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2. Ist ›Kultur‹ nichts als ein ›Diskurs‹?

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Was erfahre ich über die Sache ›Kultur‹ selbst, wenn ich eine Typologie der Kulturauffassungen aufstelle? Ich weiß nicht einmal, ob es eine solche Sache überhaupt gibt, und kann also ebenso wenig sicher sein, dass es sich lohnt, vom Kulturbegriff so viel Aufhebens zu machen. Zwar gibt es wohl keinerlei Sozialkategorie, deren Deutung unumstritten wäre. Auch über Ökonomie oder Staat oder selbst Klassengesellschaft sind kontroverse Auffassungen im Umlauf. Doch bei solchen handfesten Realitäten verhält es sich eher wie in dem Bild, das Leibniz gebraucht, um die Standortgebundenheit der einzelnen Sichtweisen mit der Leitvorstellung absoluter Wahrheit zu versöhnen, und zwar im Sinne einer Mit-Möglichkeit, compossibilité, einander bedingender Möglichkeiten: Es ist, als blickten die Einzelnen von unterschiedlichen Stellen auf eine Stadt – wir können ergänzen: mit unterschiedlichen Interessen. Von jedem Standpunkt und jeder Sichtweise zeigt sich etwas anderes, und doch zweifelt niemand an der Existenz der Stadt. Selbst wenn jemand etwa die Existenz der Klassenverhältnisse bestreitet, lugt das Verleugnete mitsamt dem Interesse an seiner Verleugnung aus deren fadenscheiniger Textur.

Anders, bodenloser bei der ›Kultur‹. Sie scheint Wittgensteins resignierten Freibrief in Kraft zu setzen: »Ein Wort hat die Bedeutung, die jemand ihm gegeben hat.« (W 5, 52) Doch die Frage gibt keine Ruhe: Wieso gibt jemand dem Wort ›Kultur‹ diese oder jene Bedeutung? Welche interessierten oder bewusstlos ideologisierten Blickrichtungen sind da am Werk? Könnte es sein, dass es hier umgekehrt wie in der Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern zugeht, wo die ›Gebildeten‹ ihren Kotau machen vor der wundermodischen Einkleidung der Herrschaft, bis ein ungebildetes Kind die einfache Wahrheit ausspricht: »Der Kaiser hat ja gar nichts an.« Könnte es sein, dass im vorliegenden Fall ›Kultur‹ nichts als eine ›diskursive Einkleidung‹ ist, in der nichts Substanzielles eigenen Rechts steckt? Oder gibt es für diesen Diskurs doch ein – trotz aller Verschiedenheit – gemeinsames Fundament in der Sache? Wenn das nicht der Fall ist, müssen wir dann nicht unseren Klärungsversuch abbrechen?

In dieser Sackgasse verspricht ein anderes von Wittgensteins Bildern uns zur Hand zu gehen, nämlich das von der »Familienähnlichkeit« (W 5, 37 u. 41). Auf dem Rückzug aus der Wesensmetaphysik räumt es Allgemeinbegriffen einen pragmatischen Status ein. Schauen wir uns das Bild näher an: Keine zwei Individuen einer Großfamilie sind einander vollkommen gleich, doch die einzelnen Züge streuen sich in immer neuen Kombinationen. Selbst zwei Individuen, die völlig unterschiedliche Züge haben, können jeweils einen Zug mit einem dritten Individuum gemein haben, das mit jedem der beiden zumindest einen seiner charakteristischen Züge teilt. Über diese dritte Person vermittelt sich dann die Familienzugehörigkeit der beiden ersten. Wittgenstein legt ein zweites Bild darüber, das Bild vom Spinnen eines Fadens, wobei wir »Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, dass irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, dass viele Fasern einander übergreifen.« (Philos. Untersuchungen, §67, W 1, 278) Freilich lassen sich über solche vermittelnden Teilgemeinschaften die Grenzen des »Fadens« wie auch der »Familie« immer weiter hinausschieben, bis tendenziell Alles dazugehört. Das ist jedoch nur eine andere Weise zu sagen, dass keines mehr zu etwas Bestimmtem gehört.

Oder trägt der Griff, der ein Allerlei als ›Kultur‹ zusammenfasst, die Handschrift des Staates oder einer der an ihn angelehnten Verwaltungen? »Die Zusammenfassung von so viel Ungleichnamigem wie Philosophie und Religion, Wissenschaft und Kunst, Formen der Lebensführung und Sitten, schließlich dem objektiven Geist eines Zeitalters unter dem einzigen Wort Kultur verrät vorweg den administrativen Blick, der all das, von oben her, sammelt, einteilt, abwägt, organisiert.« So sieht es Adorno in einem Essay von 1960, der zur Orientierung von Kulturredakteuren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gedacht war. Zugleich sieht er ›Kultur‹, »gerade nach deutschen Begriffen, der Verwaltung entgegengesetzt. Sie möchte das Höhere und Reinere sein, das, was nicht angetastet, nicht nach irgendwelchen taktischen oder technischen Erwägungen zurechtgestutzt ward.« Doch sieht er nur allzu deutlich, »wie sehr die hundertmal zu Recht kritisierte Kategorie der Welt wie sie ist, der verwalteten, verschworen und angemessen ist. Gleichwohl wird kein einigermaßen Empfindlicher das Unbehagen an der Kultur als einer verwalteten los.« (GS 8, 121f) – Wir sind gut beraten, wenn wir uns darauf einstellen, dass das kulturelle Feld nicht nur von Zweideutigkeiten dieser Art, sondern auch von einem vielfältigen Kräftemessen durchzogen, kurz: »ein Feld wuchernder Antagonismen« (Hall, AS 3, 151) ist. Machen wir uns auf ein Tauziehen gefasst, in dem alles verloren, nie alles gewonnen werden kann.

Wir kommen auf diese unaufhebbare Ambivalenz zurück. Zuerst wenden wir uns der Frage der philosophischen Reflexion zu. Denn die philosophische Anthropologie reduziert Kultur keineswegs auf Lebensweise, zumal dann nicht, wenn sie das »Passwort Marx« entschlüsselt hat.

Die kulturelle Unterscheidung

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