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4. Religionsphilosophie als Lehre vom religiösen Verhalten

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In der zweiten Grundauffassung von Religionsphilosophie wird diese als Lehre vom religiösen Verhalten des Menschen verstanden. Charakteristisch dafür ist etwa, daß die religionsphilosophisch betrachtete Religion von Walter Brugger in seinem „Philosophischen Wörterbuch“6 unter die „Kulturerscheinungen“ gerechnet wird. Auf protestantischer Seite findet sich eine ähnliche Begriffsbestimmung. Emil Brunner sagt im Zusammenhang seiner abwehrenden Besprechung der „eigentlichen“ Religionsphilosophie: „Religion ist, was immer sie sonst sein mag, menschliche Lebensform.“7 Ähnlich heißt es in der 2 Auflage des Handbuches „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“: „Religion ist Deutung eines Erlebnisses, ein menschlicher Versuch, eine menschliche Gebärde; sie gehört zu den Kulturgütern, ist einer der wichtigsten Bestandteile dessen, was sich der Mensch auf der Erde gebaut hat.“8 Auch in der 3. Auflage dieses Handbuches bleibt diese Tendenz grundsätzlich bestehen: „Wir definieren deshalb Religion als erlebnishafte Begegnung mit heiliger Wirklichkeit und als antwortendes Handeln des vom Heiligen existentiell bestimmten Menschen.“9

Dieser Auffassung von Religion entspricht der ursprüngliche Sinn des Wortes „religio“, wobei die etymologische Deutung freilich auch heute noch, nicht anders als in Antike und Mittelalter, umstritten ist. Thomas von Aquino führt drei mögliche Bedeutungen an, ohne sich für eine von ihnen zu entscheiden, da alle drei ausreichen, um die für ihn entscheidende Frage, ob „die Religion im eigentlichen Sinne eine Hinordnung auf Gott mit sich bringt“, zu beantworten.10

Zum ersten läßt sich „religio“ von „relegere“, „durchgehen“ herleiten. Der „religiosus“ ist demgemäß, wie Thomas im Anschluß an Cicero11 ausführt, der, „welcher immer wieder vornimmt und gleichsam immer wieder durchgeht, was zu der Verehrung des Göttlichen gehört“. Das Wesen der Religion liegt nach dieser Deutung in der „beharrlichen Beobachtung“ der kultischen Pflichten. Es geht dabei also nicht um eine individuelle Gottesverehrung oder gar um einen persönlichen Glauben an einen Gott, sondern, ganz im Geiste der römischen Religion, um die achtsame Verehrung der Götter im Kultus. Diese Deutung des Wortes „religio“ gilt übrigens heute, etymologisch betrachtet, für die wahrscheinlichste.12

Dieser erste Begriff von „religio“ wird unter dem Einfluß des Christentums unzureichend. Denn hier tritt neben die kultische Beziehung zu Gott das individuelle Verhältnis zu ihm; ja, dieses wird wesentlicher als jene. Das drückt sich auch in einer neuen Etymologie des Wortes „religio“ aus. Sie wird insbesondere von Augustinus herausgearbeitet;13 von dem sie Thomas von Aquino übernimmt. Danach kommt der Ausdruck „religio“ von „reeligere“, und sein Sinn liegt darin, daß wir Gott, den wir „vernachlässigt und verloren“ haben, „wieder wählen“ müssen, also, wie Thomas es ausdrückt, in der „wiederholten Wahl“. Daß es sich nicht um eine einfache Wahl, sondern um eine Wiederwahl, eine erneute Entscheidung handelt, ist für das augustinische Verständnis der Situation des Menschen charakteristisch. Dieser hat seine ursprüngliche Gottesbeziehung im Sündenfall „verloren“, und er „vernachlässigt“ seitdem Gott. Eben darum muß er ihn „wiederwählen“. Die Religion ist also Wiederherstellung des ursprünglichen Gottesverhältnisses.

Schließlich erwähnt Thomas noch eine dritte – die heute geläufigste – Deutung. Danach kommt „religio“ von „religare“, „rückbinden“, nämlich an Gott. Er beruft sich dabei auf Augustinus;14 doch findet sich diese Bedeutung von „religio“ bereits bei Lactantius, Ambrosius und Hieronymus. Auch hier steht die gleiche Auffassung von der Situation des Menschen im Hintergrund, wie bei der Ableitung von „religio“ aus „reeligere“. Charakteristisch dafür ist die Behauptung des Augustinus, daß in der wahren Religion der Mensch sich von Gott, von dem er sich durch die Sünde gleichsam losgerissen hat, durch Wiederversöhnung zurückbindet.15

Welche dieser drei Bedeutungen auch immer etymologisch zutreffen mag – die beharrliche Sorgfalt im kultischen Dienst, die wiederholte (oder besser wiederholende) Wahl des Verlorenen, die Rückbindung –, eines ist ihnen gemeinsam: daß der Begriff der Religion vom Tun des Menschen her gedacht ist. Damit stimmt überein, was sich in den oben erwähnten Definitionen der Religion aus dem katholischen und protestantischen Bereich gezeigt hat.

Eine Religionsphilosophie, die von diesem Begriff der Religion als eines menschlichen Tuns ausgeht, ist jedoch in sich selber problematisch. Sie wird sich zwar nicht darauf beschränken, vom Menschlichen als dem bloß Menschlichen zu sprechen; sie wird vielmehr zum Ausdruck bringen wollen, daß das religiöse Verhalten Gott intendiert; Thomas spricht ja ausdrücklich davon, daß die Religion eine Hinordnung des Menschen auf Gott mit sich bringt, und jene oben angeführten Definitionen der Religionsphilosophie lassen nicht außer acht, daß in der Religion der Mensch nach etwas übermenschlichem strebt. Und doch bleibt bestehen, daß sich die Religionsphilosophie ihrem Begriffe nach primär auf das religiöse Tun des Menschen richtet. Demgemäß werden in dieser Sichtweise die religiösen „Gegenstände“ ausdrücklich als die in einem Tun des Menschen intendierten gesehen: als die geglaubten, verehrten, angebeteten. Die Frage ist jedoch, ob dieser Aspekt jenen Gegenständen angemessen ist. Ist es die genuine Weise des Redens von Gott, daß erst sekundär von diesem, primär dagegen vom religiösen Verhalten gesprochen wird?

Gibt es aber überhaupt eine andere Möglichkeit, von Gott zu reden? Steht es nicht ganz allgemein so, daß wir nicht anders von etwas reden können, als indem wir davon sprechen, daß und wie wir es erfahren? Das ist unbestreitbar, und es wird in der Darstellung der Geschichte der Philosophischen Theologie eine wichtige Aufgabe sein, eben dieses Moment herauszuarbeiten. Es liegt jedoch ein entscheidender Unterschied darin, ob die Frage bei der Untersuchung der Erfahrung als solcher stehenbleibt, oder ob sie diese nur als Ausgangspunkt für die Frage nach der Sache selber betrachtet. Was nun die Religionsphilosophie in dem angedeuteten Sinne angeht, so ist ihre primäre Sache die Religion als menschliches Verhalten, als im Umkreis des menschlichen Geistes vorkommendes Phänomen, als kulturelle Erscheinung. Mag dabei auch in den Blick kommen, daß das religiöse Tun den Charakter der Intentionalität trägt, und mögen auch auf diesem Wege sekundär die „Gegenstände“ der Religion ins Blickfeld treten, – das eigentliche Thema der Religionsphilosophie in diesem Sinne bleibt doch immer das religiöse Verhalten als subjektiver Vorgang.

Das zeigt sich aufs deutlichste in der seltsamen Tatsache, daß die religiösen Phänomene philosophisch untersucht werden können, unabhängig davon, ob den in ihnen intendierten Gegenständen Wirklichkeit zukommt oder nicht. Das wird auch in dem oben angeführten Artikel „Religion“ aus der 2. Auflage des Lexikons „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ ausgesprochen, freilich als eine Betrachtungsweise, auf deren Problematik ausdrücklich hingewiesen wird: „Rein als tatsächliche Erscheinung genommen, ist … die Religion ein der Beobachtung und darum auch der wissenschaftlichen Feststellung unterbreiteter Gegenstand, dessen Eigenschaften und Eigentümlichkeiten aufgezeigt und beschrieben werden können, abgesehen davon, ob Gott und das Jenseits … als objektiv erkennbar angesehen werden oder nicht.“ 16

An diesem Punkte nun wird die grundsätzliche Begrenztheit der religionsphilosophischen Fragestellung in jener zweiten Auffassung offenkundig. Ihre vorwiegende Richtung auf das subjektive Verhalten kann zwar interessante Ausblicke auf die Art verschaffen, wie Menschen sich auf Gott richten; aber sie verstellt, wenn man bei ihr verharrt, die Möglichkeit, nach Wahrheit und Wirklichkeit des in solchem Verhalten Intendierten auch nur zu fragen. Wie es für eine Farbenlehre nicht ausreicht, über das Sehen von Farben zu handeln, so bleibt die Religionsphilosophie unzulänglich, solange sie auf der Ebene der Untersuchung des religiösen Verhaltens verweilt. Geht sie aber darüber hinaus, so wird sie mehr als Religionsphilosophie in der Bedeutung, die die angeführten Zeugnisse bekunden. Rückt sie gar ihr sekundäres Thema ins Zentrum, so wandelt sie sich zur Philosophischen Theologie.

1 In einer dritten Grundbedeutung kommt die Religionsphilosophie in unmittelbare Nähe zur Philosophischen Theologie. Die Entwürfe solcher Religionsphilosophie können daher im folgenden als Zeugnisse für eine genuine Philosophische Theologie benutzt werden. Hierher gehören vor allem Schleiermachers „Reden über die Religion“ (vgl. §§ 38 und 39) sowie Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Religion (vgl. §§ 50–68). – In gewisser Weise kann man auch die Religionskritik, wie sie etwa von Feuerbach getrieben wird (vgl. §§ 71–75), als eine – vierte – Form von Religionsphilosophie bezeichnen. Sie wird aber an dieser Stelle übergangen, da sie im zweiten Teil ausführlich besprochen werden wird.

2 Es hätte nahegelegen, in diesem Zusammenhang Paul Tillich heranzuziehen, der Philosophische Theologie, Religionsphilosophie und Offenbarungstheologie in eine eigenartige Verbindung bringt. (Vgl. dazu: Wilhelm Weischedel, Paul Tillichs philosophische Theologie, Ein ehrerbietiger Widerspruch. In: Der Spannungs bogen, Festgabe für Paul Tillich zum 75. Geburtstag, hrsg. von K. Hennig, Stuttgart 1961; ferner: Wilhelm Weischedel, Denker an der Grenze, Paul Tillich zum Gedächtnis, Berlin 1966). Aber an dieser Stelle kann es bei der bloßen Erwähnung bleiben, da im zweiten Band eine ausführliche Auseinandersetzung mit Tillichs Konzeption einer Philosophischen Theologie folgen wird.

3 Emil Brunner, Religionsphilosophie protestantischer Theologie. In: Handbuch der Philosophie, hrsg. von A Baeumler und M. Schröter, Abt. II, München/Berlin 1927.

4 Heinrich Fries, Die katholische Religionsphilosophie der Gegenwart, Heidelberg 1949.

5 Vgl. § 6.

6 Philosophisches Wörterbuch, hrsg. von W. Brugger, Freiburg/Basel/Wien 111964, S. 266.

7 Emil Brunner, a. a. 0., S. 6.

8 Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Band IV, Tübingen 21930, Sp. 1862.

9 Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Band V, Tübingen 31961, Sp. 961.

10 Thomas von Aquino, Summa theologiae, II/II 81, 1 c.

11 Cicero, De natura deorum II 28,72.

12 Vgl. Philosophisches Wörterbuch, hrsg. von W. Brugger, a. a. 0. S. 263ff.

13 Augustinus, De civitate Dei X 3.

14 Augustinus, De vera religione 55, 111, 307. In den Retractationes I 12, 13 sagt Augustinus unter Hinweis auf die oben zitierte Stelle, diese Ableitung habe ihm am besten gefallen.

15 Augustinus, De quantitate animae 36, 80.

16 Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Band IV, Tübingen 21930, Sp. 1878.

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