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Rechtsordnung und soziale Schichtung der Stadtbewohner
Оглавление»Stadtluft macht frei«
Der geringen Homogenität und relativ hohen Mobilität der Stadtbevölkerung stand ihre äußere und rechtliche Geschlossenheit, ja Gleichheit gegenüber. Die Mauer umgab die ganze Siedlung und gab allen gleichen Schutz, gleiche Sicherheit. Umgekehrt waren alle gemeinsam für Bau, Erhaltung und wenn nötig für die Verteidigung der Stadtbefestigung mitverantwortlich, wozu die Bürgerschaft nach Wohnvierteln oder Berufsgruppen (Zünften) eingeteilt wurde. Die Selbstverteidigung war Wurzel und Ausdruck der Selbstverantwortung der Bürger. Sie spiegelt sich auch in dem Satz »Stadtluft macht frei«, mit dem man seit dem 19. Jahrhundert die Rechtsposition der mittelalterlichen Bürger kennzeichnet. »Freiheit« meint hierbei, dass die Stadtbürger vor Gericht »frei« waren, d.h. nicht durch einen Herrn vertreten wurden und insofern auch keinen Herrn außer dem König über sich hatten.
Diese Vollform städtischer Freiheit galt im strengen Sinn zwar nur für die Reichsstädte, von denen es im badischen Raum ein knappes Dutzend gab. Aber der Rechtsstatus der Bürger in den Territorialstädten, die einem weltlichen oder geistlichen Stadtherrn unterstanden, war praktisch dem der Reichsstädter gleich. Außenpolitisch hatten die Reichsstädte mehr Spielraum als Landstädte. Andererseits konnten sie vom Reich jederzeit verpfändet werden, was sie faktisch auch unter die Hoheitsgewalt eines Landesherrn brachte. Nur bei den größeren Städten Konstanz, Überlingen, Breisach kam der Reichsstadtcharakter zum Tragen, während zum Beispiel Offenburg, Gengenbach, Zell am Harmersbach, Radolfzell, Pfullendorf Mosbach oder Sinsheim auch in den Perioden des Mittelalters, in denen sie reichsfrei waren, keine echte reichspolitische Rolle spielten. Einen städtischen Rat als Organ der Selbstverwaltung und der eigenen Gerichtsbarkeit gab es in Landstädten in gleicher Weise wie in den Reichsstädten; beide hatten auch Rad und Galgen für die Urteilsvollstreckung. Und für jeden, der »über Jahr und Tag« in einer Stadt wohnte, ohne dass ihn ein ehemaliger Herr zurückforderte, galt die rechtliche »Freiheit«, wie dies z.B. 1275 für Breisach ausdrücklich bestätigt wurde.
Der für alle Stadtbürger geltende freiheitliche Rechtsstatus bedeutete indes keineswegs politische und soziale Gleichheit. Die Oberschicht in den Städten, meist eine Minderheit von weniger als zehn Prozent, hatte bis ins 14. Jahrhundert unangefochten die politische Führung. In ihr waren Kaufmannsfamilien und Ministerialengeschlechter zum Patriziat verschmolzen. Besitz und Einkommen dieser Familien lagen, wie Steuerlisten zeigen, ein Vielfaches über dem der Mittelschicht. In Konstanz waren z.B. 40 Prozent aller Vermögenswerte in der Hand von nur zwei Prozent der |41|Familien in der Stadt. Der Reichtum beruhte vorwiegend auf Geschäftsgewinn aus dem Groß- und Fernhandel sowie aus dem Transportgeschäft. Dank ihrer wirtschaftlichen Basis waren Patrizier zumindest zeitweise vom Arbeitsplatz abkömmlich und konnten schon deshalb eher Ämter und Funktionen in der Stadt einnehmen als Leute aus anderen Schichten. Allerdings stand die Schicht der Kaufleute und Fernhändler mit der der Handwerker in engen Beziehungen, zumal in den vielen Kleinstädten. Hier überwogen die Handwerker und Kleinhändler alle anderen Gruppen. In größeren Städten machten dagegen die Leute der Unterschicht meist über die Hälfte der Bevölkerung aus. Hierzu gehörten die vielen, die für Lohn bei Kaufleuten oder in Handwerksbetrieben arbeiteten, auch Woll- oder Leineweber ohne eigene Werkstatt, Hilfsarbeiter, Fuhrleute, Schiffer und Treidler, Knechte und Mägde, Bettler, Scharfrichter und Abdecker und andere Angehörige »unehrlicher Berufe«, Dirnen, Spielleute und sonstiges »fahrendes Volk«.
Der Gegensatz von reich und arm war den Zeitgenossen wohl bewusst und taucht in den Quellen als stehende Wendung auf; doch polarisierte er die Stadtbevölkerung nicht zwangsläufig und wurde mental wohl auch kompensiert durch die Idealvorstellung einer prinzipiellen Rechtsgleichheit. Sie nützte freilich der Unterschicht wenig. Bei Wahlen kam sie nicht zum Zug, und für die Mitwirkung im Rat oder in städtischen Kommissionen fehlten ihren Leuten Erfahrung, »Hausmacht« und Abkömmlichkeit. Als Geschworene mussten sie Repressalien von Wohlhabenden fürchten. Insgesamt wissen wir über die konkreten Lebensverhältnisse der Armen wenig. Im Notfall kam ihnen wohl die Barmherzigkeit reicher Leute zugute. Wichtiger aber wurden soziale Einrichtungen von Stadt und Kirche.