Читать книгу Laidlaw - William McIlvanney - Страница 10

8

Оглавление

AM JOCELYN SQUARE BEFINDET SICH das oberste Strafgericht von Glasgow. Es ist in einem imposanten Gebäude untergebracht, der Haupteingang wird von Säulen gerahmt und man tritt über eine breite Treppe ein, über den Türen steht »South Court« und »North Court«. Entfernt erinnert der Stil an die griechische Antike und soll auf eine lange und hervorragende Genealogie der Rechtsprechung verweisen. Rechts fließt der Clyde, der der Stadt einst zu Wohlstand verhalf, zahm unter Brücken hindurch.

Fast drohend blickte man vom Gericht aus auf Glasgow Green gegenüber. Der Blumenkasten der Stadt, der an deren einst wilde Vergangenheit erinnerte, war jetzt eingezäunt. Von dieser grünen Wurzel aus breiteten sich die Steinbauten meilenweit aus, im Norden nach Drumchapel, Maryhill, Springburn, Balornock und Easterhouse, im Süden über den Fluss hinweg bis nach Pollok, Castlemilk, Rutherglen und Camuslang, und auch diese Stadtteile sind Teil der Konfrontation zwischen Natur und Gesetz, Park und Gericht.

An das Gericht grenzte ein kleines, einstöckiges Gebäude, unaufdringlich in einer Ecke, wie ein zufälliger Beobachter. Die niederen Mauerabschnitte waren aus altem verwitterten Stein, die oberen aus rotem Backstein. Als würde ein Arbeiter Gamaschen tragen. Über dem Eingang stand »Leichenschauhaus«, so diskret wie ein Augenzwinkern.

Es ist das staatliche Leichenschauhaus, der Lieferanteneingang des Gerichts. Hier trifft das Rohmaterial der Rechtsprechung ein. Leichen, der Niederschlag absonderlicher Erfahrungen, Legierungen aus Angst und Hass, Wut und Liebe, Verderbtheit und Bestürzung, werden hier in Verständlichkeit überführt. Durch die doppelte Glastür kommen jene, die Verluste abzuholen haben. Sie nehmen die Eingeweide eines Todes mit, seine Intimität, die irrelevante Einzigartigkeit der Person, all die Einzelteile, für die niemand mehr Verwendung hat. Das Gericht behält nur, worauf es ankommt und wodurch jemand zum Ereignis wurde.

Hier hereinzukommen bedeutet, daran erinnert zu werden, dass Grundbesitz das oberste Gesetz ist und die Menschen dessen Liegenschaften. Laidlaw hatte dies schon immer angewidert. Sie standen in der Eingangshalle mit dem gewienerten Boden. Ein Mann war hier, um seine tote Tochter zu sehen, und sie mussten auf eine Klingel drücken, eine Audienz verlangen. Laidlaws Finger lag bewegungslos auf dem Messingknopf, als Aufforderung, eine fruchtlose Entscheidung zu treffen: sich der Trauer stellvertretend zu ergeben oder einem Stein ähnlich zu machen. Der hemdsärmelige Mann mit Weste, der jetzt kam, erkannte ihn, schloss die nächste Glastür auf, führte Bud Lawson in sein Unglück und Laidlaw in sein eigenes kleines Dilemma.

Laidlaw ließ Bud Lawson mit McKendrick im Wartezimmer zurück und ging sich vergewissern. In dem lang gestreckten Raum arbeitete ein Gerichtsmediziner vor den Türen, den Kühlschränken, in denen bis zu drei Leichen aufbewahrt werden konnten. Er nickte freundlich, als Laidlaw auf ihn zukam.

Der nackte Körper des Mädchens lag auf einem Metalltisch mit erhöhten Kanten. Der Mann wusch die Leiche. Wasser lief in die Rinnen am Rand. Laidlaw stand neben ihm, betrachtete erneut das Muttermal, als wäre es Make-up, das mit dem Waschen verschwinden würde. Er dachte an Mrs Lawson. Der Mann war sehr geschickt, hatte offensichtlich Erfahrung im Umgang mit Leichen. Laidlaw fiel wieder ein, dass er Alec hieß und gerne zum Bowling ging.

»War ein hübsches Mädchen«, sagte Alec.

»Ich habe den Mann mitgebracht, von dem ich glaube, dass er ihr Vater ist.«

Alec wartete noch einen Moment.

»Fast fertig«, sagte er. »Geben Sie mir noch zwei Minuten, bis ich sie angezogen habe. Die hat ganz schön was durchgemacht, oder? Schon irgendwelche Vermutungen, wer’s getan hat?«

»Jemand, der Samstag Nacht in Glasgow war.«

»Ich hab Verwandte in Edinburgh besucht«, sagte Alec. »Streichen Sie mich von Ihrer Liste.«

Keiner von beiden hatte gegrinst. Das Gesagte blieb völlig losgelöst von ihren Gesichtern, ein ritueller Austausch von Worten, ohne dass eine Unterhaltung stattfand.

»Sagen Sie, wenn Sie so weit sind«, sagte Laidlaw.

Im Wartezimmer folgte Bud Lawson noch immer der unerbittlichen Parade seiner eigenen Gedanken wie einem Oraniermarsch, den niemand zu durchqueren wagt. Im Wagen hatte er sich noch einmal kurz über Laidlaws Reaktion am Morgen empört, darüber, dass er darauf beharrt hatte, es sei zu früh, voreilige Schlüsse zu ziehen. Inzwischen aber war selbst Laidlaw gegenüber dem, was sich in Bud Lawson zusammenbraute, irrelevant geworden. Er war alleine unterwegs.

Als Alec hereinkam, führte Laidlaw Bud Lawson zu der Leiche. Sie lag auf einem weißen, fahrbaren Metalltisch, geschlechtslos dank einer Abdeckung aus etwas, das an Käsetuch erinnerte und Laidlaw vertraut war. Von der Person, die sie mal gewesen war, war nichts mehr zu erkennen. Ein vor Gericht verwertbares Bündel.

Laidlaw platzierte Bud Lawson am Kopfende. Alec befand sich auf der anderen Seite des Tisches. Selbst der Kopf war fest eingepackt, ein Standardverfahren, da er häufig bei der Autopsie geöffnet werden musste. Der einzige noch bewegliche Teil der mumienhaften Umwickelung war ein dreieckiges Tuch über dem Gesicht. Alec hob es an, ein Fenster zum Tod.

Das Gesicht war vollkommen gefasst, der Mund wurde sanft durch ein Band unterhalb des Kinns geschlossen gehalten. Ihre Jugend blendete. Weiß gerahmt wirkte sie wie unfreiwillig zur Nonne geweiht.

Bud Lawson stöhnte und knickte ein. Laidlaw packte ihn und wurde sofort abgeschüttelt. Lawson richtete sich auf. Er starrte seine Tochter an. In seinen Augen geschah nichts. Für Laidlaw, der zusah und schon so viele Reaktionen auf dieselbe Tatsache an diesem kalten Ort miterlebt hatte, war dies die merkwürdigste, weil es gar keine war. Als hätte man ihm die Leiche einer anderen gezeigt. Bud Lawson starrte seine tote Tochter an, blickte gefasst zu Alec auf und nickte knapp. Das war’s.

Laidlaw war froh, als die Formalitäten geregelt waren und sie wieder draußen auf der Straße standen.

»Wir brauchen ein Foto«, sagte Laidlaw.

»Was?«

»Von Jennifer.«

»Fragen Sie meine Frau.«

Bud Lawson beobachtete den vorüberfließenden Verkehr.

»Würden Sie uns aufs Revier begleiten?«

»Wozu?«

»Möglicherweise haben wir Fragen.«

»Ich bin nicht in der Stimmung. Wenn’s was zu fragen gibt, kommen Sie zu uns.«

»Dann würden wir Sie gerne nach Hause begleiten.«

»Ich will nicht von Ihnen gebracht werden.«

Bud Lawson ging davon. Laidlaw und McKendrick blieb nichts übrig, als der Central Division Bericht zu erstatten. Nachdem sich Laidlaw vergewissert hatte, dass er sonst nicht mehr gebraucht wurde, übergab er Milligan die Notizen, die er sich am Morgen gemacht hatte, und verabredete sich mit ihm für den folgenden Tag um neun Uhr früh bei der Autopsie. Anschließend rief er den Commander an und teilte ihm dies mit. Er war einverstanden. »War ein langes Wochenende für Sie. Aber ich lasse den neuen D.C. antreten – Harkness. Er soll schon mal anfangen, er wird mit Ihnen an dem Fall arbeiten.«

Auf der Heimfahrt verstaute Laidlaw die Ereignisse des Tages im Fundbüro seiner Gedanken. Er brauchte Ruhe, musste ausschlafen. Nur ein Bild ließ sich nicht beiseiteschieben, stand ihm beharrlich vor Augen. Bud Lawsons reaktionsloser Ausdruck, als er davonging, seinen eigenen zwanghaften Gedanken folgte wie den Klängen einer unhörbaren Flöte. Laidlaw fragte sich, wohin sie ihn führten.

Laidlaw

Подняться наверх