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1. Ein erster Blick auf aktuelle Kulturauffassungen

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Dass ›Kultur‹ als Allerweltswort fungiert, ist oft bemerkt worden. Seine Vieldeutigkeit spiegelt die »Inkompatibilität der vielen Denklinien, die historisch im selben Ausdruck zusammengekommen sind« (Bauman 1973, 1). Die einen verstehen darunter alles, was nicht Natur ist;1 andere haben das konkrete Wie menschlicher Lebensgestaltung im Sinn; dritte engen die Bedeutung weiter ein auf »symbolisches Handeln« (Geertz 1987, 16)2, wieder andere auf Wertsysteme. Oft bedeutet die »›cultured‹ person«, also der ›Gebildete‹, schlicht das Gegenteil des ›Ungebildeten‹, »the ›uncultured‹ one« (Bauman 1973, 7). ›Kultur‹ ist dann einfach ein anderer Name fürs Reich der ›höheren Bildung‹ oder, enger noch, der ›Kunst‹. Die erste Bestimmung mit der Entgegensetzung Kultur/Natur umfasst so viel, dass sie nichtssagend wird. Die zweite, nicht weniger umfassend, etwas konkreter fragend, sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht (darauf gehen wir gleich näher ein). Die dritte bleibt in der Symbolabstraktion3, die vierte im Wertehimmel hängen: Es ist der Blick von oben, der daraus, dass das Kulturelle den Menschen etwas bedeutet oder für sie wertvoll ist, den Vorgang entobjektiviert und entmaterialisiert und nurmehr Zeichen und Werte übrigbehält. Dadurch verkehrt sich deren Abstammung vom Konkreten in dessen Ableitung aus ihnen.4 Wie ein Gleichnis dafür liest sich eine Beobachtung des mexikanischen Schriftstellers Rafael Argullol: Eingeladen zur Feier anlässlich der Verleihung des Titels »immaterielles Weltkulturerbe« an die mexikanische Küche, stieß ihm die idealistische Verhimmelung auf, da ihm wie jedem, der seine Sinne beisammen hat, »die äußerst wohlschmeckende mexikanische Küche kaum ›immateriell‹ erschien« (2010). Das Kunstparadigma von Kultur schließlich verliert die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder aus dem Blick, und indem sie die nach Klassenlage gestufte Kultur »anhand einiger geweihter Objekte« beredet (Althusser 1967/1985, 46), legitimiert sie damit indirekt die Herrschaftsverhältnisse.

Am klarsten scheinen die Ethnologen zu sprechen, die davon ausgehen, »dass Kulturen immer im Plural existieren« (Hauck 2006, 7). Der den Sinn bestimmende Gegenbegriff zu Kultur ist damit weder die Natur noch die Kulturlosigkeit, sondern die je andere Kultur. Das war relativistisch-befreiend angesichts eines Universalismus, dessen Gewalt-, ja Vernichtungspotenziale gegen das Besondere ans Licht getreten waren. Doch dann hat das Blatt sich wiederum gewendet, und der »ursprünglich ausdrücklich als Gegenbegriff zu dem der Rasse« in die US-amerikanische Sozialwissenschaft eingeführte pluralisierte Kulturbegriff hat »den Rassebegriff abgelöst als zentrales Rechtfertigungsargument für Diskriminierung und Unterdrückung aller Art« (8). Dagegen kämpft heute der Mainstream durch die Dekonstruktion homogener Ethno-Vorstellungen an, indem er querliegende Teilungen und Verbindungen (nach Klasse, Geschlecht usw.) oder transnationale Intellektuellenkulturen herausarbeitet, Elemente sozialer Konstruiertheit in Selbst- und Fremdbildern von Ethnizität hervorhebt, sowie gegenüber statischen Auffassungen von Kultur deren Fluidität betont als eine in der praktischen Aneignung stets mitvollzogene Umgestaltung.

Die ›Pluralität der Kulturen‹ wanderte von der Ethnologie – im ›kulturanthropologischen‹ Sinn einer Kunde von fremden Völkerschaften – zur ›ethnomethodologischen‹ Erforschung der eigenen Gesellschaft, zur »Binnenethnologie«, als deren »wohl wichtigste Zielsetzung […] das Dolmetschen« zwischen »Klassen und Schichten komplexer Gesellschaften« gelten kann (Warneken 2006, 340). Den Platz der Kulturtheorie nimmt dann die ›Ethnographie‹ ein.5

Werden wir mit Paul Willis (2009, 149f) aus theoretischen Klärungsversuchen in die überwältigende empirische Positivität des Faktischen flüchten und in die Rede von einer »Kultur, die […] eher anthropologisch als ›Lebensweise‹ zu verstehen ist«? Die Berufung auf Raymond Williams versieht diese Gegenstandsbestimmung zunächst mit einem Vertrauensvorschuss (wir kommen darauf weiter unten zurück) – und tatsächlich scheint sie auf den ersten Blick einiges für sich zu haben: Theoretisch grundlegend zu klären, was man mit ›Kultur‹ im Unterschied zu Gesellschaft oder Lebensweise sagen möchte, wird man sich im empirisch ertragreichen Geschäft der vergleichenden ›Kulturen‹- oder Lebensweisenbeschreibung doch nicht zusätzlich aufladen wollen. Hat man nicht in der Lebensweise ein handfest-empirisch Gegebenes als soliden Forschungsgegenstand? Doch abgesehen von der »(unvermeidlichen) Selektivität in der Gegenstandswahl und ihrer Begründung« (Fluck 2004, 21) beschreibt keine Beschreibung je nur, jede wählt aus und deutet. Nachdem man Wittgensteins »Die Welt ist alles, was der Fall ist« gleichsam in »die Kultur ist alles, was Lebensweise ist« übersetzt hat, schlägt diese Entgrenzung die Beschreibung mit Blindheit für das, was sie wirklich tut. Denn da, wie Kant aufgezeigt hat, Anschauung ohne Begriffe blind wäre, öffnet diese Uferlosigkeit unthematisierten Begriffen die Tür, die bestimmte Dimensionen oder Momente der Lebenspraxis herausheben, andere Momente oder Zusammenhänge ausblenden. Eine Ahnung davon macht sich breit angesichts der Talkshow-Einladungen »zu Themen, die vom Osterhasen über urban legends bis hin zu den neuesten Stämmen der Postmoderne reichen« (Lindner 2000, 97). In der Regel ist es die Ideologie, die hinterm Rücken des gesunden Menschenverstands eintritt, falls man sich nicht einem momentan virulenten Theorieparadigma unterstellt, während die von Marx ins Bewusstsein gehobenen Mechanismen des Kapitalismus, der Klassengesellschaft und der ideologischen Herrschaftsreproduktion wie von selbst aus dem Blickfeld verschwinden.

Oft fasst man Kultur dann mit einer dem Denken der Warengesellschaft besonders eingängigen Kategorie als »System von Werten«, ohne zu fragen, wie dieser Wertehimmel aus den irdischen Verhältnissen im Sinne »praktischer, also durch die Tat begründeter Verhältnisse« (Marx, 19/362) aufsteigt und sich als ideelle Entsprechung und Legitimation gesellschaftlicher Herrschaft verfestigt. Der Wertebegriff fasst das Resultat und verfehlt den Prozess, woraus es resultiert. Und was mehr ist, er artikuliert dieses Resultat in der Sprache der vom unmittelbaren Arbeitsprozess abgehobenen und ihm hierarchisch vorgesetzten Gesellschaftsschicht. Kurz, der Wertbegriff gehört der Herrschaftssprache an, die auf Grundlage der ›horizontalen‹ Arbeitsteilung die ›vertikale‹ Teilung zwischen »der materiellen und geistigen Arbeit«6 voraussetzt. Darin gründet, was man den strukturellen Idealismus der Klassengesellschaft selbst nennen kann.

Als Gegenbewegung zu diesem strukturellen Kulturidealismus erscheint auf den ersten Blick die Hinwendung zur sogenannten »materiellen Kultur« (vgl. dazu das dritte Kapitel). Doch sie distanziert sich nicht so sehr von solchen und anderen Formen des Kulturidealismus, als dass sie sich als deren Ergänzung andient, wie ja auch ihr Name von dem der ›immateriellen Kultur‹ zehrt.7

Die kulturelle Unterscheidung

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