Читать книгу Die kulturelle Unterscheidung - Wolfgang Fritz Haug - Страница 20

6. Ambivalenz des Kulturellen

Оглавление

Stuart Hall, der die Kultur als »das Gebiet der Umwege, des Indirekten«, ja als Gründung des Imaginären48 ansieht, hält Distanz zum umweglos direkten, »sehr explosiven, keine Grenzen kennenden Wesen der Lust«;49 zumindest »als politische Kategorie ist Lust sehr irreführend« (2008, 485).50 Das Lustprinzip kann jeden Antagonismus durchqueren, kann alle, die es ins Visier nimmt, zu Objekten des Begehrens machen. Daher sieht Hall es zur Desartikulation der Politik tendieren, die von Gegensätzen lebt. Im Konsum von Produkten der Kulturindustrie mit ihrer oft »komplizierten Kombination aus Warenform und Erfahrungsrelevantem« bringt es einen dazu, mit letzterem die Warencharaktere zu schlucken. So muss zum Beispiel »die Trennlinie […] innerhalb der Popkultur51 selbst liegen«, und »um jene Unterscheidungen zu erkennen, die tatsächlich einen Unterschied machen, die Unterschiede wirklicher Erfahrungen sind, Unterschiede gelebter Geschichte«, muss man sich auf dieses Feld einlassen (486).

Wenn Lust und Genuss das gesellschaftlich-politisch Trennende hinter einem Gemeinsamen verschwinden lassen können, so ist erst recht die kulturelle Unterscheidung, deren Wurzeln keine ganz anderen sind, auf allen Seiten der gesellschaftlichen Antagonismen anzutreffen. Obwohl sie im anthropogenetischen und dann menschheitsgeschichtlichen Sinn weitertreibend wirkt, kann sie im Einzelfall ins Privat-Hedonistische oder auch Regressive gehen. Als Universalie menschlichen Daseins vermag sie alle Formen anzunehmen, doch immer entspringt ihr Ja der Selbstbejahung der Subjekte. Alle praktizieren sie ständig und auf ihre je eigene, durch Lebensumstände und -geschichte bedingte Weise, die Unterdrücker wie die Unterdrückten. Selbst »Kaufentscheidung ist (wenngleich oft nur marginal) immer auch kulturelle Unterscheidung« (KdW, 275).52 Man muss das Denken des Kulturellen zunächst weghalten von moralischen Wertungen und sozialer oder politischer Parteilichkeit. Gut für mich selbst heißt nicht ethisch gut. Die Ethik erweist sich im Verhältnis zum Anderen, wie Aristoteles, der sie als Teil der Politik begreift, es auf den Punkt gebracht hat.

Die Resultate der kulturellen Unterscheidung fixieren sich in Gewohnheiten und Institutionen. Dies machen die verschiedenen Ebenen und Formen antagonistischer Kommunikation53 sich zu Nutze. Das massenhaft Vorgezogene wird Legitimationsstoff und Konkurrenzmittel zugleich. In der Epoche der ästhetischen Gebrauchswert-Monopole in Gestalt der Markenartikel (KdW, 231ff) wird das Kultivieren konkurrierender Unterschiede zur Existenzbedingung fürs Kapital und ist »im Grunde nichts anderes als ein Aspekt des modernen Konsumismus« (Hall 2008, 486). In der resultierenden Kultur überlagern und durchdringen sich die Aktionen all dieser Mächte, Instanzen und Akteure. Kurz, nicht alles ist kulturell an der ›Kultur‹, diesem opaken, vielgesichtigen Gegenstand von Diskursen und Politiken. Alle Mächte mischen in ihr mit, nicht zuletzt die ökonomischen, politischen und ideologischen. »›Herrschende Kultur‹ mag kulturelle Bedeutung im hier definierten Sinn für eine herrschende Klasse haben, ideologische jedoch für die beherrschten Klassen oder Völker. Die kulturellen Blumen werden ständig von den ideologischen Mächten gepflückt und als ›unverwelkbare‹ Kunstblumen von oben nach unten zurückgereicht, eingebaut in die vertikale Struktur des Ideologischen. Umgekehrt können auch ideologische Phänomene von den Volksmassen ›profaniert‹, angeeignet und in ihren eigenen Kultur- und Identitätsprozessen assimiliert werden. Wie in solchen Fällen von kulturellen Effekten von Ideologischem gesprochen werden kann, so von ideologischen Effekten von Kulturellem, wenn dieses aufgrund seiner Attraktivität – sei es für die Massen, sei es für die Ideologen selbst – in eine ideologische Macht hineinwirkt und dort Veränderungen bewirkt. In der kapitalistischen Warenproduktion kompliziert eine dritte Instanz die Struktur des Alltagsbewusstseins: die Warenästhetik ruft kulturelle Effekte hervor, wenn sie das tätige Ausfüllen ihrer imaginären Räume um die Waren durch Konsumenten induziert. Andererseits fungiert sie als ideologieförmige Macht, die Glück und Befriedigung als oberste Attraktionen setzt und alle möglichen anderen Attraktionen und Kohäsivkräfte, auch ideologische, dem unterordnet und mit dem Erwerb und Konsum bestimmter Waren verknüpft.« (ETI, 53)

Den genetischen Prototyp ›herrschender Klasse‹ haben Marx und Engels in den patriarchalischen Geschlechterverhältnissen in Gestalt der Verfügung der Männer über Körper und Arbeitskraft ihrer Frauen und Kinder gesehen. Dass Freud den Hauptteil des »Unbehagens in der Kultur« den Frauen zuschreibt,54 zeigt ihn mitten in der Hellsichtigkeit blind für diesen Urgrund der patriarchalen Kultur. Blind dafür machte sich auch die UNESCO-Weltkonferenz über Kulturpolitik in Mexiko-City 1982, als sie in §2 festlegte, »die Behauptung der kulturellen Identität [trägt] zur Befreiung der Völker bei«, während sie gleichzeitig »jede Form von Dominanz« zur »Verleugnung oder Beeinträchtigung dieser Identität« erklärte, ohne die für die Frauen repressive Dominanz der Männer in den meisten dieser feierlich für unantastbar erklärten Kulturen zu erwähnen oder anders als implizit in Frage zu stellen.55

Die kulturelle Unterscheidung

Подняться наверх