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3. Das Materielle der Kultur

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Zunächst müssen wir auf die Qualifizierung der Kultur mit dem beunruhigenden Eigenschaftswort ›materiell‹ eingehen. In der Umgangssprache steht es für unterschiedliche Bedeutungen. Wenn Proudhon sagt, Talent könne »nicht materiell aufgewogen werden« (1841; zit. n. 2/49), so meint er ›finanziell‹. Wenn Tooke von »einer materiellen, nicht fingierten Abtretung« spricht, so meint er »eine wirkliche Abtretung« (1844, 34f; zit. n. 24/472). Wenn Max Weber von Gerichtsurteilen spricht, »die auf formal korrekten, aber materiell unkonstitutionellen Gesetzen beruhen« (GPS, 41), dürfte er den Gesetzesinhalt im Unterschied zur Gesetzesform meinen. Max Weber setzt ›materiell‹ hinzu, wo er das angelsächsische »make a living« eindeutscht als »sein Leben (materiell) aus etwas machen« bzw. seine »Subsistenz« aus etwas ziehen (vgl. WuG 119). Unter kapitalistischen Bedingungen bedeutet das ›Materielle‹ ein Einkommen in Geldform. Doch der Term bleibt diffus, respektiert diskret das ungeschriebene Gesetz, dass man ›über Geld nicht spricht‹. Wenn Weber »am Gesellschaftszweck materiell oder ideell Interessierte« (WuG, 208) unterscheidet, kann das ›materiell Interessierende‹ auch Machtzuwachs bedeuten, der sich mittelbar ›zu Geld machen‹ lässt.

Gordon Childe sagt von den Dörflern der neolithischen Vor-Töpferei-Zeit im heutigen Jarmo (Kurdistan), sie hätten bereits »den größten Teil der materiellen und ideologischen Ausrüstung [besessen], über die später neolithische Bauern verfügten« (1960, 31). Als Beispiele für »ideologische« Ausrüstungsgegenstände nennt er »weibliche Statuetten« und »Tonstempel zur Vervielfältigung geometrischer Motive«, während er als »materielle« eine Reihe von Arbeitsmitteln anführt, nämlich »Handmühlen oder Reibsteine, um Korn zu Mehl zu vermahlen, gewölbte Tonöfen, um Mehl zu Brot zu verbacken« sowie »durch Schleifen geschärfte Beile und Äxte« (ebd.). Offenbar sind Objekte des Kults oder des Schmucks für ihn ideologisch, Werkzeuge dagegen materiell. Dass er allerdings die Tonstempel, die nicht selber Schmuck sind, sondern zur ästhetischen Markierung dienen, also Werkzeuge bzw. Arbeitsmittel sind, nicht zur materiellen sondern zur ›ideologischen Kultur‹ rechnet, zeigt, dass er sie nicht von der unmittelbaren Funktion, wie das Beil ein Werkzeug zu sein, sondern vom Endzweck ihres Produkts her bestimmt. Entscheidend ist für ihn demnach die Konsumtion als der gesellschaftliche Gebrauch, der von einem Produkt gemacht wird. Doch dann durfte Childe keine konkreten Beispiele für materielle Werkzeuge bringen. Denn das Beil könnte zu Opferzwecken benutzt, im Ofen könnte Ritualbrot gebacken worden sein. Damit müsste es sich für ihn auch bei diesen Arbeitsmitteln um ›ideologische‹ Objekte handeln. Es kommt noch schlimmer. Woher weiß er, dass die »weiblichen Statuetten« keine Bedeutung für die materielle Produktion besessen haben? Die Arbeit des traditionellen vietnamesischen Reisbauern etwa war »in erster Linie ein ritueller Vorgang, eine Eingliederung des eigenen Handelns in einen apriorisch-sakralen Geschehensablauf«: eine Missernte droht, »wenn man die herkömmlichen kultischen Pflichten nicht erfüllt« (Wulff 1972, 51). Eine Prozession, bei der eine »weibliche Statuette« um die Felder getragen wird, um eine gute Ernte zu beschwören, gehörte für die Beteiligten womöglich zur materiellen Produktion. Oder der Hestia- bzw. Vesta-Kult, der sich ums Feuermachen dreht, ändert nichts am ›materiellen‹ Charakter des Feuers. Mythisch deutet er auf die Bedingungen und Konsequenzen dieser anthropogenetischen »Hauptinvention!«, wie Marx die Bedeutung der Zähmung des Feuers gegen Morgan betont (Ethnol. 172). Diese Erfindung ist für alles Folgende grundlegend, weil sie eine neuartige Umweltunabhängigkeit vermittelt und neuen Technologien der Werkzeugherstellung und der Nahrungserschließung den Weg bahnt; sie verlangt den künftigen Menschen die Überwindung der den Primaten angeborenen Feuerscheu ab und zieht eine spezifische Arbeitsteilung und Kooperation zur Unterhaltung der Glut nach sich (Schurig 1976, 295). – Offenbar trägt jene Denkweise vom konsumtiven Endzweck und vom Standpunkt moderner Weltauffassung her eher zur Verwirrung als zur klaren Unterscheidung bei.

Der Vulgärmaterialist macht keine Umwege über die teleologische Struktur der Arbeitstätigkeiten und der Zweckbestimmung ihrer Produkte. »Materiell« ist für ihn etwas Physisch-Stoffliches, das für die Augen sichtbar und mit den Händen berührbar ist. Auch im »nichtmarxistischen Materialismus war es besonders im 19. Jahrhundert verbreitet, ›Materie‹ als Stoff zu deuten und diesen mit auf Atomen aufbauenden physikalischen Strukturen zu identifizieren« (Wittich 2004, 816f). Die Daseinsform, die man ihm zuzuordnen pflegt, ist das Ding oder die Sache, jedenfalls ein stofflicher Gegenstand, der sich (sei es auch mit optischen und haptischen Hilfsmitteln) betrachten und berühren lässt. Die Entdeckung der subatomaren Wirklichkeit hat diese Vorstellung überholt. Einsteins berühmte Formel E = MC2 spielt innerhalb der ›materiellen Welt‹, wie schon Hegel den Alltagsverstand mit seiner Bestimmung des Lichtes als »unkörperliche, ja immaterielle Materie« durcheinander gebracht hat (Enz I, W 8, 118). Und vom Ideellen, das dem Materiellen entgegengesetzt zu werden pflegt, lässt sich vom wissenschaftlich-philosophischen Standpunkt festhalten, dass es »stets von Materiellem genetisch, physiologisch oder auch technisch abhängig bleibt« (Wittich 2004, 818). Verliert damit der Term ›materiell‹ nicht jede Trennschärfe?

Lenin geht energisch dazwischen und bestimmt »Materie« erkenntnistheoretisch als dasjenige, was »außerhalb« des Bewusstseins und »unabhängig« von diesem existiert (LW 14, 141 u.ö.). Damit kann etwa das Licht, ohne das man nichts gegenständlich sehen kann, ohne dass es selbst als solches gegenständlich sichtbar wäre, als etwas Materielles vorgestellt werden, während eben diese Vorstellung als etwas Ideelles gelten kann. Doch diese Lösung des Problems zieht weitere Probleme nach sich. Sie gründet auf der dualistischen Denkstruktur, wie sie seit Descartes und Kant vorherrscht. In der Tat ist sie im Marxismus-Leninismus zu einer dualistischen Ontologie ausgebaut worden, derzufolge es zwei Seinssphären, die Materielle und die Ideell-Immaterielle, auch als ideologisch begriffene gibt, der das weltanschauliche Bekenntnis zum Primat der Materie abverlangt wurde. Diese Denkweise hat vollends zu heillosen Verwirrungen und zum Versuch, diesen mit scholastischen Spitzfindigkeiten zu entkommen, geführt (vgl. Haug 1979). Das »Bewusstsein«, das bei Lenin Materie als das von sich selbst Ausgeschlossene definiert, ist das Individuelle, wenn auch abstrahiert und verallgemeinert. Geht man dagegen wie Marx und Engels von den in Gesellschaft bewusst tätigen Individuen und den Bedingungen ihrer Handlungsfähigkeit aus, kommt man zu Faktoren wie Sprache, Institutionen, Werkzeuggebrauch, Wissen, also kulturell kumulierten und weitergegebenen historischen Hervorbringungen, mittels derer die Individuen untereinander und mit der außermenschlichen Natur in Beziehung treten.

Der Dualismus der beiden Seinssphären ist seit Descartes’ Zweisubstanzenlehre ungeachtet aller Einsprüche solide verankert in der ›westlichen‹ Selbstauslegung, zumal er mit der Innen-Außen-Unterscheidung des individualistisch geprägten Alltagsverstandes konvergiert. Das Unbehagen angesichts der Auseinanderschneidung der Lebensphänomene äußert sich in einem Verbindungsdenken auf Basis der dualistischen Zerfällung. Es lässt sich beobachten am Beispiel des deutschsprachigen Wikipedia-Artikels »Materielle Kultur« (Stand 20.8.2010). Er definiert zunächst: »Als materielle (auch: materiale) Kultur wird die von einer Kultur oder Gesellschaft hervorgebrachte Gesamtheit der Geräte, Werkzeuge, Bauten, Kleidungs- und Schmuckstücke und dergleichen bezeichnet.« Kultur ist hier nur ein anderes Wort für Gesellschaft, und materielle Kultur reduziert sich auf deren dingliches Skelett, auf Gebrauchsgegenstände ohne Gebrauch und Behausungen ohne Bewohner, wie sie Museen sammeln oder zumindest in Fragmenten präsentieren könnten. Der Artikel fährt fort: »Kultur und Materielles sind ohne einander nicht denkbar. Erst durch eine Verbindung mit dem Materiellen und Immateriellen entsteht ein Zugang zum Verstehen des Alltags verschiedenster Gesellschaften.« Die Konfusion regiert. Bemerkenswert ist gleichwohl das Schema, das sich als das Kombinationsparadigma bezeichnen lässt. Man ›weiß‹ dabei, dass es eine Sphäre des Materiellen und eine Sphäre des Immateriellen gibt und dass die Kombination beider Sphären die Lösung birgt. Alfred Kosing referiert in den Grundlagen des historischen Materialismus die »in der marxistisch-leninistischen Literatur [… verbreitete] Auffassung, dass die Kultur einer bestimmten Gesellschaft durch die Gesamtheit ihrer materiellen und geistigen Produkte oder Werte gebildet werde. Auf dieser Grundlage wird zwischen der materiellen Kultur und der geistigen Kultur unterschieden, wobei materielle und geistige Kultur in einem weiteren Kulturbegriff zusammengefasst werden, während der engere Kulturbegriff lediglich die geistige Kultur enthält.« (1976, 704f) Statt vom widersprüchlichen, gleichwohl einheitlichen sozialen Lebensprozess auszugehen und dessen historische Ausdifferenzierung zu rekonstruieren, gehen diese und ähnliche Bestimmungsversuche von fertigen Rubriken aus, um sie nachträglich in eine Art von Ordnung zu bringen. Aber geistige Kultur gibt es an sich ebenso wenig wie materielle Kultur, und es steigert die Verlegenheit eher noch, ihre »Unterscheidung« auf den Status »eines ersten Gesichtspunkts der Klassifizierung kultureller Verhältnisse entsprechend der gesellschaftlichen Lebensbereiche« zu reduzieren.68 Es sind dies konzeptionelle Zugriffe auf eine widersprüchliche und antagonistische Wirklichkeit, und diese Zugriffe sind historisch und sozial situiert. Es sind keine wissenschaftlichen Begriffe, sondern gängige Kategorien, die nicht ohne Kritik in die Theorie übernommen werden können.

Die kulturelle Unterscheidung

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