Читать книгу Die Geschichte Badens - Wolfgang Hug - Страница 24
|36|Bäuerliche Lebenswelt im Mittelalter
ОглавлениеAus dem weiten Zeitabstand der Gegenwart betrachtet scheint sich die bäuerliche Gesellschaft vom Frühmittelalter fast bis zur Industrialisierung wenig verändert zu haben. Das Bauerntum galt manchem Historiker geradezu als Modellfall einer »langen Dauer«. Aber statisch war die bäuerliche Bevölkerung auch im Mittelalter nicht. Die Veränderungen vollzogen sich allerdings langsam, manchmal wie die Oszillation der Wellen in einem letztlich gleich bleibenden Zustand des Ganzen.
»Verdorfung« – Bevölkerungswachstum
Die Agglomeration von Weilern zu Dörfern erfolgte in der Zeit der Karolinger und Ottonen, nicht zuletzt unter dem Druck der Bedrohung durch die Ungarn sowie aufgrund der zunehmenden Organisation des Landes durch Adel und Kirche. So entstanden die Haufendörfer des Altsiedellandes, Ursprünge der meisten bis heute bestehenden Orte in diesem Gebiet. Doch damit war die »Verdorfung« nicht abgeschlossen. Nach der Jahrtausendwende drangen Klöster, Adelsgeschlechter und Siedler in höhergelegene, ertragsärmere Zonen vor, machten den unwirtlichen Urwald, der die Hänge der Mittelgebirge überzog, in zäher Arbeit urbar. Den Bachläufen folgend erschlossen sie talaufwärts Schwarzwald und Odenwald. Orte mit den Endsilben -bach (-ach) oder -berg, -bronn, -stein sowie -wald oder -holz kennzeichnen die Lage solcher Orte in Ausbauzonen des Landes. An die Brandrodung erinnern Ortsnamen mit dem Suffix -brand, -reut, -schwand oder -schwend (von »schwenden« = zum Schwinden bringen). Auf Hochebenen oder Talmulden entstanden Orte auf -au (in der Verkleinerungsform und als Neutrum: »das Äule«) oder -boden. In sumpfigen Niederungen, vor allem am Rhein, gab es Orte auf -ried oder -moos bzw. mit der an den Wald (= Hardt) erinnernden Silbe hard/hart. Die Dörfer, die im Schwarzwald und Odenwald entstanden, haben die Form langgestreckter Talschaften oder zeigen, wenn sie wie im Nordschwarzwald ganz planmäßig angelegt wurden, das Bild eines Waldhufendorfes. Nur in einsamen Höhenlagen blieben Einzelhöfe ganz isoliert, nicht zuletzt die auf Milch- und Käsewirtschaft spezialisierten Schwaigen oder Schweigen. In aller Regel bildete das Dorf den Lebens- und Kommunikationsrahmen, der natürlich in Talschaften und Höhensiedlungen des Schwarzwalds weniger eng war als in der dichter besiedelten Ebene. Im Dorf war man daheim, und wenige kamen über den Kirchturmshorizont hinaus. Mobilität war ein Vorrecht von Adel und Geistlichkeit oder das Schicksal von Heimatlosen ohne Besitz, der Bettler und fahrenden Leute (und dazu zählte vermutlich ein gutes Zehntel der Bevölkerung). Die Ausweitung und Verdichtung der Siedlungen waren eine Folge des Bevölkerungswachstums, das vom 11. bis ins 14. Jahrhundert anhielt. Manche schätzen, dass die Bevölkerung der Region sich dank anhaltender Prosperität in dieser Zeit verdoppelt oder verdreifacht hat und auf dem demographischen Höhepunkt des Mittelalters vor 1350 eine viertel bis eine halbe Million Menschen umfasste. Zahl und Größe der Städte hatten in dieser Zeit besonders stark zugenommen. Trotzdem |37|lebten mehr als vier Fünftel der Menschen auf dem Land. Niemand hat die Menschen im Mittelalter gezählt, doch lassen alle Schätzungen eine Größenordnung erkennen, nach der die damalige Bevölkerungszahl in unserem Raum etwa ein Zehntel der heutigen betrug, im Frühmittelalter zunächst deutlich weniger, in der Stauferzeit mehr, im Spätmittelalter nach der Pestkrise zunächst erheblich weniger, allmählich wieder ein volles Zehntel. Bei etwa gleicher Siedlungsfläche und weitgehend gleich bleibender Zahl der Siedlungen bedeutet das, dass damals die Einwohnerzahlen von Dörfern und Städten etwa ein Zehntel der heutigen betrugen, dass der Nahrungsbedarf der Gesamtbevölkerung nur ein Zehntel (und weniger) als heute ausmachte, der Flächenertrag wohl bei einem Zehntel des heutigen lag und ähnliches mehr.
Die Grundherrschaft
Auf Grund und Boden beruhten im Mittelalter alle wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen und Aktivitäten. Die Grundherrschaft, deren Ursprung tief ins Frühmittelalter zurückreicht, regelte die Besitz- und Nutzungsrechte an Grund und Boden zwischen Grundherren und Grundholden. Das Prinzip war: Zum Grundholden wird der, der sich in die Huld eines Herrn begibt, der ihm Huldigung leistet und damit in seiner Huld steht. Die Huld begründet ein Abhängigkeits- und Schutzverhältnis auf der Basis wechselseitiger Treue.
Ursprünglich hatte es in der Alemannenzeit Freie, Halbfreie und Unfreie gegeben. Die Lage der Unfreien hatte sich unter dem Einfluss des Christentums bereits gebessert; freilich blieben sie dem Herrn, auf dessen Hof sie in der Regel lebten, zu unbedingtem Gehorsam und unbegrenzten Diensten verpflichtet. In der Karolingerzeit traten immer mehr freie Grundeigentümer ihren Besitz an größere Herren wie Abteien, Bistümer, Grafen und Ritter ab und begaben sich in deren Schutz und Abhängigkeit, in ihre »Huld«, teils um der Wehrpflicht zu entgehen, teils um sich ihr Seelenheil zu sichern, teils weil sie endlich befreit sein wollten von der täglichen Unsicherheit zum Beispiel »durch Anfeindungen boshafter Leute, die uns ausplündern«, wie es in einer Schenkungsurkunde für einen Hof bei Emmendingen heißt. Ihre Rechtsstellung verschlechterte sich, sie wurden »Hörige« oder Grundholden eines Grundherrn.
Die Besitzungen an Grund und Boden, die sich so bei Klöstern oder weltlichen Herren ansammelten, lagen aufgrund ihrer Herkunft nicht geschlossen beisammen, sondern bildeten in der Regel Streubesitz. Das veranlasste manchen Grundherrn, durch Kauf, Tausch, offenen oder verdeckten Druck Bauern zur Abtretung ihrer Höfe zu veranlassen und die Grundherrschaft sozusagen flächenhaft auszudehnen. Viele große Grundbesitzer gaben die Eigenwirtschaft auf ihren Herren- oder Fronhöfen nach und nach auf; dadurch konnten unfreie Knechte die Bewirtschaftung von Gütern übernehmen, wenn sie dafür entsprechende Abgaben und Dienste leisteten. Diese waren sozusagen das Entgelt der Hörigen bzw. Grundholden an den Grundherrn für die Nutzungsrechte an dessen Grundeigentum. Nicht wenige Unfreie wurden aufgrund ihrer Mitwirkung bei der Rodung von Neuland zu Hörigen der Klöster oder Adelsfamilien, unter deren Schutz das Land erschlossen wurde. All diese |38|Entwicklungen bewirkten eine gewisse Nivellierung der bäuerlichen Bevölkerung mit dem Ergebnis der »Vergrundholdung«: Freie wurden hörig, Unfreie stiegen in die Hörigkeit auf.
Grundlage dafür war das Prinzip der Grundherrschaft oder Feudalherrschaft, wie man sie seit dem 16. Jahrhundert bezeichnet. Sie stellt eine indirekte Form der Bodennutzung dar: Grundbesitz wurde vom Eigentümer nur in begrenztem Ausmaß selbst bewirtschaftet, während er am größten Teil seines Grundbesitzes nur ein Obereigentum geltend machte, ihn aber zur Bewirtschaftung an abhängige Bauern (Hörige bzw. Grundholden) vergab, die ihm dafür bestimmte (»gemessene«) Leistungen – Abgaben und Frondienste – zu erbringen hatten. Die Grundherrschaft schuf kein Pachtverhältnis, denn die dem Grundherrn hörigen Bauern waren ihm nicht nur bestimmte Zahlungen schuldig, sondern zu ganz verschiedenen Diensten und Naturallieferungen verpflichtet und unterstanden auch seiner Gerichtsbarkeit. Andererseits saßen sie auf ihren Höfen mit der dazugehörigen Hufe nicht nur auf eine vertraglich bestimmte Zeit, sondern auf Dauer, und sie hatten das Recht, Hof und Hufe zu vererben. Man spricht deshalb auch von der Erbzinsleihe, und in den Urkunden unserer Region werden die Grundholden im Lateinischen als heredites, als Erbleute bezeichnet. Sie waren also weder Knechte, noch Herren, sie waren Grundholden.