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3. Die ›Kulturelle Wende‹ als Abwendung von der Philosophie
ОглавлениеVon den frühen Cultural Studies8 bekennt Stuart Hall (2008b), fehlende Deutschkenntnisse im Verein mit damals noch fehlenden Übersetzungen hätten den Zugang zumal zur deutschsprachigen kritisch-marxistischen Philosophie blockiert. So kam es, dass dieser neu aufbrechende Zweig der Kulturforschung sich als »Feld ohne Philosophie konstituierte«. Für Hall ist es »der verfehlte Moment in der Geschichte« und eine »wirkliche Schwäche«, die allerdings den Vorteil hatte, der Forschergruppe theoretische Spekulationen zu ersparen.
Ganz anders der Tenor in einem relativ willkürlich herangezogenen, jedoch symptomatischen kulturwissenschaftlichen Textbuch von 2010. Das Vorwort erklärt, warum man die Philosophie seit dem »Cultural turn« vergessen könne. Von der ethnologischen, im Englischen und Französischen als anthropologisch bezeichneten Kulturwissenschaft heißt es, dass sie sich »dezidiert von einer Tradition der Ideen- oder Kulturgeschichte verabschiedet […]. Die wissenschaftliche Grundlage bilden weder Philosophie noch Philologie, sondern Soziologie und Anthropologie.« (Kimmich u. a. 2010, 9) Wir erfahren, dass die US-amerikanischen Ethnologen Alfred L. Kroeber und Clyde Kluckhohn bereits in den frühen 1950er Jahren philosophische Kommentare oder Reflexionen zur menschlichen Geschichte verbannt hätten.9 Stattdessen solle man sich darauf beschränken, »Sitten« und »Gebräuche« zu erforschen, »die variabel, partikular, plural und empirisch« sind; an die Phänomene solle »historisch, pluralistisch, relativistisch« herangegangen werden, »gleichwohl bestrebt, die Totalität der bekannten Welt von Brauchtum [custom] und Ideologie abzudecken« (146f). Man habe deshalb »Ansätze, die einer eher idealistischen Tradition […] angehören, […] weitgehend unberücksichtigt« gelassen (Kimmich u. a., 10). Nicht gesagt wird, dass erst recht die geschichtsmaterialistische Tradition unberücksichtigt bleibt. Antonio Gramsci oder Stuart Hall, ohne deren Gedanken der »Cultural turn« eine taube Nuss geblieben wäre, werden nicht einmal erwähnt, Michail Bachtin oder Raymond Williams zwar genannt, doch bei der Textauswahl nicht berücksichtigt.
Der Rückzug aufs positiv Vorhandene, den auch Willis mit seinem »anthropologisch als ›Lebensweise‹« gefassten Kulturbegriff angetreten hat, entbindet eine Dialektik der verwandelten Wiederkehr des Verdrängten. Herbert Marcuse hat sie in den USA der 1960er Jahre im Einflussbereich der Analytischen Philosophie beobachtet. Letztere war darauf aus, solche »›Mythen‹ oder metaphysischen ›Gespenster‹ wie Geist, Bewusstsein, Wille, Seele, Selbst zu bannen, indem sie die Intentionen dieser Begriffe in Feststellungen über besondere, identifizierbare Operationen, Veranstaltungen, Mächte, Stimmungen, Neigungen, Fertigkeiten usw. auflöst. Das Ergebnis erweist auf merkwürdige Art die Ohnmacht der Destruktion – der Geist spukt nach wie vor.« (1967, 216) Auch die Herausgeber des zitierten Textbuchs scheinen zu ahnen, dass ihre »Vorstellung einer ›Kultur-Theorie‹ einen internen Widerspruch enthalte« (Kimmich u. a. 2010, 9). Unerkannt sucht der Widerspruch sie dort heim, wo sie davon sprechen, »was Kultur ist, wie sie entsteht, sich wandelt, sich von anderen Kulturen abgrenzt« (10). Das Subjekt des Satzes ist Kultur im Allgemeinen, die Aussage bezieht sich auf eine besondere Kultur im Unterschied zu anderen Kulturen. Es ist dasselbe Wort, benennt indes zwei ganz verschiedenartige Erkenntnisobjekte. Das führt sie zu der Frage: »Was aber macht eine Theorie zu einer Kulturtheorie?« Die Definitionen, die sie als beispielhafte Antworten aus drei Veröffentlichungen anderer Autoren zu »Kulturtheorien« anführen,10 haben gemeinsam, dass jeweils »Kultur« oder »kulturell« als definitorische Erklärung (definiens) fungiert, ohne selbst definiert zu werden. Das läuft auf die Definition von Kulturtheorie durch sich selbst hinaus. Das kann nicht anders sein, solange nicht gefragt wird, was ein Phänomen zum kulturellen macht. Haben wir es mit dem Paradox einer Kulturtheorie zu tun, die keine Theorie der Kultur mehr hat? Dabei macht deren »Postulat der Kulturalität aller gesellschaftlichen Handlungsebenen und Handlungssysteme« sie, wie Warneken (2010, 13) sagt, »zumindest theoretisch zu einer Hyperwissenschaft«, was »in einen Kultur-Imperialismus ausarten kann«.
Wenn es keine explizite Begründung des Erkenntnisobjekts mehr gibt, so spiegelt die Textauswahl bei Kimmich u. a. zumindest ein implizites Verständnis. Es erweist, wie von Marcuse vorhergesagt, »die Ohnmacht der Destruktion – der Geist spukt nach wie vor«, nur dass er jetzt als vulgärmetaphysische Gespenster spukt. Dies nicht vor allem in der Gestalt von Malinowskis »Geistern der Toten auf den Trobriand-Inseln«, die in der Auswahl vertreten sind, sondern im dichotomisch aufgespannten Interpretationsrahmen des kulturwissenschaftlichen Gegenstands insgesamt. Wie selbstverständlich spuken die Geister des ›Heiligen‹, des ›Irrationalen‹, des Gewaltrauschs usw. in dieser Welt ohne sozial- und politisch-ökonomischen Boden. Doch was erfahre ich eigentlich über Kultur, wenn ich von Schamma Schahadat gesagt bekomme, »die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan« werde »als eine Grunderfahrung begriffen« (24), solange nicht darüber nachgedacht wird, was vorstaatliche Gemeinwesen dazu bringt, bestimmte Orte, Dinge oder Akte ›heilig‹ zu halten?11 Die Verdrängung der geschichtsmaterialistischen Kulturtheorien ist vollkommen. Der Preis, den der als einzig legitim sich gebärdende momentane ›Mainstream‹ unbemerkt entrichtet, ist seine theoretische Aushöhlung.