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1. Kultur als »Prozess, der über die Menschheit abläuft«

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Das Bild von ›Kultur‹, das sich aus der Zusammenstellung kanonisierter Textfragmente im eingangs zitierten Lehrbuch (Kimmich u. a. 2010) aufdrängt, entspricht am ehesten der ›metapsychologischen‹ Projektion Sigmund Freuds: Kultur als »Prozess, der über die Menschheit abläuft«, wie es bei ihm in symptomatisch bedeutungsvoller grammatischer Fehlleistung heißt (Unbehagen, 249). Wie ein der Kontrolle entglittener Golem gleicht die gegen die Menschen Verselbständigte einem zerstörerischen und letztlich selbstzerstörerischen19 Organismus.20

Undurchschaubar für die Individuen, verurteilt sie diese dazu, illusionär und ebenso vergeblich wie verloren zu agieren. Für die Menschen ist es »einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt«, doch alles an der Kultur widersetzt sich diesem Ziel, und »man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten« (208).21

Was hier als Kultur gilt, »hat eine sehr gewaltsame Realität«, nämlich »die der getrennten und unabhängigen Macht des Ganzen über den Individuen«, wie sich mit Marcuse (1967, 219) sagen lässt. Freuds »Unbehagen in der Kultur« entziffert Marcuse als »Ungenügen der Zivilisation« (Triebstruktur, 97) und holt so das Problem von der Triebstruktur der Individuen in die Herrschaftsstruktur der Kultur zurück. Während Freud »keine höhere Rationalität« kenne, »an der die herrschende hätte gemessen werden können« (Triebstruktur, 74), bestimmt Marcuse den Maßstab einer kritischen Kulturauffassung durch den »Grad erfüllter menschlicher Freiheit […], die durch die wirklich rationale Ausnutzung der produktiven Kapazität erzielt werden könnte. Legt man diesen Maßstab wirklich an, dann erhält man den Eindruck, dass in den Brennpunkten der industriellen Zivilisation der Mensch in einem Zustand sowohl kultureller wie physischer Verarmung gehalten wird.« (89)22

In dem von Kimmich u. a. in ihre Textsammlung aufgenommenen Aufsätzchen von Freud, »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«, wo es um die inzwischen kaum mehr nachvollziehbare Provokation geht, als welche seine Theorie des Unbewussten vor hundert Jahren empfunden wurde, ist davon allerdings nicht die Rede. Auch käme man nicht darauf, dass Freud sich mehr oder weniger von allen anderen der durch die Lehrbuch-Auswahl kanonisierten Autoren dadurch unterscheidet, dass er sehr wohl materialistischen Boden unter den Füßen hat, wenngleich er von diesem alsbald in spekulative Lüfte entschwebt. Denn Freuds kulturtheoretische Spekulationen ankern seinem Selbstverständnis zufolge in der »wirtschaftlichen Struktur der Gesellschaft« (232). Allerdings konkretisiert er diese Struktur nicht, sondern begnügt sich damit, den von ihm vorgestellten kulturellen Repressionszusammenhang als »von der realen Not« (265) erzwungen zu behaupten.

Als »gewiss nicht unwichtigsten Charakterzug einer Kultur« würdigt Freud, »in welcher Weise […] die sozialen Beziehungen geregelt sind, die den Menschen als Nachbarn, als Hilfskraft, als Sexualobjekt eines anderen, als Mitglied einer Familie, eines Staates betreffen« (225). Er nimmt an, »das kulturelle Element sei mit dem ersten Versuch, diese sozialen Beziehungen zu regeln, gegeben« (ebd.). Im Blick darauf sei es »besonders schwer, sich von bestimmten Idealforderungen freizuhalten«, denn dasjenige, »was überhaupt kulturell ist« (ebd.), sei das »Triebopfer« (226) oder die »Kulturversagung« (227). Weil für ihn »Kultur auf Triebverzicht aufgebaut« ist, erklärt er schneidend: »Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut.« (226) Wankend macht ihn das Phänomen der Schönheit und ihrer Anziehungskraft: »ihre kulturelle Notwendigkeit ist nicht einzusehen, und doch könnte man sie in der Kultur nicht vermissen« (214).23 – Die Denkform, die Freud bei alledem so selbstverständlich ist, dass er sie nicht bemerkt, geschweige denn rechtfertigt, ist die grundbürgerliche des Individuums im Gegensatz zur Gesellschaft. Die »Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft« gilt ihm als »der entscheidende kulturelle Schritt« (225) über alle Einzelnen hinweg. Doch fasst man Macht konkret, als Handlungsfähigkeit, lässt sich leicht einsehen, dass es außerhalb der Gesellschaft weder Macht fürs Individuum noch überhaupt ein Individuum für die von Freud vorgestellte Macht geben kann. Ebensowenig könnte bei einem Kaspar Hauser außerhalb aller Kultur von Freiheit gesprochen werden. Vorstellungen wie diejenige des in seiner Vereinzelung vor und außerhalb aller Gesellschaftlichkeit handlungsfähigen Individuums und des »Kampfes zwischen Individuum und Gesellschaft« (266) sind Rückprojektionen des bürgerlichen Privateigentümers, für den der Mensch dem Menschen ein Konkurrent ist. Ungeachtet dessen ist es Freud hoch anzurechnen, dass er überhaupt die Frage nach dem kulturellen »Element« und der »Keimzelle der Kultur« (242) aufwirft. Denn von der Antwort auf diese Frage dürfen wir erwarten, dass sie uns den Schlüssel zur Beantwortung unserer Leitfrage in die Hand gibt, was überhaupt kulturell an der Kultur ist.

Die kulturelle Unterscheidung

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