereicherte.

Das Heiligtum selbst war nichts weiter als ein uralter Dolmen, den man schamlos entweiht hatte und für seinen einträglichen faulen Zauber benutzte. Wie von Sarti vorhergesagt, krochen die Pilger in den Dolmen hinein, nachdem sie den selbsternannten Priestern reichlich gegeben hatten. Offenbar hofften sie, durch die Großzügigkeit ihrer Gaben, die Erfüllung ihrer Wünsche umso wahrscheinlicher zu machen. Khor sah die Karren voller Güter, auf die man die Gaben legte. Tücher, Pelze, Tonwaren, Waffen, alles, was man sich nur denken konnte. Aus dem Dolmen erklangen eintönige Gesänge, während die Pilger die mitgebrachten Napfschnecken verspeisten. Für jeden Wunsch eine. Und manche glaubten offensichtlich, dass es nicht schaden könne, wenn man für die dringendsten Wünsche gleich mehrere verspeiste. Der Boden war jedenfalls übersät von ihren Schalen, ja, Khor hatte gar den Eindruck, dass man sie seit Jahrhunderten nicht mehr fortgeräumt hatte. Einer der Kuttenträger raunzte ihn unfreundlich an, weil er mit seiner Gafferei den Eingang versperrte, ohne ein Opfer entrichtet zu haben. „Wer nichts gibt, der kriegt auch nichts!“, scheuchte er Khor schließlich beiseite.

„Meine Augen können wieder sehen“, schrie eine Frau, als sie den Dolmen verließ. Entzückt lief sie die Anhöhe hinunter während sie ihre Worte ständig wiederholte und ließ sich dabei ausgiebig von den staunenden Pilgern bewundern. Bei den ersten Häusern angekommen, reichte ihr einer der Kuttenträger ein Paket, das sie fest unter den Arm nahm und anschließend ruhig ihres Wegs ging.

„Lasst uns gehen“, sagte Broc ärgerlich. „Was ist das hier nur für ein erbärmlicher Ort. Sie belügen und betrügen die Leute und bemühen dafür auch noch die Geister der Ahnen, irgendwelche Götter oder was weiß ich noch alles! Es ist einfach nur widerwärtig.“

Als sie die Ortschaft wieder durchquerten, um zum Hafen zu gelangen, sahen sie die vorhin vermeintlich von Blindheit Geheilte, wie sie in der hereinbrechenden Nacht vor einem der Häuser saß und Linsen las. Neben ihr zwei Kinder, die ihr zur Hand gingen.

„Morgen wird man sie sicherlich als Gelähmte auf den Berg tragen, von wo sie, glücklich geheilt, tanzend zurückkehren wird“, spottete Ottel.

„Es ist einfach nur widerwärtig“, wiederholte sich Broc. „Lasst uns endlich an Bord gehen.“

Gwenaël erwartete sie bereits ungeduldig, denn er hatte das gestern erst geschlachtete Spanferkel braten lassen, damit es sie über den ersten Abend ihrer Reise hinwegtröstete. Er war bester Laune. Offenbar hatte er gute Geschäfte gemacht und begrüßte seine Freunde überschwänglich. Elster und Rotfuchs standen in voller Rüstung an der Reling und flößten jedem Angst ein, der dem Schiff zu nahe kam.

„Guckt mal“, raunte Gwenaël und streckte den vier Freunden zur Begrüßung seine Faust entgegen, die er ganz langsam und Aufmerksamkeit heischend öffnete. „Was sind das hier nur für Einfaltspinsel.“ Khor konnte gerade einmal einen gelblichen Klumpen in Gwenaëls Hand erkennen. „Da es hier auf der Insel keine Schmiede gibt, meinte der Kuttenträger, von dem ich das Prachtstück hier habe, dass er keine Verwendung für diesen Bronzeklumpen hätte.“ Gwenaël hob das Wort Bronzeklumpen deutlich hervor. „Er habe ihn von einem Pilger vom Festland erhalten, der von weit her gekommen war und sich kaum verständigen konnte. Der Dummkopf hat überhaupt nicht bemerkt, dass er von dem Weitgereisten einen wertvollen Goldklumpen bekommen hatte. Gold! Von weit aus der Mitte des Festlandes. Das berühmte Gold aus den Bergen hinter der Dunawe.“ Er habe schon einmal, so berichtete Gwenaël weiter, einen solchen Klumpen besessen, den er ebenfalls in einem Heiligtum, allerdings im südlichen Meer, eingetauscht hatte. „Es sieht aus wie aufpolierte Bronze, der bei der Schmelze ein wenig zuviel Kupfer beigegeben wurde“, freute er sich ob seines Fangs. „Es ist aber schweres, reines Gold.“ Gwenaël genoss die staunenden Gesichter seiner Freunde. „Und nun lasst uns das Ferkel verspeisen!“

Es war der gefürchtete erste Abend ihrer langen Reise, doch zum Glück war er fröhlich geworden. Denn, wie Sarti gesagt hätte, können solch erste Abende nur allzu leicht eine schwermütige Stimmung hervorrufen, wenn man an ihnen ‑ etwas zur Ruhe gekommen – bemerkt, wessen Nähe und Berührung von nun an fehlte. Doch wegen seines Geschäfts war Gwenaël in allerbester Stimmung und erzählte eine Schnurre nach der anderen. Nur Broc ärgerte sich derart über den auf dieser Insel geübten Missbrauch des Priestertums, dass dieser Ärger alle Reste freundlicher Gedanken zu verschlucken drohte.

„Meinst du nicht“, fragte er Gwenaël völlig unvermittelt, „du hättest den Mann aufklären müssen, dass es Gold ist und nicht Bronze, was er dir anbot?“

„Keineswegs“, gab Gwenaël zurück. „Denn die Beschaffenheit des Klumpens war niemals Inhalt unseres Gesprächs. ‚Gibst du mir einen Krug Honig für den Bronzeklumpen da?’“, ahmte Gwenaël die Stimme des Mannes nach. „Er bot mit etwas für etwas anderes, das er haben wollte: Honig. So was kennt man auf solch einem Inselchen kaum. Honig ist hier sehr wertvoll. Er wollte mich also betuppen mit seinem Bronzeklumpen.“

„Wennschon“, brummte Broc. „Du hättest ihn mit Honig übergießen müssen für solch einen Batzen Gold!“

„Wo?“, entgegnete Gwenaël. „In Twynavon oder in euren finstren Wäldern, wo es nur so brummt und summt vor Bienen. Hier aber, auf dieser Insel muss man Honig vom Festland herbeischaffen, Krug für Krug. Hier muss man fast alles vom Festland herbeischaffen. Außer Fischen, Muscheln, ein paar Schafen und mickrigem Getreide gibt es hier nicht viel. Also sehen die Menschen hier zu, wie sie ihr Leben meistern. Also verkaufen sie Hoffnung und kaufen sich selbst und ihren Kindern süßen Honig dafür.“ Gwenaël lachte. „Ich bin Gwenaël, der Geflügelte. Ich segle von hier nach dort und sehe, wo ich den besten Preis für meine Waren erzielen kann.“

„Du nutzt die Unwissenheit der Leute aus“, beharrte Broc.

„Ach, papperlapapp!“ Gwenaël wollte sich auf gar keinen Fall die Laune verderben lassen. „Was nützte es, wenn sie wüssten, dass in euren Wäldern der Honig von den Bäumen tropft? Denn euer Honig ist weit, weit weg.“ Theatralisch hob Gwenaël die Arme, wohl wissend, dass dies Broc noch mehr reizen würde. „Ich bin Gwenaël, Gwenaël der Geflügelte! Ich bin es, der den Honig von dort holt, wo er billig ist und dorthin bringt, wo sich alle nach ihm verzehren. Denkt an Wateran heute Mittag! Wie glückselig er war, endlich seine Krakenschale in Händen halten zu können. Und auch der Kuttenträger vorhin war überglücklich mit einem Krug voll Honig heimzukehren. Ich bin Gwenaël! Gwenaël, der Windbezwinger und Gwenaël, der Wunscherfüller!“ Die gesamte Mannschaft murrte beifällig, nur Broc brummte lediglich halbherzig mit, nickte dafür aber wenigstens versöhnlich mit dem Kopf.

Satt gegessen saßen alle an Deck und sahen zu, wie die Nacht ihren schwarzen Mantel über die Welt ausbreitete. Schließlich waren alle froh, in ihren behelfsmäßig eingerichteten Schlafkojen zu liegen, die nur unwesentlich kleiner waren als jene in Gwenaëls Haus. Der Wolfhund legte sich neben die Einstiegsluke zum Unterdeck und lauschte in den Schiffsbauch hinein, um einen möglicherweise von Khor geäußerten Befehl auch sofort hören zu können. Doch es war nur das Glucksen der Wellen sowie das zufriedene Knarren des vertäuten Schiffes, die noch zu vernehmen waren.

Am nächsten Morgen, die Sonne war noch gar nicht über dem Festland im Osten aufgegangen, scheuchte Gwenaël seine Mannschaft erbarmungslos hoch. „Auf geht’s, ihr Schlafmützen. Die Flut läuft ab und bald sitzen wir auf dem Trockenen. Hoch mit euch und an die Wanten. Holt die Taue ein, bei Ebbe müssen wir auf offener See sein!“

Wie üblich war Ottel der Letzte, der aufgestanden war. Brummig musste er feststellen, dass das Frühstück wohl ausfallen würde, da alle Mann damit beschäftigt waren, das Schiff zum Auslaufen vorzubereiten. Sie waren nicht die Einzigen, die mit der ablaufenden Flut den Hafen verlassen wollten, um nicht noch einen weiteren Tag auf Sarmia verbringen zu müssen. Es herrschte ein regelrechtes Gewimmel an der Ausfahrt, das Gwenaël durchaus zu nutzen wusste, um sich als einer der Ersten ins offene Meer zu drängeln. Dafür gab es ein paar böse Worte von den anderen Schiffen und Fischerbooten, die ihn aber nicht weiter scherten.

„Der frühe Vogel frisst den Wurm“, rief er nur lachend, „und der geschwindeste!“

Khor fürchtete schon einen Zusammenstoß mit einem der vollbeladenen, schwerfälligen Schiffe, die Pilger zurück zum Festland bringen sollten. Doch Gwenaël manövrierte sein Schiff derart geschickt und elegant durch die Händler- und Fischerboote, dass man ihm schließlich sogar anerkennende Worte herüberrief. Und schon ‑ Khor bemerkte sofort die plötzlich kälter werdende Luft ‑ waren sie meergeboren. Als er sich noch einmal umdrehte, staunte Khor, wie schnell das Wasser nun aus dem Hafen ablief. An den vom Wasser dunkel gefärbten Klippen konnte er deutlich erkennen, wie rasant es bereits gefallen war. Bis die Sonne endgültig aufgegangen sein würde, dürfte die Einfahrt zum Hafen von Sarmia wohl trocken liegen, überlegte er und blinzelte gen Osten.

„Auf nach Pemmpoll!“, rief Gwenaël unternehmungslustig. „Man weiß dort, die besten Fischernetze zu flechten. Sie sind auf der ganzen Welt begehrt.“

„Na, ich bin mir sicher, dass Gwenaël ebenso gut weiß, was die guten Leute dort ihrerseits begehren“, knurrte Broc, ein wenig zu laut, als dass niemand es gehört hätte.

„Holla, mein Freund!“, rief Gwenaël aufgeräumt. „Das möchte ich wohl meinen! Was unsere Frauen zuhause während des Winters weben, ist dort überaus begehrt. Dort auf dem Festland liebt man die bunten Karos und die dünnen, dennoch dichten Stoffe aus der Wolle unserer windzerzausten Schafe. Sie werden dankbar sein, wenn ich ihnen ein paar Wünsche erfülle. Und mein Vetter wird sich freuen, uns beherbergen zu können.“

„Bleiben wir denn länger?“, fragte Sarti.

„Wir laufen gegen Abend mit der Flut dort ein“, entgegnete Gwenaël. „Die Ebbe können wir dann an Land verbringen. Der Hafen wird vollkommen trocken fallen.“

„Und das Schiff?“, rief Khor besorgt. „Es wird auf Grund zu liegen kommen und umkippen!“

„Aber nein! Es wird sich ganz langsam auf die eine oder andere Seite legen“, sagte Gwenaël ruhig. „Und dann ist es gut, wenn niemand außer Elster und Rotfuchs an Bord ist. Es braucht dann Ruhe und kein unnötiges Gewicht oder gar ständiges Getrampel. Ich gönne meinem Schiff diese kleine Erholung jedes Mal, wenn ich hier vorbeikomme. Wenn der Druck des Wassers dann von ihm weicht, seufzt und ächzt es, dass es eine Wonne ist. Nur nicht allzu lang darf man das Schiff trocken liegen lassen. Das Holz würde spröde werden. Aber einen Tag verkraftet es leicht. Es ist genauso angenehm für sein Gerippe auf dem Trockenen zu sein, wie für das Eure, wenn ihr schwimmen geht.“

Sarti hatte jedes Wort lautlos mitgesprochen, um nur ja nichts zu vergessen. „Ich kann aber gar nicht schwimmen“, sagte er plötzlich und erschrak sich ob dieser Tatsache, die er fast vergessen hatte. Bleich blickte er auf die offene See und griff unwillkürlich nach der Reling.

„Aber jetzt“, jauchzte Gwenaël, „gibt’s erst mal ein ordentliches Frühstück! Hering mit Ei!“

Sarti entschied sich, dass es wohl besser sei, darauf zu verzichten, bis er sich wieder an das Geschaukel auf dem Meer gewöhnt hätte. Und auch Broc und Khor meinten, dass das Spanferkel des gestrigen Abends ihnen noch immer eine ausreichende Sättigung verschaffte. Nur Ottel freute sich, auf die lange nicht mehr gekostete, eigentümliche Zusammenstellung und schien schließlich mit Gwenaël ein Wettessen austragen zu wollen. Offensichtlich hatte der Schiffsführer, wie seine gesamte Mannschaft auch, das gewöhnungsbedürftige Frühstück in den Monaten an Land arg entbehrt.

„Ach, ihr werdet euch schon wieder daran gewöhnen“, sagte Gwenaël voller Bedauern mit Blick auf die fastenden Freunde. „Ein paar Tage noch und ihr freut euch des Morgens drauf - wie damals, im letzten Sommer.“

Broc machte sich derweil wieder einmal am Heck zu schaffen, dort, wo man die Dinge gelagert hatte, die besser an der frischen Luft blieben, anstatt im Schiffsbauch verstaut zu werden. Es gab dort Laibe eines fürchterlich stinkenden Käses aus der Milch von Rindern, der gleichwohl ausgezeichnet schmeckte und besonders in den Gegenden, wo nur Schafe und Ziegen gehalten wurden, äußerst beliebt war. Stand der Wind entsprechend, konnte man seinen Geruch noch am Bug wahrnehmen, obgleich Gwenaël feste Planen hatte darüberlegen lassen. Daneben standen die Krüge mit Leinöl und anderen ähnlich gefährlichen Flüssigkeiten. Wäre solch ein Krug im windgeschützten Schiffsbauch zerborsten, hätte das Leinöl sich leicht selbst entzünden können. Es war schon erstaunlich, wie sehr die ständig von Unmengen von Wasser umgebenen Seeleute gerade das Feuer fürchteten. Dort hinten am Heck waren aber auch die Käfige für die lebenden Tieren untergebracht. Gwenaël weigerte sich zwar hartnäckig, lebendes Vieh an Bord zu nehmen – „Ich lass mir doch mein Schiff nicht zuscheißen!“ – hatte aber im vergangenen Jahr eingesehen, wie günstig es sein konnte, wenn man ein paar Raben an Bord hatte. Außerdem hatte er sich sogar soweit auf den Wolfshund eingelassen, dass er ihm für den äußersten Notfall ein mit Sand bedecktes Eckchen im Heck zugestandenen hatte, das leicht und ohne Spuren zu hinterlassen gereinigt werden konnte. Es befand sich gleich neben den Käfigen der Raben, denen Brocs Interesse galt. Gleich drei der Vögel hatte man in einen der Käfige gesteckt. Nur dem Raben, mit dem sich Broc während des Winters angefreundet hatte, wurde auf Brocs Wunsch hin ein eigener Käfig zugestanden. Ganz offensichtlich freute sich das Tier, Broc zu sehen; denn es schnäbelte hingebungsvoll durch die Stäbe und gurrte zärtlich dabei. Broc öffnete die Tür des Gefängnisses und der Rabe kletterte flugs auf seine Hand und über den Arm hinauf auf seine Schulter.

„Wenn der nun wegfliegt?“, entfuhr es Khor, der nach dem Zustand der Sandecke sehen wollte.

„Du siehst“, sagte Broc nicht ohne Stolz, „dass er es nicht tut. Er bleibt bei mir.“ Bereitwillig ließ Broc den Raben nach Härchen suchen, die er ihm aus den Ohren zupfen konnte.

Khor sah sich um. „Wo sollte er auch hinfliegen. Hier gibt es ja nichts als Wasser. Vielleicht irgendwo ein karges Inselchen.“

„Täusch dich nicht“, erwiderte Broc. „Wenn er nur hoch genug fliegt, wird er das Festland sehen. Stehen dann auch noch die Winde günstig, ist er schnell weit weg. Du hast deinen Wolfshund ja auch nicht festgebunden und er ist jedes Mal wieder zu Dir zurückgekommen. Manche Tiere schätzen eben die Gesellschaft des Menschen.“ Der Rabe ließ es zu, dass Broc ihn am Hals kraulte.

„Aber wenn wir an Land gehen, sperrst du ihn doch wohl wieder ein“, wollte Khor wissen.

„Hmmm“, überlegte Broc. „Ich glaube nicht. Der Bursche ist nun alt genug, um zu entscheiden, ob er bei mir bleibt oder sich doch lieber in den undurchdringlichen Wäldern des Landes herumtreiben will, das wir ansteuern.“

Sich vernachlässigt fühlend krächzte der Rabe in Brocs Ohr, was diesen derart erschreckte, dass er nach dem Vogel schlug. Krähend flatterte der Rabe von Brocs Schulter auf und flog mehrfach das Schiff entlang, um vorgetäuschte Attacken auf die Mannschaft zu unternehmen. Erst Gwenaëls Schimpfen und Fuchteln brachten ihn dazu, sich endlich auf den Bugsteven zu hocken, nur um sich dort aufzuplustern, gründlich zu schütteln und frech zu krähen. Schließlich flog er zu Broc zurück und setzte sich auf dessen Schulter, wo er von nun an hocken blieb.

Khors Fahrten

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