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Vetter Kharec

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In deutlichem Abstand folgte Gwenaël der Felsenküste, so dass sie gerade noch als roter Strich am Horizont zu erkennen war. Es sei zu gefährlich, sich ihr unnötig zu nähern, erklärte er, da überall Klippen, Kliffs und Felsen lauerten. Man tat also besser daran, Abstand zu halten und sich erst dann wieder zu nähern, wenn man sicher war, die Landmarken richtig deuten zu können.

Zu Khors Überraschung erwiesen sich die eingelegten Fischreste, die sie während des Tages verspeisten, als eine außerordentlich pikante Leckerei. Selbst Sarti, der sich zunächst skeptisch zurückhielt, war schließlich restlos begeistert und löcherte Gwenaël nach der genauen Zubereitungsweise. Satt gegessen lagen die vier Freunde an Deck in der Sonne und genossen die sie umgebende Schönheit.

„Rot wie Blut der Stein“, zitierte Gwenaël aus dem Gedächtnis, „ein Riese hieb hinein, gleich wo die Wunder ragen. Dort solltet ihr es wagen, die Säulen aufzusuchen, links und rechts vom Hieb, dann findet ihr den Weg und braucht den Göttern nicht zu fluchen.“

„Das soll einer verstehen, dein Gereime.“ Ottel schüttelte den Kopf.

„Es ist ein Vers, der allein durch seine Form vor nicht unbeträchtlicher Gefahr warnt“, erläuterte Gwenaël. „Zwei Reimpaare und zwei weitere, diesmal ineinander geschachtelte Reimpaare. Das heißt: Vorsicht, hier kann es gefährlich werden. Und wenn wir den nächsten Hafen anlaufen, werdet ihr schließlich die Worte verstehen.“

„Und wie klingt so ein Reim, wenn es ungefährlich ist und er vor nichts warnen muss?“, fragte Ottel nach.

„Na, heiter und leicht.“ Gwenaël überlegte und zitierte einen weiteren Vers. „Dort wo die Klippen sich neigen, um eine Sandbank zu zeigen, folge dem Lauf des Wassers ins Land, dann siehst du Twynavon zur rechten Hand.“

„Kennst du zu jedem Hafen solch einen Reim?“, wollte Sarti wissen.

„Aber natürlich!“, sagte Gwenaël stolz. „Jedenfalls zu jenen Häfen, die ich schon einmal angelaufen habe. Aber zu manch anderen auch. Für uns Seegeborene bewahren diese Reime das Wissen, wie man dort gefahrlos ansteuert. Es ist Jahrhunderte altes Wissen“, raunte Gwenaël andächtig. „Als Schiffsjunge musste ich die Verse auswendig lernen und mein Vater war unbarmherzig, wenn ich sie nicht ganz richtig aufsagte. Denn eine kleine Auslassung oder Veränderung genügt und du läufst auf das nächstbeste Riff auf.“

„Das ist ja interessant“, mischte sich nun Khor ein. „Kennst du denn auch einen Vers für …“, Khor überlegte, „sagen wir einmal Gotenansk?“

„Aber sicher doch!“ Gwenaël war stolz, zu sehen, wie beeindruckt seine Freunde waren. „Nach der Steilwand mit Gesicht, folg’ Hels Kette, zögre nicht, denn sie wird dich dorthin leiten, wo des Nordens Männer streiten. Wenn nur dein Schiff recht prall gefüllt, ist ihre Streitlust bald gestillt.“

„Ein einfacher Hafen also“, zeigte Sarti, dass er den Sinn der Reime grundsätzlich erkannt hatte.

„Ein einfacher Hafen“, bestätigte Gwenaël, „aber keine einfachen Leute. Aber das habt ihr im letzten Sommer ja selbst erlebt.“

Als der Tag sich neigte und die Sonne bereits warme, gelbe Strahlen aussandte, standen alle ergriffen an Deck und schauten zum Festland hinüber. Man sah zwar nur schroffe, abweisende Felsen, die im Licht der Sonne blutig rot strahlten, doch war der Anblick zu Herzen gehend schön. Vor ihnen tanzten Möwen wie Schneeflocken im Wind und stießen ihre sehnsüchtigen, heiseren Schreie aus, die Khor seit jeher mit Fernweh erfüllten. Der Wind zauste heftig in seinen Haaren und hätte die Sonne nicht doch schon einige Kraft gehabt, so würde er frösteln. Gebannt schauten alle auf die vollkommene Schönheit der Felsenküste.

„Das Land der roten Felsen“, flüsterte Gwenaël. „Sie sind den Menschen, die hier leben, heilig. Zwischen ihnen müssen wir an der richtigen Stelle hindurch, um zu der Siedlung zu gelangen, wo mein Vetter Kharec lebt.“

„Um unser Leben Willen“, jammerte Sarti, „wir werden hilflos an den Felsen zerschellen!“

„Nicht, wenn man die richtige Stelle kennt.“ Gwenaël war ganz ruhig. „Rot wie Blut der Stein, ein Riese hieb hinein …“

„Hier sieht es aber überall so aus, als ob sich gleich mehrere Riesen an den Felsen ausgetobt und mehr als einen Spalt in der Küste hinterlassen hätten!“ Sarti stand die Angst ins Gesicht geschrieben.

„… gleich wo die Wunder ragen, dort solltet ihr es wagen …“

Und tatsächlich: Ein ganzes Stück vor ihnen ragten zwei schwarze Menhire in den Himmel, die man auf zwei hohen Klippen errichtet hatte.

„…die Säulen aufzusuchen, links und rechts vom Hieb …“ Gwenaël ließ das Schiff direkt auf die kleine Bucht zwischen den Felsen mit den Menhiren zusteuern.

„Es ist viel zu eng“, schrie Sarti wie von Sinnen. „Wir werden an den Felsen zerschellen. Und ich kann doch gar nicht schwimmen!“

„Das würde dir auch nichts nützen“, sagte Ottel trocken. „Die Wellen hätten dich augenblicklich an den Klippen zerschmettert.“

„He, he!“, rief Gwenaël begeistert, als das Schiff zwischen den Klippen mit den Menhiren in die Bucht hineinschoss. „…dann findet ihr den Weg und braucht den Göttern nicht zu fluchen.“

Nie hätte Khor erwartet, dass sich unmittelbar hinter der Durchfahrt die Felsen weiteten und den Blick auf einen mit Meerwasser gefüllten See freigaben, an dessen Ufer Höfe auf saftigen Wiesen standen. Kaum waren sie auf der Mitte des Sees angelangt, rief ein Mann am Ende der Durchfahrt „Ebbetide, Ebbetide“ und zog mit Helfern an dicken Seilen. Auf dem gegenüberliegenden Ufer verfuhr man ebenso. „Ebbetide, Ebbetide!“

„Pfiffige Kerle sind das hier“, erläuterte Gwenaël das seltsame Tun. „Dort, wo die Schreier stehen, befindet sich quer zur Fahrrinne eine Schwelle aus Gestein. Ihr werdet sie nachher sehen, wenn die Flut abgelaufen ist. In ihrer Mitte hat man aber eine Rinne herausgebrochen, so dass auch noch Schiffe mit größerem Tiefgang hindurchfahren können. So wie unseres“, sagte Gwenaël mit Stolz in der Stimme. „Und mit den Seilen, an denen sie gerade ziehen, schließen sie ein schweres hölzernes Tor, das, herrscht erst einmal Ebbe, das Wasser im Hafenbecken zurückhält.“

Khor war zutiefst beeindruckt, ebenso Ottel und Broc, der sogar anerkennend durch die Zähne pfiff, was nur äußerst selten einmal vorkam.

Nur Sarti fühlte sich in seiner Haut nicht recht wohl. „Du wirst mir doch nicht sagen wollen, dass man ein Tor aus Holz bauen kann, das vollkommen dicht ist und kein Wasser durchlässt!“

„Nein“, gab Gwenaël zu. „Das kann man wohl nicht. Wenn es das Wasser im Hafen aber wenigstens halbwegs so lange zurückhalten kann, bis die Flut wiederkommt, dann ist sein Sinn und Zweck erfüllt.“

In der Mitte des Beckens drängten sich dicht an dicht die Fischerboote und hielten lediglich von Gwenaëls Schiff gebührenden Abstand; dem größten im Hafen, wie Khor abschätzend feststellte. Auch hier boten sogleich Fährleute ihre Dienste an, um die Besatzung an Land zu bringen. Obwohl es Khor eigentlich nichts anging, sprach er Elster und Rotfuchs an, die abermals an Bord blieben, um das Schiff zu bewachen.

„Nein, es ist uns eine Ehre auf Gwenaëls Schiff aufzupassen“, erwiderte Elster erstaunt.

„Außerdem“, ergänzte Rotfuchs, „ist es uns lieber, an Bord zu bleiben. Die Menschen sind zwar überall gleich, aber dennoch überall verschieden. Was man hier tut, ist dort verpönt. Zudem wollen sie immer, dass man mit ihnen redet. Man weiß gar nicht, was man sagen soll.“

Beruhigt stieg Khor also ins Boot und ließ sich an Land bringen. Hier, so dachte er, schien man offenbar Wölfe zu kennen, denn kaum war er mit dem Wolfshund an Land gegangen, rotteten sich ein paar Bauern zusammen, die sich mit Mistgabeln, Sensen und Hacken bewaffnet hatten. Als dann noch Broc mit dem Raben auf der Schulter erschien ‑ der seinerseits erst einmal einen Ausflug unternommen und krähend das Hafenbecken erkundet hatte, um es sich anschließend wieder auf Brocs Schulter gemütlich zu machen – rief man die Götter, Geister und Dämonen zu Hilfe.

„Beruhigt euch!“, rief Gwenaël. „Ich bin Gwenaël, der Geflügelte, der Windbezwinger und Wunscherfüller. Ich bin der Vetter des Kharec. Und dies sind meine Freunde aus den Wäldern, wo der Honig von den Bäumen tropft.“

Später am Abend, man war gemütlich in Kharecs großzügigem Haus untergebracht und hatte Köstliches gegessen, bedauerte es Khor, dass Gwenaël diese Bemerkung gemacht hatte. Denn jeder aus der Familie des Gastgebers fragte nach dem angeblich von den Bäumen tropfenden Honig. Und selbst als Khor jeden von ihnen aufgeklärt hatte, dass dies eher eine bilderreiche Umschreibung war als eine Tatsachenbehauptung, hielt man Gwenaëls Freunde für schwerreiche Männer. Nun, sie kamen aus einem ganz anderen Teil der Welt, mit anderen Sitten und Gebäuchen, wo man sich sogar Wölfe und Raben hielt. Man nahm dies zur Kenntnis und ließ es schließlich auch dabei bewenden.

Bevor er sich schlafen legte, schlich Khor noch einmal vor die Tür, um nach dem Wolfshund zu sehen. Denn bei der Begrüßung hatte Kharecs Frau unglücklich herumgedruckst, ohne so recht mit der Sprache herauszukommen, was ihr auf der Seele brannte. Doch Broc hatte ihre Bedenken sofort verstanden und fragte nach einem sicheren Plätzchen hinter dem Haus für seinen Raben sowie den Wolfshund. Der also erwartete Khor nun mit gespitzten Ohren und einer unruhigen Rute, die nur darauf zu warten schien, endlich zur Begrüßung heftig wedeln zu können. „Broc, Broc, Broc“, plärrte der Rabe lauthals in seinem Käfig, so dass Khor fürchtete, er könne mit seinem Geschrei das ganze Dorf aufwecken. Flugs kraulte er mit der Linken den Raben im Nacken, während er den Wolfshund mit der Rechten streichelte. Ein später Heimkehrer, der an Kharecs Haus vorbeikam, blieb erschrocken stehen, als er die Szene beobachtete. Hals über Kopf rannte er schließlich davon.

Wenig später, Khor hatte sich eben erst neben Ottel niedergelegt und sich über das Gefühl gefreut, endlich die Beine ausstrecken zu können, polterte es an der Eingangstür. Man konnte Stimmen vernehmen, die immer lauter wurden, bis schließlich Getrampel zu hören war. Noch bevor der Vorhang zur Schlafnische aufgezogen wurde, war Ottel auf den Beinen und hatte sein Schwert gezückt. Das Erste was die Eindringlinge zu sehen bekamen, war also die erlesen geschmückte Klinge eines prächtigen Schwertes aus Abalon.

„Verzeiht“, stammelte Kharec, „und seht es bitte nicht als Bruch der Gastfreundschaft, aber unsere weisen Männer bestehen darauf, zu erfahren, wer ihr seid und was ihr im Schilde führt.“

„Das hättest du ihnen doch auch sagen können“, sagte Ottel ärgerlich und ließ sein Schwert im Schein der Fackeln blinken.

„Sie wollen sich selbst davon überzeugen“, entschuldigte sich Kharec, „denn sie vermuten ihr seid ebenfalls Priester und Wissende.“

„Ja“, rief einer der nächtlichen Besucher, „und womöglich auch noch Priester der dunklen Magie! Wer mit Raben und Wölfen spricht, kann nur mit den Wesen der Finsternis im Bunde stehen.“

„Und wer zu nachtschlafender Zeit in ein fremdes Haus eindringt, kann selbst nur Schlimmes im Schilde führen“, polterte Gwenaël, der nach Broc und Sarti nun ebenfalls hinzukam.

Kharec hatte einen roten Kopf vor Scham, denn es war sein Haus, in dem die Gastfreundschaft gebrochen wurde. „Vergebt mir, bitte. Aber lasst euch nur ein paar kurze Fragen stellen.“

„Gerne doch!“ Broc hatte sich vorgedrängt. „Aber warum nur ein paar kurze Fragen. Setzen wir uns doch ans Feuer und unterhalten uns ein wenig. Ich bin mir sicher, dass wir eure Fragen zu eurer Zufriedenheit beantworten können.“

„Das sind hier offenbar die wahren Herren“, flüsterte Sarti Khor ins Ohr, „die Priester. Auf dieser Halbinsel gibt es mehr Heiligtümer als sonst auf der Welt. Also gibt es hier auch jede Menge Priester. Und somit auch jede Menge Streit zwischen ihnen. Denn jeder beansprucht die Weisheit der letzten Dinge für sich.“ Sarti packte Khor am Arm. „Man sagt, sie könnten sogar hexen.“

„Unsinn“, zischte Khor. „Du redest wie meine Mutter.“

Als man sich um die Feuerstelle setzte, ließ der Älteste der Priester die Flammen steigen. Offenbar hoffte er, die Fremden damit einschüchtern zu können.

„Ach, ihr benutzt ebenfalls die Sporen des Bärlapps“, sagte Broc unbeeindruckt und warf seinerseits eine Hand davon ins Feuer, was eine derart heftige Stichflamme hervorrief, dass dem Priester fast der Bart versengt wurde. „Aber ihr nennt das doch wohl sicher nicht Zauber“, setzte Broc hinzu, „nicht wahr? Kann doch ein jeder mit Bärlappsporen um sich werfen.“

„Aber sich mit Tieren zu unterhalten, ist Zauber!“ Der Priester funkelte Broc an.

„Ach was“, gab Broc ein wenig dünkelhaft zurück. „Jeder Bauer redet mit seinem Vieh. Und hättest du einen Hund, so tätest Du’s auch. Mit Tieren zu sprechen kann also kein Zauber sein. Erst wenn sie es wären, die sprechen, grenzte dies wohl an Zauberei.“

„Broc, Broc, Broc“, krächzte der Rabe draußen, der dessen Stimme offenbar gehört hatte.

Der Priester wurde kreidebleich. „Sie sprechen, sie sprechen tatsächlich!“

„Zunächst einmal hat nur der Rabe gekrächzt. Du kannst also nicht in der Mehrzahl reden.“ Broc, den Khor immer nur freundlich und verständnisvoll erlebt hatte, konnte auch ein anderes, herablassendes Wesen offenbaren. „Und darüber hinaus weiß jedes Kind, dass man Raben, Krähen oder auch Dohlen mit ein wenig Geduld zum Nachahmen häufig wiederholter Laute abrichten kann. Ob es nun ein Wort, ein Lied oder auch nur ein Geräusch ist. Ich hatte einmal eine Dohle, die den Laut des Tragebügels nachahmen konnte, den er macht, wenn er auf das Metall des Gefäßes schlägt. Der Vogel hat jeden im Haus damit verrückt gemacht.“

„Sieh an“, sagte der Priester schnippisch, aber dennoch neugierig, mehr über den anderen zu erfahren. „Du hast in Häusern gelebt, in denen es metallene Gefäße gab. Wo mag das wohl gewesen sein?“

„Du kennst das Dorf am Mittelberg?“ Broc tat so, als ob ein jeder schon davon gehört haben müsste.

Der andere guckte nur dumm.

„Dort ist unsere Heimat“, strahlte Broc ergriffen. „Ein schönes Land, ein reiches Land. Mit schwarzer Erde, klaren Flüssen und tiefen Wäldern …“

„… wo der Honig von den Bäumen tropft“, dachte Khor gerade noch und schon war er eingenickt. Er bekam es kaum richtig mit, als Ottel ihn bald darauf ins Bett bugsierte, so müde war er. Und kaum hatte er sich hingelegt ‑ jedenfalls kam es Khor so vor, als wäre er gerade erst eingeschlafen ‑, wurde er auch schon wieder geweckt. Heute galt es, früh aufzustehen, denn bald würde das Hochwasser wieder kommen, ohne das sie im Hafenbecken gefangen wären. „Lass mich in Ruhe“, murmelte Khor im Halbschlaf.

„Was redest du?“, Ottels Stimme wurde streng. „Du solltest mal besser des Abends nicht soviel von dem Apfelmost trinken. Gestern hast du ganz schön zugelangt.“

„Bäh, hör auf, davon zu reden. Mir wird ganz anders.“

„Hör zu: Kharecs Frauen haben sich sehr viel Mühe mit der Zubereitung des Frühstücks gegeben. Du wirst sie also nicht beleidigen, hörst du.“ Ottels Stimme konnte tatsächlich sehr streng klingen. „Lauf mit dem Wolfshund fünfmal ums Haus und wenn das nichts hilft, steck dir den Finger in den Hals! Schau aber zu, dass Broc dich nicht sieht. Der hat die ganze Nacht mit dem Priester am Feuer gesessen und hochgebildete Streitgespräche geführt. Kharecs Mägde mussten die beiden erst anflehen, die Feuerstelle freizumachen, damit sie das Frühstück zubereiten konnten. Wenn Ottel dich sieht, quatscht er dir augenblicklich die Ohren voll.“

„Und was ist es, was du gerade machst? Soviel redest du sonst in einem ganzen Jahr nicht. Ich hab kein Wort von deinem Gequassel verstanden. Jetzt gehe ich erst mal nach draußen, um mich zu waschen.“

Ottel lauschte noch eine Weile, ob sein Freund denn auch ungehindert die Tür erreicht hätte, als er plötzlich Khors Stimme hörte: „Donnerschlag! Es ist ja noch stockdunkel.“

„Aber ja, fremder Herr“, zirpten die Mägde, „die Flut kommt heute sehr früh.“

Khor wollte seinen Augen kaum trauen. Dort wo gestern noch ein kleiner See mit einem ausgedehnten, steilen Sandstrand lag, breitete sich nun ein mindestens doppelt so großes Gewässer aus, dessen Spiegel bald die Grasnabe erreicht haben dürfte. Und dort bei den Klippen, wo man, links und rechts von der Einfahrt zum See, an den Seilen gezogen hatte, drängte sich das Wasser strudelnd durch die Felsenschlucht ins Becken zurück. Das hölzerne Tor war durch den Druck des zurückströmenden Wassers längst aufgepresst worden und nicht mehr zu sehen, so hoch war das Wasser inzwischen gestiegen.

Als Khor nach einer ausgelassenen Begrüßung durch den Wolfshund und etlichen gemeinsamen, von den Einwohnern argwöhnisch beobachteten Runden um das Haus wieder eintrat, passte ihn Broc tatsächlich ab. Der sonst so beherrschte Weise, quoll über vor neuen Erkenntnissen, die er Khor allesamt sogleich mitteilen wollte. Man glaubte hier an Zauber und Hexerei, wusste er zu berichten, was die Priester für ihre Absichten jedoch nur zu gut zu nutzen wussten. Dennoch, so bestätigte Broc strahlend, war es ein hochinteressantes, ein einvernehmliches Gespräch des Austauschs gewesen, dass er mit dem Priester geführt hatte; auch, wenn es ihm den nötigen Nachtschlaf gekostet habe. Genauso wie Broc blinzelte auch Sarti aus kleinen Augen, denn er war die ganze Nacht dabeigesessen, um alles, was gesagt wurde, in sein Gedächtnis aufzunehmen. „Stell dir vor“, unterbrach er Brocs Redefluss, „sie brauen hier geheimnisvolle Trünke, die ihren Kriegern übermenschlichen Mut und ebensolche Kräfte verleihen. Außerdem glauben sie, anhand des Fluges der Vögel wie auch des Geheuls der Wölfe die Zukunft vorhersagen zu können. Aus diesem Grunde vermuteten sie auch, dass wir Übles im Schilde führten und wir sie mit abgerichteten Tieren foppen wollten.“

„Das klingt ja fast nach dem Aberglauben der Altgläubigen.“ Khor staunte. „Ihr werdet ihnen aber doch bestimmt erzählt haben, dass auch wir über gewisse Trünke verfügen. Mjördl zum Beispiel, der nur von Eingeweihten zubereitet werden darf.“

Khor kam kaum dazu, das reichhaltige Frühstück so ausgiebig zu genießen, wie es sich für einen guten Gast geziemte. Zum einen war ihm noch immer nicht ganz wohl und zum anderen redeten sowohl Broc als auch Sarti ohne Unterlass auf ihn ein, um ihm von den Einzelheiten ihrer nächtlichen Unterredung zu berichten. Selbst der Genuss der heißen Apfelküchlein, die er sonst immer so gerne aß, wurde ihm von ihrem Durcheinandergerede und ständigen Ausbrüchen des Erstaunens gründlich vereitelt. „Stell dir nur vor …“

Schließlich bat er die Plappermäuler, dass sie ihm besser während der bevorstehenden langen Fahrt des Tages davon erzählen sollten. Ein wenig beleidigt, aber endlich schweigend nahmen nun auch Broc und Sarti ihr Frühstück ein.

Wie gestern so steuerten Elster und Rotfuchs auch heute das Schiff an einen hölzernen Landungssteg nachdem die Flut vollends eingelaufen war. Gwenaël schien nicht gerade sehr erfreut darüber zu sein, die Wünsche seines Vetters Kharec zu erfüllen. Denn neben karierten Stoffen bat er um Zinn, so dass Gwenaël ihm schließlich schweren Herzens eine ganze Spirale davon abtrat. Aber auch der Bernstein ließ die Augen des Verwandten hell aufleuchten. „Der schwimmende Stein, der Leben bannt“, murmelte er ständig als er einen Brocken nach dem anderen begutachtete und an seine Frau weiterreichte, die sich kaum entscheiden konnte, welche davon denn schließlich ihren Hals zieren sollten. Kharec fürchtete schon um Haus, Hof und Schiff, so dass er seine Gattin ermahnte. „Lass nicht die Gier dich fressen. Es ist genug.“

„Noch einen Einzigen!“, kam die Antwort, begleitet von einem flehend betulichen Blick.

„Was kannst du mir denn zum Tausch anbieten?“, brummte Gwenaël.

„Apfelmost!“, entgegnete Kharec triumphierend. Als Gwenaël wenig Begeisterung zeigte, setzte er schnell hinzu: „Unser Apfelmost ist der beste der Welt und alle sind immer ganz begierig darauf, ihn einzutauchen.“

„Wir haben bereits mehrere Krüge davon“, erklärte Gwenaël, „und es steht zu befürchten, dass er uns sauer wird, bevor wir ihn aufgebraucht haben oder wir ihn eintauschen konnten.“

„Ach so“, gab Kharec enttäuscht zurück. „Möchtet ihr gepökeltes und geräuchertes Fleisch vom Wildschwein? Oder Schwaneneier und eingelegte Heringe? Das ergibt eine wunderbar sättigende Mahlzeit.“

„Von dem Trunk, von dem Broc und Sarti berichtet haben, würde ich etwas nehmen und ein neues Fischernetz wäre auch nicht schlecht …“

Kharec schaute betreten drein. „Ein Fischernetz will ich dir gerne geben. Es ist ganz neu und ich wollte es eigentlich heute zum ersten Mal benutzen. Aber ich kann auch einstweilen mein altes nehmen und die Frauen knüpfen mir ein neues. Aber das mit dem Trunk, das wird wohl nicht gehen. Die Priester schenken ihn aus und geben niemals etwas an Fremde.“

So wurden also einige riesige Fischernetze an Bord gebracht, die je zwei Männer kaum zu tragen vermochten. Zudem wurde das mächtige Hinterbein eines Wildschweins angeschleppt, das, gepökelt und geräuchert, lange haltbar war, wie Kharec nicht müde wurde zu betonen. „Ich selbst habe das Wildschwein erlegt“, sagte er als es Gwenaël übergeben wurde. „Das Bein hat viele Monde in unserem Haus genau unter dem Rauchloch gehangen. All die guten Speisen, die wir in jener Zeit auf der Feuerstelle zubereitet haben, ließen mit dem Rauch auch ihren Duft nach oben steigen. Es ist ein prächtiger, ein guter Schinken geworden. Und ihr werdet lange etwas davon haben. Denn er ist sehr haltbar!“

Da die Zinnspirale ein beträchtliches Vermögen darstellte, brachte man darüber hinaus ein nicht einmal handgroßes Körbchen mit feinsten Angelhaken und Nadeln aus Bronze, die so dünn waren, dass Khor bei dem kurzen Blick meinte, den er darauf hatte werfen können, sie seien zu Gold gewordene Federkiele von Zaunkönigen. Und da Gwenaël sogleich Arkan losschickte, damit er das Körbchen unter Deck brachte und ans Kopfende von Gwenaëls Lager stellte, dort, wo die wertvollsten Dinge verstaut waren, wusste Khor sich in der Einschätzung ihres Wertes bestätigt.

Es wurde herzlich gewinkt und gerufen, als sie über die noch immer gurgelnde Schwelle am Eingang zum Hafenbecken fuhren. Broc erkundigte sich sogleich bei Gwenaël, ob er mit dem heutigen Tauschgeschäft denn auch zufrieden war.

„Die Zinnspirale hat mich schon ein wenig gereut“, gab er freimütig zu. Bis weit ins südliche Meer hätte ich gute Geschäfte damit machen können. Aber was soll’s. Kharec gehört nun mal zur Sippe.“

Und die war offenbar unvorhersehbar groß. Denn am nächsten Halt, so hatte Gwenaël angekündigt, würden Khor und seine Freunde eine weitere Tante Gwenaëls kennen lernen. Sie stand ihm zwar nicht so nah wie Tante Una, da er sie aufgrund der Entfernung ja auch sehr viel weniger oft getroffen hatte, gleichwohl hatte er die weise Frau immer sehr gern gehabt.

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