Читать книгу Khors Fahrten - Wieland Barthelmess - Страница 8

Felsenküsten

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Gwenaël sah zu, dass sie sich so schnell wie möglich von der Küste entfernten, denn überall ragten Klippen aus dem Meer. Viel gefährlicher waren aber jene Riffe, die nicht aus dem Wasser ragten, sondern wie bösartige Bestien unter dessen Oberfläche auf die Unvorsichtigen lauerten. Angespannt um sich spähend ließ Gwenaël das Schiff Kurs Nordnordwest nehmen, ständig auf der Hut vor Gischtgekräusel, das einen Felsen unter Wasser verraten konnte. Schließlich setzte er sich ganz entspannt zu seinen Freunden und deutete auf einen Punkt in der Ferne. „Das dort ist die Öde Insel“, meinte er vielsagend. „Wir werden an ihr vorbeifahren und anschließend den Kurs ändern. Von da an geht es strikt nach Westen, mit einem kleinen Dreh nach Süden. Immer an der Küste entlang, bis wir die Insel Kharrn erreichen. Dort werden wir ankern und übernachten. Und morgen geht es dann weiter in Richtung Süden, denn wir haben dann endlich die Hälfte der Halbinsel der Priester umrundet.“

„Und das Festland wird nicht angelaufen?“, fragte Broc interessiert. „Keine Verwandte mehr?“

„Von wegen!“, entgegnete Gwenaël belustigt. „Bis hinter Gadir könnte ich jeden Hafen anlaufen und würde überall irgendwelche Vettern und Basen treffen. Aber wie der Name schon sagt, lohnt die Öde Insel keinen Besuch. Es gibt noch nicht einmal Bäume dort, so dass die Bewohner ihre Häuser aus dem getrockneten Dung ihrer Rindviecher bauen. Es sind einfache, primitive Menschen, die dort hausen. Sie leben nach einem schlichten Grundsatz: Wer übers Meer kommt, der will stehlen. Wir machen also besser einen großen Bogen um das ungastliche Eiland.“

„Und die Insel Kharrn“, wollte Sarti wissen, „wo wir heute ankern werden, um zu übernachten?“

„Menschenleer“, sagte Gwenaël mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. „Wir können in diesen Gewässern nachts nicht fahren. Zu viele Klippen, Riffe und Felsen. Also müssen wir irgendwo anlegen. Und menschenleere Inseln können in dieser Gegend angenehmer sein, als irgendwelche Häfen, in denen womöglich noch religiöse Eiferer ihr Unwesen treiben und nachher noch auf dumme Gedanken kommen.“

Vor zwei Generationen hatten sich auf der Halbinsel der Priester, die sie gerade umrundeten, fremde Stämme niedergelassen, die aus dem Osten gekommen waren, erklärte Gwenaël. Kriegerische Menschen, die ihre Toten nicht begruben, sondern auf Scheiterhaufen verbrannten. Sie hatten die Vorstellung von der Überlegenheit des Mannes mitgebracht. Männer waren ihre Anführer, Männer waren ihre Priester. Männer waren es, welche die Entscheidungen trafen. Alle Entscheidungen.

„Tsss …“, zischte Broc missbilligend durch die Zähne. „Und die Weiber lassen sich das gefallen?“

Gwenaël zuckte mit den Schultern. „Offenbar. Ihre Aufgaben sind die Kinder und das Haus - mit allem was dazu gehört. Also auch das Vieh und die Felder.“

„Und die Männer?“, rief Ottel.

„Die besorgen die Geschäfte. Und sie sorgen sich um ihr Seelenheil, da sie ständig zu den Priestern rennen. Mindestens einmal am Tag schreiten sie die uralten Steinreihen ab und beschwören jeden Einzelnen ihrer Vorfahren. Behaupten sie doch, dass die stehenden Steine vor Jahrhunderten von ihren verstorbenen Ahnen errichtet worden seien, was natürlich Unsinn ist.“

„Und ihre Frauen sorgen sich nicht um ihr Seelenheil?“, rief Sarti interessiert dazwischen.

„Na, und ob!“, lachte Gwenaël. „Mindestens genauso wie ihre Männer. Aber sie haben bei den Steinreihen nichts zu suchen. Ebenso wenig würde einer der Priester sich um das Seelenheil einer Frau kümmern. Also haben die Frauen ihren eigenen Glauben. Pfah!“ schnaubte Gwenaël, „voller Geister, Gespenster und Dämonen! Jedes beliebige Kraut gehört irgendeinem Geist, den man erst beschwören muss, bevor man sich daran bedienen darf. Und für jeden Handgriff, den sie tun, ist ein anderer Dämon zuständig, den es unbedingt zu besänftigen gilt.“

„Klingt nach einem anstrengenden Leben“, sinnierte Ottel.

„Für die Frauen ganz bestimmt“, nickte Gwenaël heftig. „Es ist seltsam, aber man könnte meinen, dass dort zwei Völker leben. Eine Volk der Männer und ein Volk der Frauen …“

„Könnten wir nicht …“, unterbrach ihn Sarti plötzlich und senkte seine Stimme wie ein Verschwörer. „Ich meine, wäre es nicht unter Umständen möglich …“

Broc riss das Wort an sich. „Sollten wir solches nicht mit unseren eigenen Augen sehen? Wisse um den Glauben und du verstehst das Volk“, zitierte er. „Gibt es nicht eine größere Ansiedlung, die wir besuchen könnten? Natürlich ohne allzu große Umwege fahren zu müssen. Und wer weiß, vielleicht lauern dort für dich ja auch unerwartet gute Geschäfte.“

„Oder aber schlechte“, gab Gwenaël geistesabwesend zurück, da er bereits darüber nachdachte, wo er einen solchen Halt einlegen könnte. „Na, wenn schon, denn schon!“, rief er nach einer Weile. „Dann lasst uns nach Kharrenac fahren. Übermorgen sind wir dort. Es liegt, wie nun einmal jeder Ort an der Küste, mehr oder weniger auf dem Weg. Nur einen stinkenden Fluss müssen wir ein Stück landeinwärts fahren. Ihr werdet staunen, welch mächtige Stadt es ist. Hoch auf einem Hügel, mit in den Himmel ragenden Befestigungen.“

„Warum hattest du denn nicht von Anfang an vor, diese Stadt anzulaufen?“, wollte Sarti wissen. „Es klingt doch ganz so, als ob man dort gute Geschäfte machen könnte.“

„Ach ja“, zögerte Gwenaël, „es sind raue Gesellen dort. Kleinigkeiten werden hart bestraft. Man schneidet den Leuten die Nasen ab oder aber auch ihre Ohren oder man zerhackt ihnen die Hände, nur weil sie gegen den wahren Glauben verstoßen haben. Ich kannte da mal jemanden …“ Gwenaël schmunzelte jungenhaft und Khor meinte, ihn sogar ein wenig erröten zu sehen. „Die hatte vielleicht Dämonen im Leib! Ha! So was habe ich noch nie erlebt. Ich hab gedacht, sie frisst mich auf.“

„Erzähl mehr!“, rief Ottel voller Interesse.

„Jedenfalls wolltest du uns wohl damit sagen“, mischte sich nun Broc ein, um etwas für den Wissensdurst anstatt die Sinnlichkeit zu tun, „dass du schon sehr intensiven Kontakt mit den Einheimischen dort hattest. Aber warum bist du dann nicht wiedergekehrt?“

„Weil ihre Gesetze wirklich grausam sein können“, klagte Gwenaël. „Sobald ein Mädchen schwanger ist, setzen die Eltern es aus. Sie darf die Schwelle ihres Elternhauses nur noch mit einem Mann an ihrer Seite übertreten. Manchmal ist aber kein Mann mehr da.“ Gwenaël machte eine Geste, als wolle er die Flüchtigkeit des Windes wiedergeben. „Dann sterben die meisten der Mädchen. Sie verhungern, werden von wilden Tieren gefressen oder verbluten im Wald, wenn sie ihr Kind gebären. Nur wenige überleben. Manchmal erbarmt sich jemand. Ist das Kind gesund, findet sich schon ein Bauernpaar, bei dem es auf einen Fresser mehr oder weniger nicht ankommt. Insbesondere, wenn es ein Junge ist.“

„Ich verstehe …“ Brocs Stimme klang mitfühlend. „Es tut mir leid, Gwenaël, dass sich traurige Überlegungen einstellen, wenn du daran denkst. Vielleicht ist es dann doch kein so guter Gedanke, nach Kharrenac zu fahren. Wir würden dich ungern deiner Nase, eines deiner beiden Ohren oder auch eines anderen Körperteils verlustig gehen sehen.“

Gwenaël lachte. „Es ist sehr, sehr lange her, dass ich dort war. Noch vier Jahre fehlten mir damals zu dreimal sieben Jahren. Man würde einander nach so langer Zeit sowieso nicht mehr wieder erkennen. Aber ich wollte schon längst einmal hingefahren sein. Vielleicht könnte ich ja wenigstens etwas in Erfahrung bringen. Schon um ein wenig sicherer zu sein, welche Folgen mein Tun hatte und ob ich mir deswegen Vorwürfe machen muss.“

Sie aßen von dem eingelegten Fisch und dem Brot, das ihnen Gwenaëls Vetter Gurvan vorgestern mitgegeben hatte.

„Tunkt das trockene Brot nur in die Würzlake“, forderte Gwenaël sie auf. „Es schmeckt köstlich!“

Khor wollte es zunächst kaum glauben, aber es schmeckte tatsächlich unerwartet gut.

Ständig überprüfte Gwenaël den Wind. „Wir haben heute eine lange Tagesstrecke vor uns. Nur wenn uns der Wind weiterhin gewogen ist, werden wir mit Einbruch der Dunkelheit die Insel Kharrn erreichen.“

„Und wenn nicht?“, fragte Khor unsicher.

„Dann müssen wir eben woanders anlanden“, entgegnete Gwenaël. „Aber so wie es aussieht, werden wir auch den Rest des Tages gut vorankommen.“

Khor war vor allem daran interessiert, endlich zu erfahren, wie Sarti die letzte Nacht in dem steinernen Verlies erlebt hatte.

„Nun“, berichtete der, „die Abwesenheit aller Sinneseindrücke war wohl die bemerkenswerteste Erfahrung. Mit der Zeit verliert man vollkommen das Gefühl für oben und unten. Man hört und sieht in der Stille und Dunkelheit bald Dinge, die es gar nicht gibt. Am widerwärtigsten war mir jedoch die Vorstellung, dass es in der Gruft nur so von Asseln, Spinnen und Tausendfüßlern wimmeln könnte. Ich habe sie schon an mir hochkrabbeln gespürt.“ Sarti schüttelte sich bei dem Gedanken daran. „Tatsächlich gab es dort aber nichts, überhaupt nichts. Nur die eigenen Ängste und Befürchtungen. Noch nie ist mir derart klar geworden, dass es oft unsere eigenen Gedanken sind, die Gestalt annehmen und lebendig werden, um uns dann zuzusetzen. Wir nähren unsere Furcht mit unseren Ängsten. Man sollte sie also zu beherrschen wissen und ihnen keinerlei Kraft geben, damit sie sich schließlich nicht verdinglichen. Offenbar ist es das, was man bei dieser Prüfung erfahren soll. Der eine Bub, gleich in der Gruft neben mir, hat sich von seinen Ängsten einspinnen lassen. Er war fest davon überzeugt, bei lebendigem Leibe aufgefressen zu werden. Keine schöne Vorstellung, dass man übersät von Asseln ist und von ihnen auch noch verspeist wird.“

„Glücklicherweise habe ich bevor es stockdunkel wurde noch mitbekommen, dass die Kammer ganz sauber war“, seufzte Khor erleichtert. „Keine Tiere, nichts. Dort herrschte die vollkommene Abwesenheit allen Lebens.“

„Dort herrschte die vollkommene Abwesenheit von allem“, bestätigte Sarti. „Es war das reine Nichts, das man dort erlebte.“

„Und wie ist es, das Nichts?“, wollte Ottel wissen.

„Na, einfach nichts“, entgegnete Sarti. „Ich habe mir die Zeit damit vertrieben, mein Gedächtnis zu üben und habe die Stationen unserer bisherigen Reise aufgesagt; oder die Verhaltensgrundsätze, die wir erarbeitet haben oder aber auch die Namen der Völker von denen ich gehört habe.“

„Ich bin irgendwann einmal eingeschlafen“, lachte Khor.

„Ich auch!“ Sarti nickte.

Obwohl keiner von beiden es sich anmerken ließ, waren sie froh, diese Nacht hinter sich zu haben – und sie auch nicht noch einmal wiederholen zu müssen. Khor zog das Amulett hervor, das ihm Tankhir am Morgen umgehängt hatte, nachdem er die Gruft verlassen hatte. Es war eine etwa handtellergroße Bronzescheibe, in die man am Rand ein Loch gebohrt hatte, damit sie an einem Lederband um den Hals getragen werden konnte. Ottel rutschte ganz nah zu Khor heran, um einen Blick darauf werfen zu können.

„Oh“, entfuhr es ihm, „das sieht ja gut aus. Macht Eindruck!“

„Dabei sind es nur zwei ineinander gestellte Dreiecke. Eines mit der Spitze nach oben, das andere mit der Spitze nach unten“, erläuterte Sarti. „Aber wir gehören somit in den niedersten Rang ihrer Priesterschaft.“

„Der war aber nun wahrlich nicht schwer zu erringen“, protzte Khor.

„In unserem Alter nicht.“ Sarti hatte nun auch sein Amulett hervorgeholt. „Die Buben, die sich dem stellen, sind üblicherweise gerade einmal vierzehn Jahre alt.“

Khor schämte sich für seine Bemerkung. „Du hast Recht, Sarti. Es war eitel von mir …“

„Wo wir doch nun schon einmal bei Eitelkeiten sind …“ Ottel hatte richtiggehend Gefallen an den Amuletten gefunden, wie sein Gesicht verriet. „Es ist zwar nur ein Stück dünnes Blech und auch nicht gerade eine sehr hochwertige Bronze“, mit Kennermiene befühlte Ottel die Scheibe um Khors Hals, „aber die Punzierung ist ganz außerordentlich. Seht es euch an! Es sieht aus als wäre die Bronze durch die Zeichnung mattiert. Ist sie auch, denn die Zeichnung besteht aus Abertausenden von kleinen Punzierungen. Beeindruckend! Da bestimmen eindeutig Geduld und Ausdauer den Wert des Stücks.“

„Magst du es haben?“, fragte Khor.

„Aber nein!“, wehrte Ottel ab. „Das geht doch nicht …“

„Das geht wirklich nicht“, mischte sich Sarti ein. „Hast du nicht gehört, was Tankhir gesagt hat: Jedem, der sie trägt und nicht durch eine Nacht in der Gruft erworben hat, droht der Tod.“ Ottel zuckte zurück.

„Aber wenn ich sie doch Ottel schenke …“, protestierte Khor.

„Es steht dir nicht zu, sie zu verschenken“, sagte Broc mit ruhiger Stimme. „Jedenfalls nicht nach Überzeugung der Menschen, die dir das Amulett gegeben haben. Ähnlich wie die Wurzel von Fenhild, die wir auch nicht weggeben können. Selbstverständlich kannst du damit tun, was immer du magst. Achtung zeigst du den Menschen, die dir Derartiges gaben aber nur, wenn du ihre Wünsche auch befolgst. Für sie ist es etwas Heiliges, vergiss das nicht.“ Khor nickte und steckte das Amulett sowie Fenhilds Wurzel schnell wieder unter sein Wams.

„Der arme Ottel“, frotzelte Gwenaël. „Der guckt jetzt ganz traurig. Aber gräm dich nicht, Ottel! In Kharrenac kann ich dir ganz bestimmt so ein Ding besorgen.“

„Ach, lass gut sein, Gwenaël, mir ist die Lust darauf vergangen.“

Als die Sonne schon fast den Horizont berührt hatte, war die Insel Kharrn noch immer nicht in Sicht.

„Bogen, Bogen, Bogen, drei Mal weiße Bogen.

Gleich nach der Spur des Bären,

Ragt sie hervorgezogen,

thronend über weißen Wogen.

Bei hohem Wasser, Felseneiland

bei Ebbe dann zum Land gebannt.

Wie Zickennierchen sieht sie aus

und reicht ganz weit ins Meer hinaus.

Wenn dort nur Menschen wären,

wo sie das weiße Band einst zogen

thronend hoch droben über dem Toben

der ewigen Wogen.“

Immer wieder murmelte Gwenaël denselben Vers und spähte nach der Küste. Khor stellte sich wortlos neben ihn.

„Bogen, Bogen, Bogen“, wiederholte Gwenaël und deutete auf drei nebeneinander liegende, geschwungene Buchten mit weißem Sandstrand. „Gleich nach der Spur des Bären, ragt sie hervorgezogen, thronend über weißen Wogen. Siehst du die Spur des Bären, Khor? Dort! Sieh dir die Inseln an. Wie die Zehen einer Bärentatze. Und gleich dahinter … Siehst du das Zickennierchen?“

In der Tat! Die nächste Insel hatte die Form einer Ziegenniere.

„… wo sie das Band einst zogen … Siehst du die hellen Steine dort auf der Insel? Das ist eine ebensolche Steingruft wie du sie gestern erlebt hast. Vor Tausenden von Jahren erbaut für die Ahnen von uns Seegeborenen …“

Gwenaël hielt genau auf die Insel zu. Tatsächlich: Er fuhr so nah es ging an die Klippen heran und ließ ein Tau um einen der Felsen schlingen. Dann fuhr er etliche Schiffslängen weiter und ließ dort ebenfalls ein Tau um einen anderen Felsen legen.“

„Wäre es nicht besser, du würdest auf der dem Land zugewandten Seite der Insel anlegen“, wagte Sarti zu fragen. „Dann müssten wir nicht fürchten, gegen die Felsen gedrückt zu werden.“

„Die Flut läuft ab“, erwiderte Gwenaël wie abwesend, galt seine ganze Aufmerksamkeit doch den Felsen und Klippen, die allerorten aus dem Wasser ragten. „Bei Ebbe kann man die Insel vom Festland aus zu Fuß betreten. Wir würden kläglich stranden, wenn wir auf der rückwärtigen Seite anlegten. Und wäre das Meer nicht so ruhig, könnten wir überhaupt nicht anlegen, denn die Wellen würden uns an die Felsen der Insel drücken.“

Soweit die Taue es zuließen, fuhr Gwenaël nun aufs Meer hinaus und ließ von drei seiner stärksten Männer einen schweren Stein über Bord werfen, der aussah wie ein Mahlstein, dessen Mitte nach jahrhundertelangem Gebrauch durchgeriebenen war. Man hatte ein dickes, gewachstes und genügend langes Tau hindurch gezogen, das die Männer vorsichtig dem Stein folgen ließen. Als das Tau schlaff wurde, zogen sie es an und hielten somit das Schiff von den Felsen der Insel fern.

Am liebsten hätte Khor an Deck geschlafen, denn nach der letzten Nacht in der steinernen Gruft war ihm eigentlich so recht nach frischer Luft. Doch sobald die Sonne verschwunden war, wurde es empfindlich kalt, so dass er nach einem erstaunlich üppigen Mahl schließlich doch froh war, im Schiffsbauch verschwinden zu können. Obwohl er todmüde war, konnte er nicht tief schlafen. Ständig richteten die Wachhabenden die Taue neu aus, so dass ihr Getrampel, ihre Zurufe und das eigentümliche Klatschen der Taue auf das ruhige Wasser ihn ständig weckten.

Als ihn abermals Trampeln und Rufen weckte, war die Sonne bereits aufgegangen. Khor hatte einen winzig kleinen Schlitz zwischen zwei Planken des Decks ausfindig gemacht, der ein wenig Licht hindurch ließ. Zumindest konnte man erkennen, ob es Tag oder Nacht war. Leise schlich Khor nach oben. Um die Kameraden nicht zu wecken, nahm er sogar ein Stückchen Stoff mit, damit er die rumpelnde Luke etwas leiser schließen konnte. Der Wolfshund freute sich, als ob er Khor seit Tagen nicht gesehen hätte. Doch Khors Aufmerksamkeit wurde von anderen Dingen beansprucht: Das Wasser floss ab. Und zwar mit einer derartigen Geschwindigkeit, dass es das Boot mit sich zog. Außerdem hatte Gwenaël Segel setzen lassen. Alle Mann waren auf ihren Plätzen und starrten gespannt nach vorne. Jetzt, wo die Flut fast restlos abgeflossen war, ragten plötzlich überall Felsen empor und Riffe schimmerten unter den Wellen. Das Schiff raste geradewegs auf zwei Türme aus Stein zu, die gestern Abend noch Inselchen waren. Unmittelbar bevor das Schiff zwischen ihnen hindurchjagte, rief Gwenaël aus Leibeskräften: „Hier kommen die Seegeborenen, ihr Wasser! Wir bleiben mit euch, wohin ihr auch geht! Wir sind mit euch!“

„Wir sind mit euch!“, rief die Besatzung wie aus einem Mund. „Wir sind mit euch! Wir sind mit euch!“

Broc erschrak sich zu Tode als er an Deck erschien und das gefährliche Unterfangen sah. Sarti wurde es sofort wieder schlecht und sogar Ottel war weiß um die Nase geworden – und zweifelsohne hellwach.

„Hier kommen die Seegeborenen, ihr Wasser! Wir sind mit euch! Wir sind mit euch!“

Khor meinte die Felsen mit der Hand berühren zu können, so nah raste das Schiff zwischen ihnen hindurch. Die Rah krachte gegen den rechten Felsenturm, war jedoch in kluger Voraussicht nur lose befestigt worden, so dass sie durch den Stoß herumgeworfen wurde und in sich bebend lediglich ein erbärmliches Ächzen von sich gab. Geistesgegenwärtig hatten sich alle zu Boden geworfen, um der schwingenden Segelstange zu entgehen, die gefährlich nah über ihren Köpfen tanzte. Nur Sarti war wieder einmal weit über die Reling gebeugt und wunderte sich nun, nachdem er sich erleichtert und umgesehen hatte, über die am Boden liegenden Gefährten. Gerade wollte er irgendetwas sagen, als er bemerkte, dass das Schiff abermals genau auf die Mitte von zwei weiteren Felsen zuraste, die dieses Mal allerdings noch gewaltiger waren. Es machte zwar keinerlei Sinn, sich zu Boden zu werfen, aber wenigstens musste Sarti so das Unausweichliche nicht auch noch mit eigenen Augen ansehen. Er barg den Kopf unter seinem Arm und rief wie ein hilfloses Kind: „Ich bin doch nur ein Landgeborener! Nichts als ein Landgeborener!“

„Hier kommen die Seegeborenen, ihr Wasser!“, schrie es ihm entgegen. „Wir sind mit euch! Wir sind mit euch!“

Als das Schiff das zweite Felsenpaar durchfuhr, schrie Gwenaël sich seine Freude von der Seele. „Hier kommen die Seegeborenen, ihr Wasser!“ Er lachte vor Glück, als die Gischt spritzte und er furchtlos die Arme ausbreitete.

„Durch die Türme! Zwischen beiden,

folg dem Wasser, folg den Gezeiten.

Was Insel war, das ragt nun steil.

In ihrer Mitte liegt das Heil.

Seegeborne wissen wohl zu gleiten

auf den Wassern wie ein Pfeil.

Den Seegebornen Leben, Heil

und des Wassers blaue Weiten.“

Die Männer jubelten und hoben Gwenaël auf ihre Schultern, während das Schiff stolz aufgerichtet aufs offene Meer hinaus glitt. „Dies sind die Taten der Seegeborenen!“, rief Gwenaël begeistert. „In Hunderten von Generationen wird man noch davon berichten. Niemand wagt es, derartiges zu tun, nur wir allein!“

Khor bemerkte, wie seine Hände zitterten und selbst Broc, ja, sogar Ottel hatten sich krampfhaft an der Reling festgehalten und atmeten endlich erleichtert auf. Nur Sarti war liegen geblieben und murmelte noch immer in einem fort, dass er doch nichts weiter sei, als ein Landgeborener.

„Jawohl!“, freute sich Gwenaël. „Ein Landgeborener bist du. Aber einer der die Weihen der Seegeborenen empfing. Wer diese Felsentore ohne Schaden durchfahren hat, darf sich als von den Wassern geliebt betrachten. Es gibt kaum noch etwas auf dem Meer, das uns etwas anhaben könnte, solange wir uns nur seinem Willen fügen! Nun lasst uns also noch zu Freunden der Winde werden. Dann kann uns nichts mehr geschehen.“

Gwenaël blies in seine Lure, damit Wasser und Wind das Schiff nicht vergaßen. Denn eine solch kleine Nussschale wie das Schiff, auf dem sie fuhren, übersahen die ewigen Mächte nur allzu leicht. Schließlich warf Gwenaël einen reichlich großen Bernstein in das Glutgefäß, das stets an Deck brannte. Schwarzer, fetter Rauch stieg auf und verbreitete jenen schweren Duft, mit dem er die Winde für sich gewinnen wollte.

Selbst Khor stand schließlich wie die meisten lachend am Bug und ließ sich den Fahrtwind wie das aufspritzende Wasser um die Nase wehen. Die Winde waren in der Tat gewogen: Wie ein Pfeil schien das sonst so träge Schiff dahinzufliegen. Weit ins Blau hinein, das kein Ende hat. Je weiter sie sich von der Küste entfernten, desto weniger konnte Khor ihre Geschwindigkeit einschätzen. Aber er fühlte, dass er sich so schnell wie noch nie vorwärts bewegte. Er spürte den Fahrtwind auf der Haut und das schnelle Pochen der Wellen gegen die Wanten. Das Schiff schien mit dem Wasser zu tanzen. Es neigte sich zur einen und dann wieder zur anderen Seite, manchmal schien es vor Lust in die Luft springen zu wollen und manchmal gar glaubte Khor, dass die Wellen es zärtlich zu umarmen versuchten.

Es war ein herrlicher Tag. Ein Tag an dem man das Leben spürt sowie die eigene Freude daran. Ein Tag an dem man keine Ängste mehr kennt und keinerlei Sorgen. Ein Tag, herausgenommen aus dem Lauf der Zeit, an dem es kein Morgen gibt und auch kein Gestern. Es gab nur noch den Augenblick: Den Geruch des Salzwassers, das Klatschen der Wellen, den stürmischen Wind, der die Lippen trocken werden ließ, die wärmende Sonne und das nicht enden wollende Blau. Und natürlich auch die Möwen, die mit dem Schiff immer wieder um die Wette segelten und dabei ihre sehnsüchtigen Schreie ausstießen. Broc musste seinen Raben regelmäßig wegschließen, da er sich ansonsten wie ein Mordbube auf die weiß gefiederten Schreier gestürzt hätte. Etliche Male war er von den Möwen, die ja immer in der Überzahl waren, arg hergerichtet worden, so dass sich Broc um den Unbelehrbaren bangte und ihn schließlich in einen geräumigen Käfig steckte, sobald das Kreischen der weißen Räuber einen weiteren ihrer Besuche ankündigte. Doch offenbar hatte der Rabe nicht das Geringste gegen seine Käfigaufenthalte. Ganze Tage saß er quasselnd in seinem bequemen Gefängnis, wurde gemästet wie eine Gans und war zufrieden, wenn Broc ihm ab und zu ein wenig Gesellschaft leistete. Khor musste jedes Mal an Sarti denken, wenn er den plappernden Raben sah. Denn auch der ansonsten so gesellige Sarti war zu manchen Zeiten gerne für sich. Dann stierte er mit glasigen Augen in die Ferne, zappelte herum wie der Rabe und redete unablässig mit sich selbst, indem er alle möglichen Dinge aufsagte, die er für erinnernswert hielt. Khor hatte Ottel auf die Ähnlichkeit der beiden aufmerksam gemacht und damit bei dem Riesen einen Lachanfall hervorgerufen, der natürlich nicht unbeachtet geblieben war und seinerseits einiges an Nachfragen auslöste. Am Ende lachte das ganze Schiff, nur Sarti wusste nicht so recht, ob er beleidigt sein sollte oder nicht.

„Du bist unser humpelnder, roter Rabe“, lachte Gwenaël am lautesten von allen, „Gevatter Allwissend!“ Und da er Sartis Unentschlossenheit bemerkte, schlang er seine beiden riesigen Arme so fest um den kleinen Kerl, als wolle er ihn zerquetschen. Noch bevor Sarti einen Ton von sich geben konnte ‑ und man sah ihm nur zu deutlich an, dass dies kein freundlicher gewesen wäre ‑ drückte Gwenaël ihm einen herzhaften, laut schmatzenden Kuss auf die Stirn. „Ach, Sarti! Sei stolz auf dich. Dir wurde nichts geschenkt, halb lahm wie du bist. Und doch bist du Gevatter Allwissend geworden.“ Und gleich gab er ihm eine angedeutete Ohrfeige hinterher. „Wir alle haben dich lieb. Wie man eben so ein ständig meckerndes, immer alles besser wissendes, von üblen Blähungen geplagtes Kerlchen wie dich lieb haben kann.“ Nun lachte auch Sarti. Wie gesagt: Es war ein herrlicher Tag.

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