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ОглавлениеBUD LAWSON STAND AM FENSTER und blickte hinaus auf die Duke Street. Wie oft war Jennifer aus »Fraolis Café« hierher ans Fenster gekommen? Sie hatte Buds Schwester Maggie Grierson und ihren Mann Wullie immer gerne besucht. Dabei war sie mit der Zeit herangewachsen, die Blondheit ihrer Haare war verschwunden und sie waren dunkler geworden, sie hatte ihre »Streberbrille« abgelegt, wie Wullie meinte, und ihre Meinung über ihre Lieblingsband geändert (»Öfter als ich meinen Pulli wechsle«, hatte Wullie behauptet), hatte Brüste bekommen und Heimlichkeiten entdeckt. Sie hatte immer gesagt, sie würde gerne hier wohnen. »Das ist das wahre Glasgow«, hatte Maggie behauptet. Dass sie jetzt nicht mehr da war, war unfassbar.
Im Zimmer dahinter saß Maggie Grierson und betrachtete ihren Bruder durch Tränen. Sie wusste genau, was er sah. Seit fast vierzig Jahren war die triste, breite Duke Street ihr Zuhause und sie wollte nirgendwo sonst hin. In ihren Augen hatte sich hier das alte Glasgow erhalten, eine bestimmte Auffassung von Straße und die Erkenntnis, dass Straßen dazu da waren, bewohnt und nicht nur durchfahren zu werden. Sie wusste viel über die Menschen in den dreistöckigen Wohnhäusern hier. Sie wusste, wer im Wettbüro saß, wer in der »Ballochmyle Bar« trank, wer bei »Mulholland’s Dairy« anschreiben ließ. Die Straße war ihr so vertraut wie ihre eigenen Möbel.
Aber jetzt waren das nur noch Erinnerungen. Ihr kam es vor, als sollte sie für immer davon ausgesperrt bleiben. Von jetzt an war immer Sonntag.
Sie sah Bud Richtung Gateside Street blicken. Hinter den Wohnhäusern dort war der Spielplatz, auf dem Jennifer oft geschaukelt hatte. Einmal war sie an einem Sommerabend von dort gekommen und hatte an die Tür der Bristol Bar geklopft, wo Wullie ein Bier trank. »Zeit, nach Hause zu gehen, Onkel Wullie«, hatte sie gesagt. Damals war sie neun gewesen. Die Männer hatten Wullie noch wochenlang damit aufgezogen.
Dieses Haus war von ihr erfüllt gewesen. Unter der Woche drehte sich alles um ihre Besuche und sie kam immer wieder. Das Erwachsenwerden hatte sie kein bisschen von ihnen entfernt. In der Erinnerung an sie und den Hoffnungen, die sie in das gesetzt hatten, was einmal aus ihr werden sollte, fand Maggie keinen Ausdruck für das Ausmaß ihrer Gefühle. Draußen waren nur die verriegelten Fensterläden des Obstladens, wo sie Schlange gestanden hatte, und der Bäcker gegenüber, wo sie morgens gerne noch warme Brötchen holte, wenn sie hier übernachtet hatte. Da war nur der Weg hoch zur Cumbernauld Road und zur Alexandra Parade und in den Park, in dem sie oft spazieren ging. Maggie hatte nur wenige Dinge von ihr behalten, zum Beispiel das Riechsalz, das sie mit sieben Jahren als Geschenk für Maggie gekauft hatte, weil sie es für Parfüm gehalten hatte.
Darüber hinaus war da nur Maggies Glaube an Jennifer. Die Unmöglichkeit, jemandem außer Wullie und sich selbst begreiflich zu machen, wie groß ihr Verlust war, wurde für sie zur Quelle entsetzlicher Verbitterung. Wieder weinte sie. Nicht einmal Jennifers eigener Vater hatte sie zu schätzen gewusst. Wenn sie ihren jüngeren Bruder betrachtete, fehlte Maggie jegliches Verständnis. Bud war ein engherziger Mann. Selbst wenn er einen wiederbelebte, würde er die Atemzüge abzählen, die man ihm schuldete. Er hatte Wullie nie akzeptiert, nur weil er katholisch getauft war, dabei war er, seit er die Schule verlassen hatte, in keiner Kirche mehr gewesen. Als Bud heute Morgen auf der Suche nach Jennifer vorbeigekommen war, hatte er sich benommen wie die Gestapo. Seitdem er von dem katholischen Jungen namens Tommy erfahren hatte, durfte Jennifer nicht mehr über Nacht bleiben, weil er dachte, sie würden sie decken. Und das hätten sie auch getan. Als er ihnen die Nachricht heute Nachmittag überbrachte, war er aufgetreten, als habe sich Jennifer absichtlich ermorden lassen, nur um ihm eins auszuwischen. Und auch jetzt wirkte er eher wütend als traurig.
Wullie kam herein. Bud wandte sich vom Fenster ab. Maggie begriff, dass Wullie sie nicht ansah, weil er seinen Schmerz nicht vergrößern wollte, indem er ihren mit ihr teilte. Sie dachte, was für ein anständiger Mann er sein ganzes Leben gewesen war und wie wenig ihm jetzt blieb. Erneut bedauerte sie, dass sie ihm nie Kinder geschenkt hatte.
»Hast du Alec gesehen?«, fragte sie.
»Ja. Ist ein netter Mann, Alec. Ich meine, der kennt dich doch gar nicht, Bud. Aber er meint, er fährt dich heim und sammelt unterwegs noch ein paar Leute ein. Ich hab gesagt, wir nehmen den Bus. Er wartet auf dich.«
Bud ging ohne ein Wort. Maggie und Wullie brauchten über eine halbe Stunde, bis sie so weit waren. Sie verharrten hilflos in einem unwiderruflich leeren Raum.
»Na dann«, sagte sie. »Wir gehen besser zum Bus.«
Sie gingen zum George Square. Während Wullie beim Fahrer bezahlte, sah sie, dass nur hinten noch Plätze frei waren. Vorne stand ein Mann auf und sagte: »Hier, Missus. Sie und Ihr Mann können sich hierhin setzen.« Und er ging nach hinten. Er musste gesehen haben, dass sie geweint hatte. Das war seine Art, Mitgefühl zu zeigen.
Das Haus nahm sie mit gemurmelten Begrüßungen und leisem Türenklappern in seine Düsternis auf. Andere waren bereits dort. Da sie keine Form für ihre Gefühle fanden, wurde Zufälliges zum Ritual. Weil Bud Lawson in der Küche war, als der erste Mann eintraf, stellte sich jetzt auch Wullie dort zu den Männern.
Maggie wurde ins Wohnzimmer geführt, wo Sadie mit den Frauen saß. Das Seufzen und Kopfschütteln um sie herum war sachte, kaum merklich, ein Trost, der gespendet werden musste, auch wenn Sadie nicht dafür empfänglich war. Ihre Klischees bewegten sich auf Zehenspitzen. »Oh Gott, so etwas Entsetzliches.« »Ich kann es nicht glauben.« »Was ist bloß aus der Welt geworden?« »Ich koche Tee.« Sadie saß reglos da, Tränen liefen ihr über die Wangen, und immer wenn jemand ihr Blickfeld kreuzte, setzte sie ein versöhnliches Lächeln auf. Ein seltsames Ereignis in den Ruinen ihres Gesichts, dieses Lächeln, das sie unterschiedslos allen schenkte, als habe sie einen Unfall auf der Straße gehabt und wolle sich jetzt beim Verkehr entschuldigen. Maggie betrachtete dies teilweise auch als Verurteilung ihres Bruders.
In der Küche, nur gelegentlich von einer hindurcheilenden Frau unterbrochen, benahmen sich die Männer ganz anders. Während die Frauen unter der Last der Tatsache in die Knie gingen und lernten, damit zu leben, rieben sich die Männer daran auf. Der Raum war ruhelos. Einer blickte immer aus dem Fenster, drehte den Wasserhahn noch fester zu oder tappte auf seinem Becher herum. Wullie fühlte sich unwohl. Er fand, all das hatte nichts mit Jennifer zu tun. Hier ging es nur um Bud und außerdem um Airchie Stanley, der sich an Buds Schweigen gütlich tat.
Jemand hatte eine Flasche Whisky auf den Tisch gestellt. Wullie fand das vielleicht unpassend, nur dass es sowieso nichts Passendes gab. Sie hatten nur zwei Gläser gefunden. Die übrigen nahmen Becher. Langsam hatte der Whisky mit ihrer versammelten Stimmung gespielt, bis sich Wut Bahn brach. Zunächst in losgelösten Augenblicken.
Jemand sagte: »Solche Leute dürften nicht weiterleben.«
Es wurde genickt. Die Stille war furchterregendes Einvernehmen.
»Wem hat das arme Mädchen denn je was getan?«
Niemandem, sagte die Stille.
»Selbst wenn sie ihn schnappen, sorgt irgendein Studierter dafür, dass der Kerl bloß Gefängnis kriegt.«
Ihre Selbstgerechtigkeit war undurchdringlich. Grobe Männer waren das. Gewalt gehörte bei vielen zum Alltag. Der ein oder andere erzählte gerne davon, dass er mit einem Einbrecher oder einem stadtbekannten Verbrecher trinken ging. Aber es gab Verbrechen und Verbrechen. Und wenn man ein bestimmtes beging – wenn man ein Kind missbrauchte oder ein Mädchen vergewaltigte –, wurde man von ihnen in Gedanken entmannt. Man wurde zum Ding.
Die Küche war ein mitleidloser Ort. Stück für Stück redeten sie sich das Menschsein aus. Die Männer wurden zu Racheengeln.
»Ich verlange nur eins«, sagte Bud Lawson. Zum ersten Mal seit über einer Stunde meldete er sich zu Wort. Seine Augen waren tränenfrei. Sie waren klar und leer. »Fünf Minuten will ich mit ihm allein sein.« Der Becher, den er in seinen Händen hin und her drehte, wirkte wie ein Fingerhut. »Ich will ihn nur in die Finger bekommen. Das ist alles, was ich will. Danach werde ich nie wieder um etwas bitten.«
Sie alle wollten ihm diesen Wunsch erfüllen. Airchie Stanley dachte bei sich, dass es vielleicht nicht unmöglich war.
Im Wohnzimmer saßen die Frauen schützend um Sadie herum. Für sie gab es nichts zu tun.