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a) Die Bedeutung des Untersuchungsgrundsatzes und seine Grenzen
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Für das verwaltungsgerichtliche Verfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz (s. § 86 Abs. 1), der zT auch als Inquisitionsgrundsatz bezeichnet wird. Danach erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Soweit Beteiligte zur Klärung des Sachverhalts in der mündlichen Verhandlung Beweisanträge stellen, können diese gem. § 86 Abs. 2 aber nur durch einen vor der Entscheidung ergehenden begründeten Gerichtsbeschluss in entsprechender Anwendung des § 244 Abs. 3, 4 StPO abgelehnt werden. Das Vorabentscheidungsgebot des § 86 Abs. 2 gilt nicht für Beweisermittlungsanträge (Ausforschungsanträge), für deren Wahrheitsgehalt nicht wenigstens ein gewisser Anhaltspunkt besteht[13].Vom Untersuchungsgrundsatz ist der Verhandlungsgrundsatz (Beibringungsgrundsatz) zu unterscheiden, der in der Regel im Zivilprozess Anwendung findet. Er bildet die prozessuale Entsprechung zur Privatautonomie und besagt, dass die Parteien selbst dem Gericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt zu unterbreiten haben.
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Allgemein gesprochen findet der Untersuchungsgrundsatz in all jenen Verfahren Anwendung, deren Gegenstand in besonderer Weise auch öffentliche Interessen berührt, außer im verwaltungsgerichtlichen Verfahren also vor allem auch im Strafverfahren (s. zur strafgerichtlichen Hauptverhandlung § 244 Abs. 2 StPO). Er trägt hier zugleich dem besonderen Schutzbedürfnis des Bürgers Rechnung, der sich aus einer Reihe von Gründen dem hoheitlich handelnden Staat gegenüber in einer schwächeren Position befindet. Die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes im Verwaltungsprozess wird durch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, aber auch durch das in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltene Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gefordert[14].
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Infolge des Untersuchungsgrundsatzes ist das Gericht verpflichtet, im Rahmen des durch den Dispositionsgrundsatz bestimmten prozessualen Begehrens der Beteiligten die Sachverhaltsaufklärung auch auf solche Gesichtspunkte zu erstrecken, zu denen die Beteiligten nichts vorgetragen haben. Das Verwaltungsgericht kann hierbei auch zu einer von den Beteiligten abweichenden tatsächlichen Würdigung des Sachverhalts gelangen. Eine Konsequenz des Untersuchungsgrundsatzes ist es, dass das Verwaltungsprozessrecht prinzipiell keine Behauptungslast (Darlegungslast) sowie keine Beweisführungslast (auch subjektive oder formelle Beweislast genannt) der Beteiligten kennt.
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Trotzdem stellt sich auch im Verwaltungsprozess die Frage, zu wessen Gunsten bzw Lasten sich eine trotz ordnungsgemäßer Sachverhaltsaufklärung verbleibende Ungewissheit materiellrechtlich auswirkt (sog. objektive oder materielle Beweislast). Hier kann mit der hM an den – auch im Zivilprozess geltenden – Grundsatz angeknüpft werden, dass die Nichterweisbarkeit einer Tatsache (das „non liquet“) sich in der Regel zulasten desjenigen auswirkt, der aus dieser Tatsache eine für sich günstige Rechtsfolge ableitet. Bezüglich rechtsbegründender Tatsachen trifft deshalb den (angeblichen) Anspruchsinhaber die Beweislast, bezüglich rechtshindernder, rechtsvernichtender und rechtshemmender Tatsachen dagegen den Anspruchsgegner. Was eine rechtsbegründende, -hindernde, -hemmende oder -vernichtende Tatsache ist, bestimmt das materielle Recht; die prozessuale Stellung als Kläger oder Beklagter spielt hierfür keine Rolle[15]. Bei der Ausgestaltung des materiellen Rechts hat dieses dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sich in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten – anders als im Zivilprozess – nicht zwei gleich starke Parteien gegenüberstehen, sondern der Staatsgewalt im Verhältnis zum Bürger Vorteile zukommen. Das hier bestehende Machtgefälle legt eine Kompensation bei der Ausgestaltung des Beweislastrechts nahe. Letzteres wird damit auch durch grundrechtliche Entscheidungen beeinflusst.
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Eine Abschwächung des Untersuchungsgrundsatzes ergibt sich auf Grund der Mitwirkungspflichten[16], die die Beteiligten bei der Erforschung des Sachverhalts treffen (s. § 86 Abs. 1 S. 1). Die gerichtliche Aufklärungspflicht endet aber – aus der Natur der Sache heraus – erst dort, wo die Beteiligten in Kenntnis entscheidungsrelevanter Umstände, die für das Gericht auch bei sorgfältiger Erforschung des Sachverhalts nicht ersichtlich waren, ihre Mitwirkung unterlassen. Weitere – im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Verankerung des Untersuchungsgrundsatzes bedenkliche – Einschränkungen ergeben sich aus § 87b, wonach (nach Ablauf einer dem Kläger zu setzenden Frist) Erklärungen und Beweismittel als verspätet zurückgewiesen werden können.