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2. Kultur und Kulturen

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Das lateinische Wort cultura leitet sich ebenso wie der cultus von colere her. Im gestaffelten Wortsinn von colere zeigt sich eine genetische Spur: der Primärsinn ist »bebauen« und »bestellen« (des Feldes); am bebauten Boden hängt die Siedlung und damit das Be/Wohnen; hieran das Pflegen und dessen Hochschätzung, die in der Verehrung gipfelt. »Kultur« leitet sich von der Agrikultur her. In der Tat basiert seit der neolithischen Revolution alle Kultur auf dieser. Mit ihrem Mehrprodukt erzeugt die Landwirtschaft ihren Gegensatz in Gestalt des Tempels und der Stadt, wo infrastrukturelle Maßnahmen geplant und geleitet und mit den abstrakteren Fähigkeiten und der Schrift die ideologischen Sanktionierungsformen der bestehenden Verhältnisse ausgebildet und gepflegt werden. Nicht zuletzt wird der militärische Zwangsapparat dort seinen Sitz nehmen. Die Stadt wird zum Ort des Staates. In der Stadt als dem Ort des Gewerbes und des Handels, des Kultes und der Künste, der Verwaltung und der Rechtsprechung bildet sich obendrein das Archiv des gesammelten und verallgemeinerten Wissens.

Die semantische Schichtung, die in den modernen westlichen Sprachen mit dem Wort ›Kultur‹ assoziiert ist, trägt noch immer die Spur dieses genetischen Zusammenhangs. Das semantische Feld hebt mit dem landwirtschaftlich-produktiven Sinn an, wird dann auf die cultura animi (Plutarch) übertragen und gipfelt in der geistigen Bildung. Das Wort bleibt, doch was es – zunächst metaphorisch, dann terminologisch – meint, ›Kultur‹, ist seit dem Altertum seinem Ursprung entfremdet. Der Sinn des lateinischen rusticus reicht von »ländlich« über »schlicht« und »bäurisch« bis zu »ungebildet«, und der Sinn der rusticitas von »Einfachheit« bis »Blödigkeit« (Heinischen 1954). Vom Standpunkt der höheren Kultur erscheint der ursprüngliche Cultivator par excellence, der Bauer, also nurmehr als der ›Unkultivierte‹. Darin drückt sich die Herrschaft der Stadt über das Land, der Kopfarbeit über die Handarbeit aus. Im Innern der Stadt und bald im ganzen Land repliziert sich dieses Verhältnis als Herrschaft über die manufakturelle Arbeit. Ihren geistigen Ausdruck schafft sich diese immer komplexer ausdifferenzierte Herrschaft im logozentrischen Weltbild. Das Materielle wird zu etwas Formlosem aber Formbaren degradiert. Die Form kommt von oben. Sie ist das Höhere, in letzter Instanz Göttliche.

In diese Höhenwelt geistiger Kultur bricht im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit rasch anschwellender Macht der marxistische Diskurs ein, dessen intellektueller Schärfe der Aufstieg der internationalen Arbeiterbewegung eine mitreißende Wucht verleiht. Danach ist nichts mehr wie zuvor. Die Tragödie des Staatssozialismus im 20. Jahrhundert beraubte den ›offiziellen‹ Marxismus nach dessen ›konstantinischer Wende‹ zunehmend seiner intellektuellen Substanz und kostete ihn seine Glaubwürdigkeit. Der Zusammenbruch der auf ihn sich berufenden europäischen Staaten bereitete ihm schließlich ein Ende. Das Denken der Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse ist seither wissenschaftlich auf sich gestellt.

Diese Geschichte muss mitbedacht werden, um die im Ganzen diffus wirkenden und manchmal auf halber Strecke verharrenden Forschungsansätze und theoretischen Konzepte zu verstehen, die sich unterm terminologischen Dach der ›materiellen Kultur‹ treffen. Den spätbürgerlichen Ausläufern der einst so stolzen Höhenwelt geistiger Kultur treten diese unter der Fahne der ›Materiellen Kultur‹ oft weniger entgegen als zur Seite. Der residuale Protest gegen das Diktat der geistigen Kultur, das der Begriff des Materiellen transportiert, lässt sich in Anlehnung an die grobe Formel übersetzen, die Brecht dem Gangsterboss Mac the Knife in den Mund gelegt hat: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«. Sie lautet dann: »Erst kommt die materielle, dann die spirituelle Kultur.« »Fressen« im Brecht-Zitat meint natürlich nicht nur das Essen, sondern ist eine Allegorie für die Aneignung des Ensembles der lebensnotwendigen Gegenstände der Bewohnung, des Gebrauchs und des Verbrauchs. Herbert Marcuse versteht unter materieller Kultur den Bereich der »Lebensnotwendigkeiten, […] Bequemlichkeit und Luxus« (Triebstruktur, 90).67 Von Produktion ist so weit noch nicht die Rede. Der Standpunkt, dem die konsumtiven Güter die materielle Kultur verkörpern, kann nicht der Standpunkt der Gesellschaft sein, die von der Produktion lebt, sondern allenfalls der eines Individuums, für dessen begrenzten Horizont die Aneignung jener Elemente des ›materiellen‹ Reichtums zum Zwecke des Konsums genügt.

Die Produktion drängt sich auf, richtet man den Blick auf die Gemeinschaft. Von ihr wird nichts bewohnt, gebraucht oder verbraucht, was sie nicht zuvor der Natur abgewonnen, menschlichen Bedürfnissen gemäß umgeformt, gebaut usw., kurz, produziert hätte. Das unterm Namen ›materielle Kultur‹ auftretende Erkenntnisprojekt findet sich vor der Frage, ob es sich der anthropologischen und zugleich gesellschaftlich brisanten Tiefendimension dieser Ausweitung stellt. Denn zweifellos fußt die für die Herstellung der zum Bewohnen, Gebrauchen und Verbrauchen erforderten Güter auf historisch akkumulierten Fähigkeiten der gesellschaftlich systematisierten Werkzeugherstellung mit den hierfür erforderten geistigen und sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten. In der Anthropogenese kommt daher der Werkzeugherstellung die Bedeutung der Schwelle zu, die vom Tier-Mensch-Übergangsfeld in die humanspezifische Daseinsform führt. Wir kommen darauf zurück.

In der Umgangssprache definieren »Kultur« und »Natur« einander, indem sie sich wechselseitig ausschließen. Dem reflektierteren Blick zeigt sich ›Natur‹ als Wort für die ›wilde‹ Grundlage des ›Kultivierten‹ einerseits, für die Umwelt einer Kulturwelt und deren Einwirkungen und Rückwirkungen auf die Menschenwelt andererseits. Die Tücken des Kulturbegriffs lassen sich erahnen in einem DDR-Lehrbuch, wo es von ihm heißt, er »widerspiegelt zunächst den qualitativen Unterschied aller gesellschaftlichen Erscheinungen von der Natur, vom Naturzustand und von Naturprozessen« (Kosing 1976, 703; vgl. Abschn. 7 des folgenden Kapitels). Diese Bestimmung verrät nichts vom Fundamentalstatus der Kultur für die menschliche Gattung. Sie gleicht dem Versuch des Emporkömmlings, seine Herkunft zu verdrängen. »Für eine Spinne«, sagt Brecht, »gehörte, wenn sie den gleichen Begriff der Natur verwendete, ihr Netz nicht zur Natur, wohl aber ein Gartenstuhl.« (GW 12, 517)

Im Unterschied zum DDR-Lehrbuch und etwa gleichzeitig mit dessen Erscheinen kommt Lawrence Krader ohne Umschweife zum Kern der Kultur. Er begreift sie »in ihrer Totalität [als] das Instrument, mit dem wir die Natur außer uns und in uns bearbeiten. Sie ist das Werkzeug für unsere Arbeiten, deren Feld ist das kulturelle Feld selbst.« (1976, 13) Krader trifft damit den für unsere Frage entscheidenden Punkt, dass die Kultur unsere eigene Natur bearbeitet und dass wir als in ihr humanisierte die außermenschliche Natur bearbeiten. In diesem produktiven und an der konkreten Lebenserhaltung orientierten Sinn gewinnt die Notiz von Peter Weiss ihren Sinn: »Die Kultur ist nicht der Überbau, sondern die Basis menschlicher Tätigkeit.« (1981, 645) Indes führt Kraders Metapher vom Werkzeugcharakter der Kultur in die Irre. Um unser Werkzeug zu sein, müsste die Kultur uns äußerlich sein. Kulturell konstituierte Subjekte, die wir sind, sind wir aber nicht Subjekte außerhalb ihrer. Mit der Kultur verhält es sich in dieser Hinsicht wie mit der Sprache. Wir verfügen über Worte und Wendungen, aber nicht über die Sprache als solche, da wir außerhalb ihrer nicht denken können.

Wenn die »Kulturanthropologie« (Krader 1976, 15) von der Kultur als solcher im generischen Singular spricht, meint sie diesen omnihistorischen, weil für Geschichte konstitutiven Sachverhalt. Wenn dagegen die Ethnologie von Kulturen im Plural spricht, will sie diese in ihrem je konkret-differenziellen Wie und den an diesem ablesbaren Präferenzen (»Werten«) voneinander unterscheiden. Die Kriterien der Unterscheidung liegen jedoch nicht fest, sondern können nach vielen Parametern spezifiziert und detailliert sowie anders konfiguriert werden. Daher läuft der Kulturbegriff in hunderten von Definitionsversuchen aus. »Jeder scheint nach Belieben mit diesem Wort ›Kultur‹ etwas anderes verbinden zu können«, und selbst auf dem engeren Feld materialistischer Kulturtheorie herrschte »eine babylonische Sprachverwirrung«, wie im Vorwort zu einem einschlägigen Tagungsband von 1980 gesagt werden konnte (Haug/Maase 1980, 4). Ohne Klärung des Verhältnisses der allgemeinen Bestimmungen zu den individuellen Abwandlungen ist der Verwirrung nicht zu entkommen. Zur Schlichtung der unübersehbaren Vielfalt möglicher kulturwissenschaftlicher Unterscheidungen werden wir am Schluss auf unsere Leitfrage der kulturellen Unterscheidung durch die kulturellen Subjekte selbst, die das Objekt der Kulturwissenschaftler bilden, zurückkommen.

Die kulturelle Unterscheidung

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