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7. Valenzen des Schönen
ОглавлениеLe paradis est toujours à refaire
Paul Valéry, »Narcisse parle«
Welcher Platz gebührt der Schönheit in unserer Skizze des Kulturellen? Ohne Zweifel gehört sie zum Erwählten des kulturellen Unterscheidens. Warum, ist leicht einzusehen. Alle Menschen streben nach Glück. Und das Schöne, sagt Nietzsche, einen Satz Stendhals aufnehmend, »verspricht das Glück« (KSA 5, 349). Wenn die kulturelle Unterscheidung dem Schönen den Vorzug gibt, so nicht dem antagonistisch eingesetzten Pandora-Schönen der Warenwelt, das sich den Betrugskünsten verdankt; sondern ihr steht der Sinn nach »Schönheit ohne Lüge« (Bloch, Materialismusproblem, GA 7, 408) als dem verkörperten »inhärenten Maß« aller Dinge (Marx, I.2/241).
Auf die Frage nach einer Erklärung dieses Vorrangs der Schönheit in Begriffen seiner Kulturtheorie bleibt Freud die Antwort schuldig.56 Marcuse dagegen, der ihm in den Grundaussagen zunächst folgt, versteht sie auf den Spuren der idealistischen Utopie einer Versöhnung zwischen Vernunft und Sinnen. Zwischen dem Triebverzicht, der der Not gehorcht, und dem gegen die Vernünftigkeit des Verzichts subversiven Lustverlangen soll die Schönheit vermitteln. Die Begriffe »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« und »Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz«, mit denen er sie fasst, entlehnt er, wie wir gesehen haben, Kants Kritik der Urteilskraft. Aus den Worten, in denen Adorno das Scheitern der darin enthaltenen Utopie einer nicht-unterdrückenden Kultur an der gesellschaftlichen Realität verzeichnen wird, spricht noch immer ihr Uneingelöstes: »Die unstillbare Sehnsucht angesichts des Schönen57, der Platon mit der Frische des Zum ersten Mal die Worte fand, ist die Sehnsucht nach der Erfüllung des Versprochenen. Es ist das Verdikt über die idealistische Philosophie der Kunst, dass sie die Formel von der promesse du bonheur nicht einzuholen vermochte.« (Ästh. Theorie, 128)
Am Schönen und der an dieses sich klammernden Lust trennen sich die Wege. Es kann einschlagen wie eine Bombe ins falsche bourgeoise Leben, an das man sich gewöhnt hatte. Dann ist es »nichts / als des Schrecklichen Anfang«,58 unvereinbar mit den Logiken der Macht, des Geldes, der Reputation. Es wird zerstört, wenn diese zu seiner Eroberung eingesetzt werden. Und es zerstört, die um seinetwillen diese Logiken missachten.
Oder es lassen am Verlangen nach Schönheit die Menschen sich tiefer in die zwanghafte Kultur ziehen, wo sie, wie Marcuse sagt, »als die Werkzeuge und Opfer ihres eigenen Lebens funktionieren«. Dabei wird »die verdrängende und unterdrückende Kraft des Realitätsprinzips […] erneuert und verjüngt« und »durch ›schöpferische‹ Identifizierungen und Sublimierungen gestärkt, die den Haushalt der Kultur bereichern und gleichzeitig schützen« (Triebstruktur, 93). Marcuse bestreitet nicht Freuds Annahme von der Triebversagung im Fundament der Kultur. Doch er geht davon aus, dass die Produktivitätsentwicklung den »Verbrauch an Energie und Anstrengung zur Entwicklung eigener Hemmungen […] sehr verringert hat« (93). Die wachsende Kluft zwischen dem objektiv Möglichen und der durch den mechanischen Selbstlauf der hinter der Entwicklung herhinkenden Kultur aufgezwungenen Praxis haben nach seiner den »Goldenen Jahren« des Fordismus entstammenden Diagnose die »Verbindungen zwischen dem Einzelnen und seiner Kultur […] gelockert« (ebd.).59
Die entfremdete Kultur ist die für uns unverfügbare, die über uns verfügt. Doch Kultur hängt von Bedingungen ab. Zuletzt hält nicht die Kultur die Menschen gefangen, sondern die Bedingungen halten das Bedingte, die Ökonomie hält die Kultur gefangen und vermittels dieser die Menschen selbst.
Das Menschenwerk, das sich gegen die Menschen verselbständigt hat und sich ihnen gegenüber auf die Hinterbeine stellt, ist nicht das Kulturelle an der ›Kultur‹, sondern entspringt den historischen »Formen, denen es auf der Stirn geschrieben steht, dass sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozess die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozess bemeistert«; sie gelten dem »bürgerlichen Bewusstsein für ebenso selbstverständliche Naturnotwendigkeit als die produktive Arbeit selbst« (23/95f). Der Bann der entfremdeten Kultur verfügt, »die materiellen Produktionsbedingungen, die Bedingungen der Kultur als solche« (26.1/261) mit der Kultur selbst zu verwechseln. Das Gegenextrem, die Kultur für die Bedingung der Ökonomie zu halten, ist freilich nicht besser.
Brecht, Dichter der »Weltänderer«, holt die Perspektive zurück auf den Boden der Wirklichkeit. »Schön ist es, wenn man die Schwierigkeiten löst. Schön ist also ein Tun.« Und je nach Art der überwundenen Schwierigkeit ist dieses Tun »ganz verschieden schön und nicht ewig schön« (GA 21, 520; GW 20, 154). Schönheit ist nicht moralisch zu verstehen. In den Keunergeschichten bringt er sie mit Erfolg zusammen. »Herr K. sah eine Schauspielerin vorbeigehen und sagte: ›Sie ist schön.‹ Sein Begleiter sagte: ›Sie hat neulich Erfolg gehabt, weil sie schön ist.‹ Herr K. ärgerte sich und sagte: ›Sie ist schön, weil sie Erfolg gehabt hat.‹« (GW 12, 387) Die gleichsam vorkulturelle, ›animalische‹ Schönheit, deren Anziehungskraft er eine frühe Erzählung gewidmet hat, rückt bei dieser seiner ›kulturellen Unterscheidung‹ zwischen Schönheit und ›Schönheit‹ aus dem Bild. Auch wenn die Schönheit wie der Erfolg für ihn ein ›Werk‹ ist, wendet Brecht sich dagegen, die Kunst als »das Reich des Schönen zu bezeichnen«, und besteht darauf, sie als »ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit« zu respektieren, »welches weder verhüllte Moral, noch verschönertes Wissen allein ist, sondern eine selbständige, die verschiedenen Disziplinen widerspruchsvoll repräsentierende Disziplin.« (Messingkauf, GA 22.2, 755). Widerspruchsvolle Repräsentation – diese Formel wird uns bei der Analyse der Schicksale des Kulturellen weiterhelfen.