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3. Bourdieus Analyse der kulturellen Distinktion
ОглавлениеEines Stücks dieser Arbeit hat sich Pierre Bourdieu in seiner »Sozialkritik der Urteilskraft« unterzogen, einem sozioanalytischen Gegenstück zu Kants Kritik der Urteilskraft.30 Hier entschlüsselt sich das Geheimnis, warum diejenigen, die in ›Kultur und Kunst‹ schwelgen, so oft von gesellschaftlicher Herrschaft schweigen. Die verschwiegene selbst hält sich ja aus der Kultur keineswegs heraus.31 Im Gegenteil, sie hüllt sich in sie ein und durchdringt sie mit ihrer Ideologie, bis diese ihr aus allen Knopflöchern lugt. Althusser kam daher auf die Idee, das Kulturelle mit dem Ideologischen gleichzusetzen (1985, 48). Obwohl er auf handfeste Herrschaftspraktiken verweisen kann, geben wir uns damit nicht zufrieden, zumal er selbst bemerkt, dass »die herrschende Ideologie den Massen immer gegen gewisse Tendenzen ihrer eigenen Kultur aufgezwungen [wird], die weder als solche anerkannt noch sanktioniert wird, aber widersteht« (47; Übers. geändert, vgl. 1967/1973, 42). Im Kontext umreißt Althusser auf wenigen Seiten seine Kritik an den bürgerlichen Bildungs- und Kunstdiskursen dahingehend, dass sie nicht vor allem zur Sache sprechen, sondern unter dieser »Maske« auf die Verinnerlichung herrschaftskonformer Umgangsweisen mit ›Bildungsgütern‹ abheben (ebd.; 1985, 47).
Was bei Althusser als apodiktisch vorgetragene Intuition auftritt, hat Bourdieu analytisch auseinandergelegt und an einer Fülle geschmackssoziologischen Materials systematisch durchgeführt. Dieses Material atmet die für Frankreich charakteristische Fortwirkung der von Norbert Elias (1969) untersuchten Höfischen Gesellschaft. Bourdieu findet deren Variante von Aristokratismus »inkarniert in einer Pariser Großbourgeoisie, die alles Prestige und alle – gleichermaßen ökonomischen wie kulturellen – Adelsprädikate in sich vereinigt« (1988, 11). Wenn seine Studie dennoch etwas über »alle geschichteten Gesellschaften« aussagt, so wegen ihres »Modells der Wechselwirkung zweier Räume – dem der sozio-ökonomischen Bedingungen und dem der Lebensstile«; es erlaubt, in der Klassenstruktur das Fundament der sozial-ästhetischen Klassifikationssysteme auszumachen, »welche die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Welt strukturieren und die Gegenstände des ästhetischen ›Wohlgefallens‹ bezeichnen« (11f). Dadurch wird es möglich, »analytisch zu beschreiben«, welche »Kulturgüter« zu einer bestimmten Zeit »als Kunstwerke rezipiert« und welche Rezeptionsweisen als »legitim« anerkannt werden (17). Kraft der Homologie zwischen der Geltungshierarchie der Künste, Kunstwerke und Genres einerseits und der Hierarchie ihrer Konsumenten andererseits fungiert »Geschmack als bevorzugtes Merkmal von ›Klasse‹« (18). Ihn unter Beweis zu stellen, dient als Abstandstechnik in der Hierarchie sozialer Geltung. Bourdieu beschreibt das »Feld«, in dem dieser Distinktionsmechanismus funktioniert, metaphorisch als »Markt« (120 u.ö.), auf dem »kulturelle Kompetenz« (19) im Sinne der Fähigkeit, die in den ›Werken‹ verschlüsselten Bedeutungen zu entschlüsseln, »als eine Art kulturelles Kapital fungiert, das, da ungleich verteilt, automatisch Distinktionsgewinne abwirft« (20, Fn. 3), indem es für die Konkurrenzfähigen eine Art differenzieller ›Kulturrente‹ abwirft (vgl. 145). Die Funktionsweise dieses Feldes von Verdrängung bedrohter Verdränger, auf dem »das kulturelle Kapital ein seinerseits beherrschtes Herrschaftsprinzip ist« (456), erklärt, »warum Kunst und Kunstkonsum sich […] so glänzend eignen zur […] Legitimierung sozialer Unterschiede« (27). Dieser Gebrauch von ›Kultur‹ spaltet diese in eine geistige (höhere) und eine materielle (niedere). Erstere trägt die Insignien der Freiheit, letztere der Notwendigkeit.
Bourdieu folgt der ›ständischen‹ Distinktion nicht nur in Stilfragen des Sprachgebrauchs, der Kleidung und Wohnungseinrichtung, sondern auch aufs Feld des Essens und Trinkens, auf dem ja Geschmack primär zuhause ist und an dessen zum ›immateriellen‹ Genuss vergeistigter Form sich die ›Gebildeten‹ erkennen, bei denen sich, »anders als beim Drauflos-Essen der popularen Kreise, das Hauptaugenmerk von der Substanz auf die Manier« verschiebt (26). Als Allegorie für die Klassenstruktur machen die Geschmacksunterschiede diese gerade darin unsichtbar, worin sie sich manifestiert.
Jede Erforschung dieses Zusammenhangs hat daher »jene sakrale Schranke niederzureißen, die legitime Kultur zu einer sakralen Sphäre werden lässt, um zu jenen verstehbaren Beziehungen vorzudringen, die scheinbar isolierte ›Optionen‹: für Musik und Küche, Malerei und Sport, Literatur und Frisur zu einer Einheit fügen.« (26)
Bourdieus von empirischer Evidenz überquellende Studie teilt mit vielen anderen Kulturstudien die Schwäche, die Kulturkategorien zu verwenden, ohne sie in Begriffe umzuarbeiten. Vom ersten Satz an unterstellt er »kulturelle Güter«, ohne auseinanderzulegen, was es damit auf sich hat und was sie als kulturelle von nicht-kulturellen Gütern unterscheidet. Seinem Selbstverständnis zufolge bringt er den »globalen ethnologischen Begriff von ›Kultur‹« (17) in Anschlag. Das enthebt ihn der Notwendigkeit, dem Kulturellen an der Kultur und damit zugleich der von der Prestige-Distinktion entfremdeten kulturellen Unterscheidung auf den Grund zu gehen. Dieses Versäumnis schlägt auf seine Darstellung zurück. Es höhlt den Sinn der kulturellen Phänomene aus. Nur deren leere Hülse bleibt zurück im Waffenarsenal bürgerlicher Geltungskonkurrenz. Fürs Kulturelle findet Bourdieu keine Sprache. Die kritischen Begriffe, die er systematisch entwickelt, beziehen sich ausschließlich auf jene gesellschaftlichen Geltungsfunktionen und -mechanismen, die er an seinem Material herausarbeitet.
Das Unterfangen von Kants Kritik der Urteilskraft ist also durch Bourdieus soziologische Metakritik keineswegs erledigt, nur dass die Neuaufnahme des kantschen Projekts durch deren Filter muss. Die Ordnung der Schönheit als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« und die der Freiheit als »Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz«32 umschreiben, wie Herbert Marcuse erkennt, »über das kantsche System hinaus das Wesen einer wahrhaft repressionsfreien Ordnung« (Triebstruktur, 154). Wenn nun, wie bei Friedrich Schiller, auf dieser Grundlage »die ästhetische Funktion zum zentralen Thema der Kulturphilosophie wird, so wird sie dazu gebraucht, die Prinzipien einer nicht-unterdrückenden Kultur darzustellen, in der Vernunft sinnlich ist und Sinnlichkeit vernünftig« (156), eine Perspektive, deren mögliche Wahrheit von der Wahrnehmung der Herrschaftsgrundlagen der ›Kultur‹ abhängt, von denen gesagt werden konnte: »Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.«33 Erst dann öffnet sich allen der Zugang zur »menschlichen Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit« (25/828). Bis dahin bleibt diese Perspektive eine Utopie, die, um nicht zur herrschaftsstabilisierenden Ideologie zu werden, die politisch-ökonomischen und ideologisch-kulturellen Grenzen kennen muss, die sie von ihrer Verwirklichung abschneiden.