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4. Kulturdiskurse zwischen Begriffsnot und Kompromisszwang
ОглавлениеKulturforschung aus der Bindung an Kulturen und Kulte der Herrschaft zu lösen und ihr »Culture as a whole way of life« (Williams) als Forschungsfeld zu erschließen, war einmal ein Befreiungsschlag.12 Er machte es möglich, »auch Aspekte der alltäglichen Lebensführung als Ausdruck von Kultur zu verstehen« (Lindner 2000, 20). Doch ›Kultur‹ als Erkenntnisobjekt durch »Ausdruck von Kultur« zu ersetzen, statt die Frage, was überhaupt kulturell ist, zu stellen (und sich selbst dieser Frage), löst das Problem nicht, sondern verschachtelt es nur. Es setzt, wörtlich genommen, die Kultur als unsichtbaren Gott, der sich in Phänomenen der Lebensweise manifestiert, wie der alttestamentarische Gott im brennenden Dornbusch. Dieser Ausdrucksgedanke ist nicht draußen in der Welt, wo sich, wie in einem Mehrfrontenkrieg, die Kampfhandlungen überkreuzen. Wer sich da halb wegduckt, halb anpasst und aus Beutegütern oder auch Trümmern ein Leben zusammenbastelt, drückt dadurch kein autonomes Kulturwesen aus, sondern seine konkrete Lebensweise ist Resultante heterogener Kräfte, unter deren Vektoren sein eigenes Machen von Unterschieden als eine Kraft unter Kräften eingeht. Was eine derart veränderte Auffassung des Erkenntnisgegenstands ›Kultur‹ für die Begrifflichkeit des Forschungsansatzes bedeutet, soll uns im zweiten Kapitel (v. a. in den Abschnitten 2 und 4) beschäftigen.
Begnügt sich Kulturforschung mit einer Ethnographie von Lebensweise, hat sie zwar ein handfest-empirisch Gegebenes als Forschungsgegenstand, das sich ohne viel weitere Vorklärung oder gar theoretische Grundlegung beobachten und beschreiben zu lassen scheint, doch fällt sie dann in ihren Gegenstand, dessen inneres Getriebe alles andere als unschuldig ist. Den Gegenton scheint ein Dokument des Deutschen Bundestags anschlagen zu wollen: »Die Ergebnisse kultureller Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, mit Natur und Technik, mit Geschichte und Zukunft tragen utopische und kritische Gehalte, sie sind niemals bloßes Abbild von Realität.« (KuD 43) Dieser Satz, in dem man einen fernen Widerhall von Gedanken Ernst Blochs, Theodor W. Adornos oder Herbert Marcuses zu spüren meint, bringt allerdings weniger das den weiteren Bericht leitende Kulturverständnis als ein Zugeständnis an kritische Positionen zum Ausdruck. Denn der Bericht schnürt wie irgendein anderes politisches Kompromisspapier viele inkompatible Denklinien zusammen. Alle sollen in ihm repräsentiert sein. So findet auch die »anthropologische« Kulturdefinition der UNESCO (1982) Eingang, »in der die Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen wird, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen, und die über Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst«. Das ist weder utopisch noch kritisch, sondern eine deskriptiv die Faktizität verdoppelnde »chaotische Vorstellung des Ganzen« (Marx, siehe weiter unten). Dann wieder heißt es: »Kultur […] benötigt Freiräume für das Unverfügbare, das weder ökonomisch noch politisch Nutzbare« (43). Das steht im Widerspruch zu tatsächlich stattfindenden Verfügungen und Nutzungen. Der von der Sache geforderte kritische Einspruch gegen die verfügenden Mächte des Marktes und der Politik verschwindet jedoch unterm mythischen Unding eines wirkungslos Wirkenden, über das niemand verfüge. Zugleich heißt es, »Kulturwirtschaft ist eine bedeutende Wachstumsbranche«,13 und »Kunst und Kultur sind keine beliebigen Waren.« Abgesehen davon, dass nicht Kunst und Kultur, sondern Kunstwerke und Kulturveranstaltungen als Waren fungieren, wird die Eigenart dieser Waren nicht erläutert. Stattdessen sollen auch solche »kulturellen Ausdrucks- und Präsentationsformen, die sich nicht ›verkaufen‹«, gefördert werden. Aber ist alles, was auf kein Interesse stößt, deshalb schon förderungswürdig? Zwischen Begriffsnot und Kompromisszwang reiht der Bericht »ohne Inventarvorbehalt«, wie Gramsci sagen würde (H. 11, §12), nämlich ohne kritische Sichtung ihrer Herkunft, verschiedene Diskurs-Versatzstücke aneinander. Es ist Zeit, einen Blick auf die Wandlungen der Kulturdiskurse im Zuge des Übergangs zum Hightech-Kapitalismus zu werfen.