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IV. Ein Dackel

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Jetzt kommst mal her; du bist doch unser Bua, sagte meine Mutter zu mir, als wir aus Tübingen zurückkamen.

Meine Eltern waren zusammen mit mir in die Klinik bestellt worden. Mein Vater hatte gerade Urlaub, und er war in vollem Wichs erschienen: SS-Uniform und schwarze Rohrstiefel, Koppel mit Ehrendolch.

Ich hatte einige Untersuchungen über mich ergehen lassen und verschiedene Spiele machen müssen; ich wurde auf eine Pritsche geschnallt und an einen Haufen Drähte angeschlossen.

Ich verstand nicht recht, was mit mir geschah; ich sah Schwestern und Ärzte immer nur den Kopf schütteln. Manchmal machten sie sehr ernste Gesichter, dann versuchten sie mich wieder mit einem Lachen bei Laune zu halten. Es war mir aber egal, was sie mit mir machten; ich würde schon nicht sterben, und Angst hatte ich nur ein bißchen. Wenn es arg wehtat, dachte ich an unsre Frau Klein aus dem Kinderschüle: die hatte einen Klumpfuß, der tat ihr auch sehr oft weh, sagte sie uns. Besonders, wenn sie schrie: dann hieß das, sie habe große Schmerzen.

Sie hatte keinen Mann mehr. Oder doch. Der war aber fort. Nicht im Krieg. Er sei eingesperrt, sagte sie. Ja, wo denn? Im Gefängnis? Nein, in einem Lager.

In was für einem Lager? In so einem Lager, wie wir welche am Bach bauten? Zwischen den Holderbüschen . . . Nein, nein! Zuerst sei er in Heuberg gewesen, Heuberg auf der Schwäbischen Alb; dann sei er verlegt worden. Wohin verlegt? Ach, es gäbe so viel Lager in Deutschland und außerhalb; das dürfe sie uns nicht sagen. Wir sollten jetzt wieder spielen.

Ich ließ aber nicht locker: was ihr Mann denn getan habe; warum er denn in ein Lager gekommen sei. Mein Vater sei auch einmal in Heuberg gewesen. Aber nicht als Gefangener, unterbrach Frau Klein. Nein, als Bewacher, sagte ich; damals sei ich aber noch nicht auf der Welt gewesen oder erst in dieser Zeit auf die Welt gekommen; es sei aber immer wieder im Haus davon gesprochen worden, weil da noch einige Leute vom Dorf in Heuberg waren, auch Schulkameraden meines Vaters . . .

Sie wolle nicht darüber sprechen, schloß Frau Klein dieses Gespräch.

Komisch, daß ich jetzt an sie denken mußte, und daß das jetzt ein Trost für mich sein soll!

Während des gesamten Aufenthalts im Krankenhaus hatte ich kein einziges Wort gesprochen, auch nicht geweint; ich hatte nur zugehört und gewartet, was nun mit mir geschah. Zweimal saßen wir in dem Wartezimmer und warteten gemeinsam mit anderen Eltern und ihren Kindern. Bis uns die Schwester endlich ins Sprechzimmer hereinrief und wir vor dem Schreibtisch des Arztes Platz nahmen. Der war freundlich, aber nicht verschrocken.

So legte er gleich los: Es sieht nicht gut aus mit Ihrem Jungen, das muß ich Ihnen ehrlich sagen. Aber wir müssen noch die Tests machen und das Ergebnis abwarten.

Um Gottes willen, Herr Doktor, platzte meine Mutter heraus.

Muß er nach Zwiefalten?

Nein, das nicht; er kann in jedem Fall daheim bleiben.

Gibt es da nicht Probleme?

Kaum.

Aber was ist das?

Ihr Sohn, setzte der weiße Kittel an: Ihr Sohn ist nicht krank. Ihr Sohn ist aber auch nicht gesund. Ihr Sohn . . .

ischt a Dackel! rief mein Vater dazwischen, und das sah ihm wieder gleich, einem Doktor ins Wort zu fallen, und vollends in Tübingen!

Ja, auf Schwäbisch heißt das wohl so, sagte der Arzt.

No wissmrs jo, was mr zom dua hääbe, sagte mein Vater und stand auf.

Nein, bitte, behalten Sie Platz; so wollen wir doch nicht miteinander umgehen, in diesem Ton, meine ich, Herr Simpel.

Ich habe zwei Kinder gezeugt.

Ja, freilich.

Alle sind gesund, wie ich auch und meine Frau auch. In meiner ganzen Familie kommt so etwas nicht vor.

Es ist auch etwas anderes.

Was?

Ihr Sohn ist, mal vorsichtig ausgedrückt: nicht entwicklungsfähig; er hat einen gewissen Intelligenzstand erreicht. Doch das Gehirn ist gesperrt, verstehen Sie.

Noe! Auch meine Mutter verstand nicht.

Na ja; einen Geburtsschaden oder eine Vererbung schließen wir aus. Da gabs doch diesen Schlittenunfall?

Ja!

Also . . . Da ist der Karl doch auf den Baum gefahren; er trug eine Gehirnerschütterung davon und war drei Wochen bewußtlos. Stimmts?

Ja; aber von einer Gehirnerschütterung wird man doch kein Dackel, erklärte mein Vater, er war jetzt schon nicht mehr so narret.

Na ja; in der Regel nicht. Aber es gibt Ausnahmen, vor allem, wenn jemand so lange Zeit bewußtlos ist, so wie es ihr Sohn Karl war. Aber ich tröste Sie: es kann sich bessern. Wir haben schon Fälle gehabt, da war die Ausgangslage noch schlimmer. Jetzt wollen wir aber erst einmal zur Untersuchung, schloß der Doktor und gab der Schwester einen Wink, die schon unter der Tür gewartet hatte.

A Dackel ischt a Dackel, bemerkte mein Vater noch im Hinausgehen, aber mehr zu sich als zu anderen.

Na ja, murmelte der Arzt.

Wir hatten uns schon sehr früh auf den Weg machen müssen. Zuerst vom Haus zu Fuß zum Bahnhof. Vom Bahnhof mit dem Zug in die nächste Stadt. Dort umsteigen und fahren bis Tübingen. In Tübingen vom Bahnhof aus zu Fuß in die Klinik.

Da vergeht Zeit.

Wäre ich ernsthaft krank gewesen oder hätte ich einen Unfall gehabt, dann hätten wir Anspruch auf ein Taxi gehabt. Und da gabs im Flecken nur eins, nämlich das Auto vom Kohlen-Rapp. Wie der Name schon sagt, handelt er mit Kohlen: aber bei Bedarf setzt er sein Auto als Taxi ein.

Es gab dann noch einen zweiten Kohlehändler im Flecken. Mit dem sind wir über meinen Vater sogar verwandt, und wir gingen auch manchmal zu ihm hin ich alleine öfters, weil er ein so großes Lager hinten heraus zum Bach hatte.

Aber ein Taxi hatte er nicht, gab sein Auto wenigstens als Taxi nicht her.

Als wir dann zur Schlußbesprechung wieder in das Zimmer des Arztes gerufen wurden, sagte mein Vater »Heil Hitler« und schlug die Absätze seiner schwarzen Stiefel zusammen.

Der Arzt im weißen Kittel sagte, wie schon beim ersten Mal: »Grüß Gott«, und meine Mutter sagte »Grüß Gott« und »Heil Hitler« in einem, und ich sagte »Godda Morga«, denn es war ja noch nicht Mittag.

Wieder sollten wir alle drei vor seinem Schreibtisch Platz nehmen. Meine Mutter nahm mich gleich auf den Schoß, mein Vater nahm die Kappe ab, vielleicht schwitzte er vor Angst, sonst nahm er ja die Kappe nie ab, außer natürlich zu Hause. Und der weiße Kittel ließ sich in seinem Ledersessel hinter dem Prunkschreibtisch fallen.

Ich war inzwischen vom Schoß meiner Mutter runtergerutscht, lief und kroch im Zimmer umher, während die Erwachsenen schwätzten. Ich packte nichts an; ich besah mir nur alles.

Plötzlich war ich unter dem Schreibtisch und roch die Füße des Doktors.

Der hatte ja auch schwarze Stiefel an: schwarze Stiefel unter seinem weißen Kittel! Und die Hose: feiner Stoff mit Bügelfalte. Trug der Mann vielleicht eine Uniform wie mein Vater, nur daß er den weißen Kittel drüber hatte? Ich weiß nicht, ob der Doktor mich bemerkte. Aber meine Mutter wurde nervös. Da ich aber weiterhin nichts anstellte und immer mal wieder unter dem Schreibtisch hervorkam, konnte sie nichts machen. Plötzlich fing meine Mutter zu heulen an, und mein Vater sagte nichts mehr.

Ich hatte nicht mehr zugehört und wußte auch gar nicht, was gesprochen worden war, besonders, was der weiße Kittel wieder Schlimmes gesagt hatte.

Eine Uniform also und schwarze Stiefel: gut, daß ich meine Kreide dabei hatte! Aber ich hatte immer eine Kreide im Hosensack: mal eine weiße, mal eine gelbe, mal eine rote – meistens eine weiße, weils die öfters gab!

Ein Griff in den Hosensack, und ich hatte meine weiße Kreide in der Hand und malte damit ein kleines weißes Hakenkreuz auf die schwarzen Stiefel. Wars der linke? Oder der rechte? Egal!

Ich malte ganz vorsichtig, so daß der weiße Kittel nichts merken konnte: wie ein Hauch legten sich die Striche auf das gewichste Leder.

Hakenkreuze malte ich nicht oft, nur wenn es mir einfiel. Mit meinen Kreiden malte ich vorwiegend Himmel und Erde auf Pflaster und Wände – oder ich malte Zielscheiben auf Haustüren.

Jetzt war mir eben wieder das Hakenkreuz eingefallen angesichts der schwarzen Stiefel des Herrn Doktors.

Ich war mit dem einen Stiefel fertig, jetzt wollte ich auch den andern anmalen. Aber der Doktor blieb ruhig, behielt sein Bein über das andere geschlagen, der stemmte sich gegen die Schreibtischwand, so daß ich nicht herankam. Aber jetzt kam der zweite Stiefel auf den Boden.

Aber da war es zu spät: meine Mutter rief mich, die Besprechung war beendet, und wir konnten gehen. Der Doktor war auch aufgestanden und hinter seinem Schreibtisch hervorgekommen. Blitzschnell ließ ich meine Kreide wieder im Hosensack verschwinden und drängte mich hilfesuchend an meine Mutter. Der Doktor machte einen Schritt auf mich zu, lächelte und strich mir übers Haar.

Zwischen ihm und meinen Leuten nun wieder die gleiche Zeremonie: Hitler und Adee! Jetzt sagte der weiße Kittel doch »Heil Hitler«, und mein Vater setzte seine Kappe wieder auf, und ich habe gesehen, wie er auf den Stiefel des Doktors blickte und sicher das Hakenkreuz entdeckte. Ich glaubte, daß er für einen Augenblick blaß wurde und mir einen bösen Blick zuwarf – wirklich? Aber es blieb keine Zeit mehr zum Fragen: wir mußten heim.

Und auch daheim war von dem Hakenkreuz nicht mehr die Rede. Dafür von mir, und durch mich wieder von anderem, gleichem oder ähnlichem.

Jetzt kommst mal her! Du bist doch unser Bua, sagte meine Mutter in ruhigem Ton zu mir, als wir aus Tübingen zurück waren.

Mein Vater wollte grad wieder aus der Stube raus.

Und du bleibst da, das geht dich auch an.

Was soll ich dazu noch sagen?

Es ist auch dein Kind.

Mein Vater ließ sich nicht aufhalten: er verzog sich in die Küche, kam aber doch mit einem Krug Most wieder. Hockte sich an den Tisch und setzte den Krug an den Mund. Er trank, wenn er nur sich zu bedienen hatte, meistens aus dem Krug.

Du sollst nichts sagen, sondern nur zuhören, nicht immer davonlaufen, so wie es deine Art ist, erklärte meine Mutter. Mein Vater setzte den Krug wieder ab. Er hatte den Kittel ausgezogen und stürmte sich nun die Ärmel seines Hemds. Auch das war seine Art.

Aber es war draußen auch warm geworden; Mai oder Juni wars und die Bäume – vor allem die Kirschen – verblüht. Doch mein Vater schwitzte sowieso gleich.

Meine Mutter holte sich auch ein Gläsle aus dem Büfett und goß sich Most ein, aber nur halb voll, dann schüttete sie Sprudel dazu.

Ich hockte schon wieder auf dem Boden und malte mit meiner Kreide auf dem Linolium – Kreise; einfache Kreuze, aber keine Hakenkreuze. Ich wischte alles gleich mit der Hand oder mit dem Taschentuch wieder weg.

Was macht ihr denn normalerweise mit so Kindern? fragte meine Mutter, nachdem sie ebenfalls einen Schluck von ihrem Most-Sprudel(süß)-Gemisch getrunken hatte, und warf einen kurzen Blick auf das Führerbild über der Kommode.

Ach, hör auf! Ich darf so etwas nicht hören, sagte mein Vater, sprang auf und stampfte mit den Stiefeln in der Stube umher.

Das kommt alles von deinem Vater.

Was kommt von meinem Vater, wollte meine Mutter wissen.

Deine feindliche Einstellung. Ich weiß nicht, mit wem du sonst noch schwätzt im Flecken. Doch ich weiß es schon. Ich habe dir schon lange gesagt, du sollst in den Frauenbund eintreten.

Ich? Fällt mir nicht ein! Da sind die Behrs drin und noch so ein paar, die ich sowieso nicht leiden kann.

Es geht in dieser Zeit des nationalen Umsturzes überhaupt nicht darum, ob man jemand leiden kann: wir haben alle nur eine Aufgabe, dem Führer zum Sieg zu verhelfen. Deswegen stehe ich auch an der Front, schloß mein Vater seine Rede.

Meine Mutter schien darauf gewartet zu haben und entgegnete:

Ja, mit deinem Seckel stehst du an der Front: in Frankreich – und immer hinten herum!

Meine Mutter war in Fahrt, und wenn sie einmal in Fahrt war, dann gab es für sie kaum einen Halt. Das wußte der Alte, und wenn er sich nicht mehr anders zu helfen wußte, schmiß er ihr einen Gegenstand aus dem Haushalt an den Kopf – oder einfach an die Wand oder an die Tür, der Narrete!

Jetzt war es gleich wieder soweit. Aber mein Vater hatte vorher noch etwas zu sagen, nämlich:

Da werden auch Leute gebraucht. Überall werden Leute gebraucht. Und alle Leute. Auch du.

Ich denke nicht daran, das habe ich dir schon hundertmal gesagt. Dein Frauenbund samt deinem Hitler können mir gestohlen bleiben, das sage ich aus mir selber heraus, und nicht von meinem Vater oder von anderen Leuten her. Du kannst ja kämpfen, du bist doch ein »Alter Kämpfer« und kämpfst auch und kämpfst – hoffentlich gewinnst du auch mal etwas für dich!

Weib! schrie mein Vater, nochmal wie zur Warnung: ich habe gesagt, ich darf das nicht hören als SA- und als SS-ler; ich habe einen Schwur getan.

Pah! machte meine Mutter.

Ja, ja: pah! Hör auf, sage ich, sonst bringe ich dich doch noch dahin, wo die andern sind, drohte jetzt mein Vater.

Aha! schrie meine Mutter: Jetzt ist es wieder raus.

Du hast mich dazu gezwungen.

Ich dich gezwungen? Wir wollten mitnander über den Buben schwätzen; er kann nicht in die Schule; er wird zurückgestellt, weiß ich, wie lange – vielleicht geht er überhaupt nicht in die Schule. Wir müssen ihn beschäftigen.

Er soll sich selbst beschäftigen, erklärte mein Vater.

Das sagst du so; du bist ja die meiste Zeit nicht da. Der Amtsarzt sagt: dem Karl fehlt manchmal die Verantwortung – fast so wie euch!

Die letzten Worte hatte mein Vater sicher nicht mehr gehört – wozu sollte er auch? Er kannte sie auswendig.

Denn noch während meine Mutter sprach, hörte ich ihn schon die Stiege hinabsetzen.

Ich rannte zum Fenster, da sah ich ihn: mit festem Schritt und Tritt ging er die Gasse hinab. Bestimmt zitterten jetzt links und rechts in den Häusern die Gläser und Tassen auf den Tischen. Einen solchen Tritt habe nur einer, nämlich der Simpel-Helm! Genauer gesagt, sei es der Hahn-Tritt seiner mütterlichen Vorfahren: die hätten schon so die Füße auf den Boden gesetzt, daß die Welt erzitterte und man sie schon von weitem hörte.

Bestimmt ging er jetzt in den »Adler«, in den »Löwen«, in die »Traube« – seltener in den »Grünen Baum« – oder in das »Waldhorn«, das am nächsten war. Natürlich konnte er auch in die »Linde« gehen, das Stammlokal seiner Partei. Da kam auch noch der »Stern«, der »Anker«, die »Kelter«, das »Rössle« und das »Faß« in Frage. In allen diesen Wirtschaften hatte ich ihn schon im Auftrag meiner Mutter zu suchen, und zum Teil lagen sie weit auseinander, und es kam dann eine ganz schöne Strecke Weges zusammen.

Und bestimmt haute er jetzt dort auf den Tisch und brüllte, daß er sich das nicht mehr gefallen lasse oder so ähnlich. Vorher brauchte er aber noch einige Bier; von Most wollte er in der Wirtschaft nichts wissen.

Im Moment wußte ich wirklich nicht, was weiter mit mir anfangen, und es wäre mir schon recht gewesen, wenn mich jemand beschäftigt hätte. Aber meiner Mutter fiel nichts anderes ein wie zu sagen: Geh jetzt rauf. Wir vespern gleich. Ich muß vorher aber noch in den Stall. Ich schrei dir dann.

Ja, sagte ich, machte auf dem Absatz kehrt und verzog mich in meinen Verschlag auf der Bühne.

Näher zum Himmel oder Fall Karl Simpel

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