Читать книгу Verwaltungsprozessrecht - Wolf-Rüdiger Schenke - Страница 15

1. Grundlage, Funktionen und Tendenzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit

Оглавление

9

Das verwaltungsgerichtliche Verfahren wird durch die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vom 21.1.1960 (BGBl. I S. 17), zuletzt geändert durch VO vom 19.6.2020 (BGBl. I S. 1328), geregelt. Ergänzende Vorschriften finden sich in den landesrechtlichen Ausführungsgesetzen zur VwGO (AGVwGO): BWAGVwGO v. 14.10.2008 (GBl. S. 343), zuletzt geändert durch G. v. 21.5.2019 (GBl. S. 189); BayAGVwGO vom 20.6.1992 (GVBl S. 162), zuletzt geändert durch VO. v. 26.3.2019 (GVBl S. 989); BerlAGVwGO idF der Bekanntmachung v. 22.2.1977 (GVBl S. 238), zuletzt geändert durch G. v. 7.7.2016 (GVBl S. 424); BbgVGG idF vom 22.11.1996 (GVBl. I S. 317), zuletzt geändert durch G. v. 10.7.2014 (GVBl I Nr. 37); BremAGVwGO v. 15.3.1960 (GBl. S. 25), zuletzt geändert durch G. v. 12.6.2012 (GBl S. 255), HambAGVwGO v. 29.3.1960 (GVBl. S. 291), zuletzt geändert durch G. v. 8.7.2014 (GVBl. S. 299); HessAGVwGO idF v. 27.10.1997 (GVBl. S. 381), zuletzt geändert durch G. v. 28.5.2018 (GVBl S. 184); RhPfAGVwGO idF der Bekanntmachung v. 5.12.1977 (GVBl. S. 451), zuletzt geändert durch G. v. 19.8.2014 (GVBl. S. 187); SaarlAGVwGO v. 5.7.1960 (Amtsbl. S. 558), zuletzt geändert durch G. v. 20.4.2016 (Amtsbl. I S. 402); Sachsen-Anhalt AGVwGO LSA v. 28.1.1992, zuletzt geändert durch G. v. 17.2.2017 (GVBl LSA S. 14); ThürAGVwGO v. 15.12.1992, (GVBl. S. 576), zuletzt geändert durch G. v. 16.10.2019 (GVBl. S. 429). In Mecklenburg-Vorpommern finden sich Ausführungsbestimmungen in §§ 12 ff G. zur Ausführung des GerichtsstrukturG v. 10.6.1992 (GVOBl. S. 314, ber. S. 363), zuletzt geändert durch G. v. 11.11.2013 (GVOBl. S. 609); in Niedersachsen in §§ 73 ff des Niedersächsischen Justizgesetzes (NJG) v. 16.12.2014 (GVBl. S. 436), zuletzt geändert durch G. v. 24.10.2019 (GVBl. S. 300); in Nordhein-Westfalen in §§ 109 ff Justizgesetz Nordrhein-Westfalen – JustG NRW v. 26.10.2010 (GV NRW S. 30), zuletzt geändert durch G. v. 18.12.2018 (GV NRW S. 770); in Sachsen in §§ 2, 22 ff Sächsisches Justizgesetz – SächsJG (GVBl. S. 482, ber. 2001, S. 704), zuletzt geändert durch G. v. 11.5.2019 (GVBl. S. 358), in Schleswig-Holstein in den §§ 64 ff Landesjustizgesetz (LJG) v. 17.4.2018 (GVOBl. S. 231, ber. S. 441).

Vorgänger der heutigen Verwaltungsgerichtsbarkeit lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Als erstes Land schuf Baden 1863 eine Verwaltungsgerichtsbarkeit. In Preußen wurde sie 1872 errichtet. Bei dem vor allem durch Rudolf v. Gneist geprägten preußischen System der Verwaltungsgerichtsbarkeit verstand man diese nur als Fortsetzung der Verwaltung mit anderen Mitteln. Sie unterschied sich ua auch in ihrer organisatorischen Stellung wesentlich von der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Aufbauend auf einem Katalog enumerierter Zuständigkeiten (Enumerationsprinzip) bezweckte sie in erster Linie die objektivrechtliche Kontrolle bestimmter Verwaltungsakte (Polizeiverfügungen)[1].

10

Demgegenüber stellt die Verwaltungsgerichtsbarkeit nach der VwGO (ebenso wie bereits unter ihren unmittelbaren Vorgängern, den nach 1945 erlassenen landesrechtlichen Verwaltungsgerichtsgesetzen) eine auf einer Generalklausel (§ 40) basierende echte Gerichtsbarkeit (§ 1) dar. Sie dient in Konsequenz des Art. 19 Abs. 4 GG primär dem Schutz subjektiver Rechte. Die verfassungsrechtliche Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG garantiert einen effektiven Primärrechtsschutz und macht damit zugleich deutlich, dass der Verletzte nicht lediglich – nach dem Motto „Dulde und liquidiere“ – auf sekundären Rechtsschutz durch Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche verwiesen werden darf[2]. Durch eine extensive Interpretation der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel des § 40, derzufolge auch die Rechtswidrigkeit untergesetzliche Rechtsnormen – über § 47 hinausreichend – den Gegenstand verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten bilden kann, ist der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine weitere Funktion zugewachsen (s. Rn 146 und 1156 ff).

Der Bedeutungszuwachs der Verwaltungsgerichtsbarkeit resultiert aber nicht nur aus der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel, sondern beruht zu einem erheblichen Teil auch auf Veränderungen im Bereich des materiellen Rechts. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den Grundrechten zu, die nach Art. 1 Abs. 3 GG alle staatliche Gewalt binden. Sie stellen heute echte subjektive Rechte dar, die nicht nur vor klassischen, mit Befehl und Zwang verbundenen Grundrechtseingriffen, sondern in gewissem Umfang auch vor faktischen Grundrechtsbeeinträchtigungen schützen (Rn 524). Vor allem indizieren die Grundrechte vielfach die Subjektivierung einfachgesetzlicher Bestimmungen, denen früher nur objektivrechtliche Bedeutung beigemessen wurde (so im Polizeirecht, s. Rn 530). In Richtung auf eine Ausdehnung subjektiver Rechte wirkt zudem das Unionsrecht. Auch in seiner Konsequenz werden früher rein objektivrechtlich geschützte Interessen häufig zu subjektiven Rechten aufgewertet (Rn 575 ff). Im Bereich des Umwelt- und Naturschutzrechts schreibt das Unionsrecht überdies selbst dort verwaltungsgerichtliche Kontrollen vor, wo es nicht um den Schutz der Interessen einzelner Personen geht, sondern der Schutz überindividueller öffentlicher Interessen im Vordergrund steht[3]. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der gesetzlichen Etablierung von Verbandsklagen zu (Rn 566). All dies wirkt sich dahingehend aus, dass der Verwaltungsgerichtsbarkeit neue Bereiche erschlossen werden und die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns im Vergleich zum vorkonstitutionellen Rechtszustand eine durchaus neue, weit wirkungskräftigere Dimension aufweist. Verstärkt wird dies noch dadurch, dass die Folgewirkungen verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen vielfach – weit über die Person eines Klägers hinausreichend – öffentliche Interessen sowie vielfältige Interessen anderer Rechtssubjekte tangieren.

Beispiel:

Das zeigt sich etwa bei einer Anfechtung der Genehmigung technischer Großvorhaben.

11

Die Subjektivierung objektivrechtlicher Bestimmungen beschränkt sich nicht auf die Außenbeziehung des Staates zu anderen Rechtssubjekten, sondern macht selbst vor verwaltungsrechtlichen Binnenbeziehungen nicht Halt. Durch die Subjektivierung von Rechtspositionen der Organe juristischer Personen des öffentlichen Rechts, wie sie etwa die Anerkennung kommunalverfassungsrechtlicher Streitigkeiten zur Folge hat (vgl Rn 248), erschließen sich der Verwaltungsgerichtsbarkeit zusätzlich weitere Räume und ermöglichen es ihr, auch einen Beitrag zur Binnenkoordination des Handelns juristischer Personen des öffentlichen Rechts zu leisten.

12

Im Rahmen ihrer vielfältigen Zuständigkeiten obliegt den Verwaltungsgerichten die Überprüfung und Interpretation der das Verwaltungshandeln steuernden Normen am Maßstab höherrangigen Rechts, insbesondere des Verfassungsrechts. Insoweit kommt ihnen eine wichtige Funktion bei der Effektuierung verfassungsrechtlicher Normen zu. Durch deren Integration in das Unterverfassungsrecht leisten sie einen bedeutenden Beitrag zur Sicherung der Einheit der Rechtsordnung (s. Rn 809 ff). Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Konkretisierungsfunktion, die den Verwaltungsgerichten in Bezug auf die auf Wertungen angelegten unbestimmten Rechtsbegriffe (s. Rn 809 ff) eingeräumt wird, wie sie in modernen Gesetzen verstärkt verwendet werden. Deren Ausfüllung wird vielfach durch verfassungsrechtliche Wertentscheidungen und Prinzipien gesteuert, die durch die Gerichte an die Verwaltungspraxis (mit-)vermittelt werden. Im Bereich des Technikrechts ermöglichen unbestimmte Rechtsbegriffe zudem eine flexible Anpassung an neue technische Entwicklungen und Erkenntnisse.

13

Die den Verwaltungsgerichten obliegende Konkretisierung gesetzlicher Normen, die – wie die moderne Methodenlehre gezeigt hat – nicht mehr lediglich als formallogischer Subsumtionsakt gedeutet werden kann, weist der Rechtsprechung den Rang einer wichtigen lückenfüllenden Rechtsquelle zu. Sie dient damit der Rechtssicherheit und der Befriedung des Rechtslebens. Zugleich kommt ihr ein hoher Stellenwert bei einer kontinuierlichen Fortentwicklung des Rechts durch seine Anpassung an veränderte gesellschaftliche und rechtliche Gegebenheiten zu[4].

14

Seit 1991 (Schaffung des 4. VwGO-ÄndG) zeichnen sich allerdings Erosionsprozesse im verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz ab. Sie sind zwar teilweise isoliert gesehen noch nicht zu beanstanden, führen aber in ihrer Summierung zu qualitativen Veränderungen (s. hierzu auch Steiner, in: Festschrift für Schenke, 2011, S. 1277 ff). Erwähnt seien hier nur die systemgefährdende Zersplitterung des Verwaltungsprozessrechts in eine Vielzahl von Einzelgesetzen, die zunehmende Zurückdrängung des Kollegialprinzips durch das Einzelrichterprinzip, die Einschränkung der Rechtsmittelfähigkeit von Entscheidungen sowie die gesetzliche Beschränkung des Suspensiveffekts. Das 6. VwGO-ÄndG, das eine Reihe rechtspolitisch, zT aber auch verfassungsrechtlich problematische neue Weichenstellungen mit sich gebracht hat (wie zB Befristung der Normenkontrolle, richterliche Möglichkeiten zur Hinwirkung auf die Heilung von Verwaltungsverfahrensfehlern, Bindung von Berufung und Beschwerde an Zulassung), setzt diese Entwicklung noch fort, auch wenn später durch die mit dem Gesetz zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) v. 20.12.2001 (BGBl. I 3987) erfolgte Reform der „Reform“ manches wieder abgemildert wurde (s. zB die Novellierung der §§ 87, 94, 146 Abs. 4). Problematisch ist vor allem die Abwertung des Verwaltungsverfahrens durch die zeitliche Ausdehnung der Heilungsmöglichkeit von Verfahrensfehlern bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens (§ 45 Abs. 2 VwVfG) sowie durch die zT fehlende Sanktionierung von Rechtsverletzungen (s. zB § 46 VwVfG), der allerdings bei der Verletzung absoluter Verfahrensrechte Grenzen gesetzt werden (s. zB § 4 Abs. 1 UmwRG und dazu Rn 531). Zum nicht unproblematischen Versuch, durch das sog. Neue Steuerungsmodell in Anlehnung an betriebswirtschaftliche Organisationsstrukturen und Arbeitsmethoden eine kostengünstigere und „effizientere“ Rechtsprechung zu erreichen, s. näher Schenke, in: BK (Viertbearb.), GG, Art. 19 Abs. 4, Rn 208 ff mwN. Hier drohen Quantitätssteigerungen der Rechtsprechung zu Lasten ihrer Qualität zu gehen.

15

Neuerdings viel diskutiert wird die Frage, ob und in welchem Umfang das verwaltungsgerichtliche Verfahren durch eine Mediation[5] entlastet werden kann, bei der ein unabhängiger Dritter (der Mediator) sich bemüht, die an einem Konflikt Beteiligten zu dessen einvernehmlicher Bewältigung zu bewegen. Den Hintergrund für die Forderung nach Einführung und Ausbau von Mediationsverfahren bilden nicht nur der Gedanke einer beschleunigten Beilegung von Konflikten[6] und Gründe der Kostenersparnis[7], sondern auch eine veränderte Stellung des Bürgers, der es entspreche, diesen in stärkerem Umfang als bei einem herkömmlichen, autoritativ durch den Richter zu entscheidenden Verfahren an der Lösung von Konflikten zu beteiligen. Bei einer im Mediationsverfahren getroffenen einvernehmlichen Lösung sei zudem eine größere Akzeptanz der getroffenen Regelung gewährleistet als bei einem Richterspruch, der in der Regel nur einen Sieger und einen Besiegten kenne. Das Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeteiligung vom 21.7.2012 (BGBl. I S. 577) dient der Umsetzung der Richtlinie 2008/52/EG (ABl. EU vom 24.5.2008 L 136/3). § 173 S. 1 regelt, dass der novellierte § 278 Abs. 5 ZPO und der neu geschaffene § 278a ZPO auch im Verwaltungsprozess Anwendung finden. Nach § 278 Abs. 5 ZPO nF darf das Gericht die Beteiligten für die Güteverhandlung sowie für weitere Güteversuche vor einen hierfür bestimmen und nicht entscheidungsbefugten Richter (Güterichter) verweisen. Der Güterichter kann alle Methoden der Konfliktbeilegung einschließlich der Mediation einsetzen. § 173 S. 1 entscheidet damit die lange bestehende Streitfrage, ob in Entsprechung zum Zivilprozessrecht auch vor den Verwaltungsgerichten eine Güteverhandlung möglich ist. Nach § 278a Abs. 1 ZPO kann das Gericht den Parteien aber auch die Durchführung einer Mediation oder eines anderen Verfahrens der außergerichtlichen Konfliktbeilegung vorschlagen. Mit § 173 S. 1 geht der nationale Gesetzgeber damit sogar über die Vorgaben des EU-Rechts hinaus, das für verwaltungsrechtliche Streitigkeiten kein Mediationsverfahren vorschreibt.

Entscheiden sich die Parteien, einem entsprechenden Vorschlag zu folgen, ordnet das Gericht das Ruhen des Verfahrens an. § 278a Abs. 1 ZPO verweist bezüglich der Durchführung der Mediation auf das gleichzeitig erlassene Mediationsgesetz vom 21.7.2012 (BGBl. I S. 1577). Dieses sieht in seinen §§ 1 ff bestimmte Verfahrensregelungen für eine Mediation vor, so ua für die Wahl des Mediators und seine Aufgaben, Offenbarungspflichten und Tätigkeitsbeschränkungen sowie Verschwiegenheitspflichten. Nicht geregelt ist die Frage, welche Streitigkeiten einer richterlichen Mediation zugänglich sind. Hier ergeben sich (anders als in dem vom Grundsatz der Parteiautonomie geprägten Zivilrecht) – insbesondere bei einer richterlichen Mediation – Beschränkungen aus Art. 20 Abs. 3 GG, der einen gesetzesunabhängigen Interessenausgleich[8] verbietet[9]. Diese Bedenken lassen sich freilich dann ausräumen, wenn Handlungsspielräume für die Verwaltung in Gestalt von Ermessens- und Beurteilungsspielräumen sowie sonstigen Gestaltungsmöglichkeiten bestehen[10] bzw die Tatbestandsvoraussetzungen für einen außergerichtlichen oder gerichtlichen Vergleich vorliegen (dazu Rn 1190).

§ 1 Einführung › II. Funktionen und Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 2. Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit

Verwaltungsprozessrecht

Подняться наверх