Читать книгу Laidlaw - William McIlvanney - Страница 3
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ОглавлениеRENNEN WAR SO EINE SACHE. Der Klang, wenn deine Füße auf den Gehweg klatschten. Die Lichter vorbeifahrender Autos, die dir in die Augen stachen. Deine Arme, die wie aus dem Nichts vor dir auftauchten, losgelöst voneinander und von dir. Wie die Hände Ertrinkender, sehr vieler Ertrinkender. Das alles half dir nichts. Wie nach einem Autounfall: der Fahrer ist längst tot, aber das Radio dudelt weiter.
Jemand mit Kappe sagte: »Wo brennt’s denn, mein Sohn?«
Rennen war eine riskante Sache. Eine riesengroße Plakatwand der Panik, eine Neonreklame der Schuld. Gehen war sicher. Einen Spaziergang konnte man wie eine Maske tragen. Schlendern. Spaziergänger sind normal.
Es hatte keine Vorwarnung gegeben. Du hattest noch denselben Anzug an, die Krawatte mit Bedacht ausgewählt, im Bus hat dir der Schaffner aus Versehen falsch rausgegeben. Eine halbe Stunde vorher hast du noch gelacht. Dann wurden deine Hände zum Hinterhalt. Wurden zu Verrätern an dir. Es ging so schnell. Deine Hände, die sonst Tassen anhoben, Münzen zählten und Leuten winkten, wurden plötzlich zum Aufruhr, zur vorübergehenden Raserei. Mit lebenslangen Konsequenzen.
Und plötzlich hatte alles eine andere Bedeutung. Keine mehr oder zu viele, auf jeden Fall rätselhaft. Dein Körper war ein fremder Ort. Deine Hände waren hässlich. In deinem Inneren waren lauter Verstecke, dunkle Winkel. Aus welchen Ritzen kamen die Kreaturen gekrochen, die dich missbrauchten? Gewiss von keinem dir bekannten Ort.
Aber welchen Ort kanntest du schon? Nicht mal diesen hier, an dem du dich zu Leuten gesellt hast, als wärst du ein Mensch. In der Milchglasscheibe konntest du sehen, für wen sie dich hielten. Sein Haar war schwarz, die Augen braun, sein Mund schrie nicht. Seine Hässlichkeit war dir zuwider. Da war eine grüne Flasche, darin etwas, das wie ein Farn aussah. Eine Nase mit riesigen Nasenlöchern. Auf der schwarzen Oberfläche waren Schmierstreifen, jemand hatte mit einem Tuch darübergewischt. Ein Mann redete.
»Meine Frau, weißt du?« Er sprach dorthin, wo du eigentlich stehen müsstest. »Weißt du, wenn ich heut Nacht nach Hause geh? Da gibt’s Krieg. War seit gestern Morgen nicht mehr da. Hab nach Feierabend einen alten Freund getroffen. Gott, was haben wir gesoffen, einen nach dem anderen. Hab ihm geholfen, über den Tod seiner Frau wegzukommen. Ist vor zehn Jahren gestorben.« Er nahm einen Schluck. »Ich glaub, ich lass mich überfahren. Hab ich wenigstens ne Ausrede.«
Früher hast du auch gedacht, so was könnte ein Problem sein. Hast geweint, weil du eine Vase kaputt gemacht hast, die deine Mutter sehr mochte. Hast die Scherben im Schrank versteckt. Hattest Angst, zu spät zu kommen, andere zu verärgern oder was Falsches zu sagen. Die Zeit wird nie wieder kommen.
Alles hat sich verändert. Du konntest in dieser Stadt herumgehen, so lange du wolltest. Sie hat dich nicht gekannt. Aber du kanntest jedes Viertel beim Namen. Doch keins hat geantwortet. St. George’s Cross, wo die vielen Autos fuhren und Ziele erfanden für die, die drinsaßen. Die Autos beherrschten die Menschen. Sauchiehall Street war ein Friedhof aus angestrahlten Grabsteinen. Buchanan Street eine Rolltreppe voll mit Fremden.
George Square. Du hättest es wissen müssen. Wie oft hast du dort auf einen der Busse gewartet, die die ganze Nacht durchfahren? Der Platz hat dich zurückgewiesen. Deine Vergangenheit bedeutete nichts. Selbst der schwarze Mann auf dem schwarzen Pferd stammte aus einem anderen Land und einer anderen Zeit. Sir John Moore. They buried him darkly at dead of night. Wer hat dir seinen Namen gesagt? Dein müder Englischlehrer. Yawner Johnson. Ständig hat er gegähnt und zwischendurch interessante Sachen erzählt. Nur die Wahrheit hat er dir nie gesagt. Niemand hat das getan. Und das war die Wahrheit.
Du bist ein Ungeheuer. Wie konntest du das nur so lange vor dir selbst verbergen? Ein Zaubertrick – du hast zwanzig Jahre lang jongliert mit deinem Lächeln, deinem Nicken, mit Messer und Gabel, dem Gang zum Bus und dem Umblättern der Zeitungsseiten, damit dein Leben im Nebel verschwamm, hinter dem du das, was du wirklich bist, verstecken konntest. Bis es vorstellig wurde. Ich bin du.
George Square hatte nichts mit dir zu tun. Er gehörte den drei Jungen, die auf der Rückenlehne einer Bank wie auf einem Drahtseil balancierten, den Schlange stehenden Menschen an den Bushaltestellen, auf dem Nachhauseweg. Du kannst nie mehr nach Hause.
Du kannst nur gehen und dort, wohin du gehst, abgewiesen werden, aber von leer stehenden Häusern nicht. Sie waren große Dunkelheiten, bargen alte Trauer und entsetzliche Wut. Sie waren Gefängnisse der Vergangenheit. Sie hießen Geister willkommen.
Der Eingang war modrig. Die Dunkelheit wohltuend. Du hast dich durch Gerüche getastet. Das leise Huschen mussten Ratten sein. Da war eine Treppe, die gefährlich gewesen wäre für einen, der noch was zu verlieren hatte. Oben war eine Tür kaputt. Sie ließ sich zuziehen. Von der Straße drang trübes Licht herein. Der Raum war sehr leer, abgebröckelter Putz lag auf dem Boden.
Seltsam, wie wenig Blut da war, nur ein paar dunkle Flecken auf der Hose, man konnte sich vorstellen, es sei nie geschehen. Aber es war geschehen. Jetzt bist du hier. Als hättest du Lepra. Du bist der Aussätzige, die Seuche lauert huckepack auf deinem Rücken.
Die Einsamkeit war, was du aus dir gemacht hattest. Die Kälte war gerecht. Von jetzt an würdest du alleine sein. Das hast du verdient. Die Stadt draußen hasst dich. Vielleicht hat sie dich immer schon ausgeschlossen. Sie war sich ihrer selbst immer so sicher gewesen, so voller Menschen, die Türen nicht vorsichtig öffneten, vielmehr großspurig ausschritten. Eine harte Stadt. Jetzt wendet sich ihre ganze Härte gegen dich. Eine Menge aus verbitterten Gesichtern, die dich anstarren, ein wütender Mob, der dich umzingelt. Und du hast keine Chance.
Nichts zu machen. Setz dich, werde der, der du bist. Gestehe dir den gerechten Zorn aller ein. In der ganzen Stadt gibt es niemanden, der verstehen könnte, was du getan hast, niemanden, mit dem du es teilen kannst. Niemanden, niemanden.