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3. Tragische Anthropologie (Sophokles)
Оглавление„Viel des Unheimlichen ist, doch nichts
Ist unheimlicher als der Mensch.
Das jagt über das graue Meer
Vor dem winterlichen Föhn
Dahin unter stürzender Wogen
Gewölbe sicher ans Ziel.
Der Göttinnen heiligste, die Erde,
Die ewig quellende, die nie müde,
Quält er mit kreisendem Pfluge, jahrein jahraus
Wenden auf ihr die Gespanne.
(...) Sprache, der Gedanken Luftigen Hauch, und zu gesetzlicher Siedlung sanftwilligen Geist Bracht’ er sich bei, Und der Witterung Ungemach, Der klaren Kälten und des Regens Pfeile zu meiden, Der Nimmer-Verlegene: verlegen Geht er an kein Künftiges – vorm Tod allein Weiß er sich kein Entrinnen; Aus Siechtum letzter Not doch Sann er sich Wege.“ (Sophokles, Antigone, V. 332–341; 352–363).
Die Entstehung der Tragödie und mit ihr die des Dramas ist eine einzigartige griechische Erfindung. Die Tragödie hat ihren Ursprung in einem Fest zu Ehren des Gottes Dionysos, einem Gott der Vegetation, der Fruchtbarkeit und des Weines. Ihm zu Ehren traten im Frühjahr Chöre auf einem Platz auf, in dessen Mitte an einem Pfahl die Maske des Gottes befestigt war (Finley, 1976, 73). Im Laufe der Zeit trat ein Schauspieler hinzu, der mit dem Chorführer in einen Dialog trat (Schadewaldt, 1991, 47). Später wurde die Zahl der Schauspieler erhöht. Aus diesem Dialog entwickelte sich das Drama. Die auf diese Weise in Szene gesetzten Geschichten waren in der Regel dem Mythos entnommen und bildeten in Einzelfällen einen Sagenkreis, so die Orestie, die sich um die Heimkehr Agamemnons und seine Ermordung zentriert oder die, die das Schicksal des Labdakidenhauses (thebanischer Sagenkreis) thematisiert.
Nach verlorengegangenen Anfängen der Tragödie bei Thespis haben wir mit Perser von Aischylos (525/4–456/5), die im Jahre 472 aufgeführt wurde, die älteste uns erhaltene Tragödie. Bemerkenswert ist, dass ihr Stoff nicht dem Mythos entstammt, sondern der unmittelbar erlebten Geschichte. Sie thematisiert den gescheiterten Versuch des Perserkönigs Xerxes, Griechenland zu erobern. Aischylos, der selbst an den Kämpfen bei Marathon und Salamis beteiligt war, verleiht ihr alle Momente einer Tragödie: Die Überheblichkeit (hybris) des Königs, seinen maßlosen Eroberungswillen, seine Verblendung (ate), seine Verfehlung im Handeln und die unausweichliche, von den Göttern herbeigeführte Strafe. Bemerkenswert ist, dass Aischylos, der sich selbst auf der Seite der Sieger befindet, in seiner Darstellung Triumph, Häme und Spott gegenüber dem Feind vermeidet. Die Niederlage der Perser ist für ihn vielmehr ein Beispiel für ein tragisches Geschehen, das so oder ähnlich jederzeit Menschen zustoßen kann. Die ethische Konsequenz des Stückes besteht in der Warnung vor Hybris.
Sophokles (497/6–405), geboren im attischen Demos Kolonos, soll als Jüngling den Chor bei der Siegesfeier von Salamis angeführt haben. Sein Vater ließ ihn in Gymnastik, Musik und Tanz ausbilden. Sein Leben lang blieb er seiner Heimatstadt Athen eng verbunden. Im Seebund bekleidete er das Amt eines Bundesschatzmeisters (Hellenotamias) und in der athenischen Politik mindestens einmal das Amt des Strategen, zusammen mit Perikles. 468 errang er mit seiner ersten Tetralogie einen Sieg im tragischen Agon und entwickelte die Tragödie durch die Einführung eines dritten Schauspielers weiter. Sophokles war mit Herodot befreundet. Er verehrte Aischylos und zollte Euripides (485/4 oder 480–406), dem „tragischsten“ (Aristoteles) der Tragödiendichter, seine Anerkennung. Dessen Einflüsse auf sein Werk sind unverkennbar. Von Sophokles erhalten sind sieben Tragödien: Trachinierinnen, Aias, Antigone, Ödipus Tyrannos, Elektra, Philoktetes und Ödipus auf Kolonos.
Im Zentrum der Tragödien von Sophokles steht nicht der Charakter einer Person und auch nicht die Frage der moralischen Schuld, nicht einmal die Handlung, obwohl sie eine wichtige Rolle spielt und sich das Wort Drama von dem Wort Handlung ableitet. Thema der Tragödie ist ein tragisches Geschehen, eine Geschichte, in der das, von den Göttern den Menschen zugeteilte, Schicksal ebenso eine Rolle spielt wie das Handeln und das Leiden der in das Geschehen verwickelten Personen. Für Sophokles hat das Schicksal eine ebenso große Bedeutung wie die Personen, die mit ihrem Handeln eine Antwort darauf geben. Die Schicksalsschläge sind nicht immer als eine Strafe für eine Verfehlung desjenigen anzusehen, der sie zu erleiden hat. Vielmehr greift Sophokles einen Gedanken auf, den bereits Solon entwickelte: Das Schicksal erfüllt sich auch noch in der zweiten und dritten Generation. Es trifft bisweilen ein ganzes Geschlecht. Für den Betroffenen bekommt es daher einen unberechenbaren und irrationalen Charakter. Allerdings macht das Schicksal den Menschen nicht zu einer Marionette in den Händen der Götter. Der Mensch trifft seine eigenen Entscheidungen, seine Handlungen bleiben autonom. Nicht selten vollendet er selbst seinen Untergang durch einen Selbstmord.
Aristoteles hat in seiner Poetik der Tragödie einen bedeutsamen Abschnitt gewidmet. Er definiert sie so:
„Die Tragödie ist die Nachahmung einer edlen und abgeschlossenen Handlung von einer bestimmten Größe in gewählter Rede, derart, (…) daß gehandelt und nicht berichtet wird und daß mit Hilfe von Mitleid (eleos) und Furcht (phobos) eine Reinigung (katharsis) von eben diesen Affekten bewerkstelligt wird (…). Nachahmung der Handlung ist nun der Mythos“ (Aristoteles, Poetik, 1449 b, 11ff.).
In den Handlungen zeigen sich die Charaktere der Personen. Dargestellt wird in der Tragödie, wie eine Person, die keineswegs besonders schlecht ist, sondern „dem Zuschauer ähnlich“, durch einen „großen Fehler“ ins Unglück stürzt. Bei dem tragischen Geschehen handelt es sich um ein Ereignis, das so oder ähnlich Menschen zustoßen kann. Es thematisiert die Situation des Menschen in einem allgemeinen Sinn. Aristoteles hält daher die tragische Dichtung, wie Dichtung überhaupt, im Unterschied zur Geschichtsschreibung, die stets nur von besonderen Ereignissen berichtet, für „philosophischer und bedeutender“. Nur dadurch, dass der Zuschauer das Geschehen auf der Bühne unmittelbar auch auf sich beziehen kann, entstehen Furcht und Mitleid bei ihm.
Bei ihrer Erzeugung spielen drei Momente eine entscheidende Rolle. Es sind: Peripetie, Entdeckung und Pathos. Aristoteles erläutert sie am Beispiel der Ödipus-Tragödie von Sophokles. Die Peripetie ist der „Umschlag der Handlung in ihr Gegenteil“, d.h. der Umschlag von Glück in Unglück. Entdeckung ist der „Umschlag aus Unwissenheit in Erkenntnis“. In der Ödipus-Tragödie fällt beides zusammen. Die ‚Entdeckung‘, dass Ödipus unwissentlich eine Frau heiratete, die seine Mutter war, und dass er im Streit einen Mann erschlug, der, wie sich später herausstellt, sein Vater war, bedeutet zugleich eine ‚Peripetie‘ der Handlung, d.h. die Herbeiführung der Katastrophe. An sie schließt sich das dritte Element an, das ‚Pathos‘. Aristoteles definiert es so. „Pathos ist eine zum Untergang führende oder qualvolle Handlung, wie etwa Tod auf der Bühne, Schmerzen, Verwundungen und dergleichen“ (ebd. 1452b, 9ff.).
Ödipus zieht aus der Katastrophe selbst die Konsequenz; er blendet sich und leitet diese Tat mit folgenden Worten ein:
„O Licht! Zum letzten Mal hätt ich dich jetzt gesehn,/Der ich zu Tage trat: entstammt, von wem/Ich nicht gesollt – mit wem ich nicht gesollt,/Zusammenlebe – und wen ich nicht gedurft, erschlug!“ (Sophokles, 1973, 57).
Den Schluss der Tragödie bildet der Epilog des Chores, der die Lehre aus dem tragischen Geschehen zu ziehen sucht. Er lautet:
„Bürger in dem Lande Theben! Sehet, dieser Ödipus,/Der die berühmten Rätsel löste und ein Mann vor allen war,/Er, auf dessen Glück – wer von den Bürgern nicht mit Neid geblickt:/In welch große Woge schwerer Schickung er geriet!/Darum blicke man bei jedem, der da sterblich, auf den Tag,/Der zuletzt erscheint, und preise selig keinen, ehe er denn/Durchgedrungen bis zum Ziel des Lebens, nie von Leid berührt“ (ebd. 70).
Die Lehre, die der Zuschauer auf sich zu beziehen hätte, lautet: Bedenke, dass du sterblich bist und dass dich bis zu deinem Tode jederzeit Schicksalsschläge treffen können!
Die Aussagen von Aristoteles zur Tragödie haben bis in die Gegenwart hinein ihre Bedeutung behalten. So schließt der Altphilologe Albin Lesky mit seiner Charakteristik direkt an ihn an. Nach ihm gehören drei Elemente zur Tragödie: Das erste ist die „Dignität des Falles“, d.h. dass es sich bei dem „tragischen Helden“ um einen Menschen handelt, dessen Sturz eine gewisse Fallhöhe zur Voraussetzung hat; das zweite ist die „Beziehungsmöglichkeit auf unsere eigene Welt“, d.h. die Vermittlung des Gefühls „Nostra res agitur“ und das dritte ist, dass der „Träger des tragischen Geschehens“ weiß, was mit ihm geschieht und nicht als ein „willenloses Opfer dumpf und stumpf zur Schlachtbank geführt wird“ (Lesky, 1984, 21ff.). Ähnlich äußert sich Vernant, ein französischer Forscher der antiken Religionen. Er sagt: „In der durch das Drama eröffneten Debatte wird die Stellung des Menschen selbst zum Problem, wird das Rätsel des menschlichen Daseins dem Publikum aufgegeben, ohne daß die immer wieder aufgenommene und nie abgeschlossene tragische Suche je eine definitive Antwort liefern und die Frage zum Verstummen bringen könnte“ (Vernant, 1987, 198).
Im Folgenden soll die aus diesen Interpretationen sich ergebende tragische Anthropologie am Beispiel der Tragödie Antigone von Sophokles erläutert werden. Sie entstammt dem thebanischen Sagenkreis mit folgendem Inhalt: Laios, Sohn des Labdakos, erhielt von den Göttern das Verbot, Nachwuchs zu zeugen. Dem Verbot zum Trotz entstammte seiner Ehe mit Iokaste ihr Sohn Ödipus. Dessen Kinder waren Polyneikes, Eteokles, Antigone und Ismene. Das Schicksal von Laios, Ödipus und Iokaste ist Thema von König Ödipus, das von Antigone und Ismene Gegenstand der Antigone und das von Polyneikes und Eteokles behandelt die Tragödie von Aischylos Sieben gegen Theben. Ihr Schicksal erfüllt sich als Geschlechterfluch. Er vollzieht sich als eine Folge von Katastrophen: Laios wird von seinem Sohn Ödipus erschlagen, Iokaste erhängt sich, Ödipus blendet sich, Polyneikes und Eteokles töten sich im Kampf um Theben gegenseitig und auch Antigone erhängt sich. Lediglich Ismene überlebt.
Die Tragödie Antigone, deren Uraufführung in das Jahr 442 fällt, schließt thematisch an den Kampf um Theben an. Die Stadt hat sich gegenüber ihren Angreifern, unter ihnen Polyneikes, verteidigen können, Kreon, ihr König, feiert seinen Triumph. Eteokles, der zu den Verteidigern gehörte, wird ehrenvoll bestattet, sein Bruder Polyneikes dagegen soll auf ausdrücklichen Befehl Kreons unbeerdigt bleiben, „zum Fraße/Für Hund und Vogel“.
Dieses grausame Verbot löst bei Antigone Entsetzen und Empörung aus. Sie ist nicht bereit, ihm zu folgen und versucht ihre Schwester Ismene davon zu überzeugen, gemeinsam die Bestattung vorzunehmen. Doch die lehnt ab. Zwar hält auch sie das Verbot für verwerflich, doch sei Auflehnung gegen den König nicht gestattet. So nimmt Antigone alleine eine symbolische Bestattung vor, indem sie den Leichnam des Bruders mit Staub bedeckt. Sie bleibt zunächst unentdeckt, beim zweiten Mal jedoch wird sie ergriffen und vor Kreon gebracht. In dem nun zwischen ihnen sich entwickelnden Streitgespräch vertritt Kreon zwei Argumente: Zum einen sein Verbot, zum zweiten aber das von Zeus zur Geltung gebrachte Prinzip des Rechts, das vorschreibt, den Verteidiger der ‚polis‘ zu ehren, nicht aber ihren Feind.
Antigone hält dagegen. Sie weist ausdrücklich daraufhin, dass sie sich nicht auf „Zeus“, „noch Dike in der unteren Götter Rat“ (Sophokles, Antigone V. 451) berufe, sondern dass es ein älteres Recht gebe, das noch über das von Zeus hinausgehe. Es ist das „ungeschriebne,/Untilgbare der Götter“, und das verlangt die Bestattung der Toten. Antigone wird daraufhin von Kreon zum Tode verurteilt und mit ihr Ismene, die herbeigerufen, sich mit ihrer Schwester solidarisiert und ebenfalls die Schuld auf sich nimmt. Schließlich wird jedoch nur Antigone auf Lebenszeit in ein Verlies gesperrt, Ismene dagegen, nach Einspruch des Chores, entlassen.
Ein zweites Streitgespräch entwickelt sich zwischen Haimon, dem Sohn Kreons und Verlobten Antigones. Sein Argument ist politischer Natur. Er hat vernommen, „wie sich die Stadt um dieses Mädchen härmt“ (ebd. V. 693). Die Bürger in der Stadt verurteilen Kreons Handeln. Doch der beruft sich auf sein Recht als Herrscher. Darauf erwidert Haimon: „Staat ist nicht, was eines einzigen ist“ und „Alleinherrschaft ist gut Ding über Wüsten“ (ebd. V. 737ff.). Erst als Teiresias, der Seher, Kreon großes Unheil ankündigt, lenkt dieser ein. Er lässt Polyneikes bestatten und eilt in das Verließ, um Antigone freizulassen. Doch ihm bietet sich ein grässliches Bild. Antigone hat sich erhängt, Haimon erstochen, und schließlich erfährt er, dass auch seine Frau Euridyke sich selbst tötete. Kreon bleibt als gebrochener Mann allein zurück.
Nach der Interpretation von Aristoteles ist das Schicksal von Antigone deshalb tragisch, weil sie aufgrund einer „edlen Handlung“, hier der Bestattung ihres Bruders, ins Unglück stürzt. Deshalb trägt die Tragödie ihren Namen und nicht den Kreons. Die Tragödie thematisiert zwei Konflikte. Es ist zum einen der zwischen Antigone und Kreon ausgetragene. In ihm geht es um das von Antigone vertretene Recht der uralten matriarchalisch bestimmten Gottheiten, zu denen auch Hades gehört. Er erhebt einen Anspruch auf die Toten. Kreon dagegen beruft sich auf die neueren, olympischen Götter unter der Führung von Zeus. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Sophokles eine Frau zur Vertreterin des alten matriarchalischen Rechts macht und zugleich zur Titelheldin, begleitet und schließlich unterstützt von ihrer Schwester Ismene.
Der zweite Konflikt, der zwischen Kreon und seinem Sohn Haimon ausgetragen wird, thematisiert den Bereich der Politik. Hier steht das Konzept absoluter Alleinherrschaft, d.h. der Tyrannis, einem Verständnis von Politik gegenüber, nachdem diese eine gemeinsame Angelegenheit ihrer Bürger ist. Die Tragödie behandelt nicht, wie Hegel meinte (Hegel, 1970, 13, 287), den Konflikt zwischen dem Recht der Familie gegenüber dem des Staates, sondern das Recht der ‚polis‘ gegenüber der Willkür eines Tyrannen. Tragisch ist das Schicksal von Kreon, weil er im Zustand der Verblendung (ate) handelte und seinen Fehler zu spät erkannte.
Die Antigone ist Beispiel einer tragischen Anthropologie. In dem berühmt gewordenen Chorlied am Ende des ersten Auftritts (vgl. Text) entwirft Sophokles Grundzüge seiner Anthropologie. Es ist der verfremdete Blick auf die Situation des Menschen. Er ist bestimmt durch eine Mischung aus Bewunderung und Beklemmung. Das zeigen schon die ersten Zeilen: „Viel des Unheimlichen ist, doch nichts/Ist unheimlicher als der Mensch.“ Der Mensch ist ‚deinos‘, d.h. unheimlich, furchtbar, schrecklich, seltsam, gewaltig, tüchtig, geschickt u.a.m. In zahlreichen Beispielen werden der Mut, der Erfindungsreichtum und die Klugheit des Menschen mit Staunen zur Kenntnis genommen. Es beginnt mit dem Hinweis auf die gefährliche Seefahrt und die mühselige Landwirtschaft. Vogel- und Fischfang schließen sich an, dazu die Zähmung wilder Tiere. Der Mensch erfindet die Sprache und schützt sich vor der Witterung. Politik und Recht garantieren ein gutes Zusammenleben. Selbst gegen Krankheiten findet er Auswege. Jedoch, und damit nennt Sophokles die alles entscheidende Einschränkung: „vorm Tod allein/Weiß er kein Entrinnen.“ Der Tod stellt all die bewunderungswürdigen menschlichen Errungenschaften wieder in Frage. Er stellt das unausweichliche Schicksal dar, das jeden ereilt. Sophokles bestätigt damit die anthropologische Grundaussage der griechischen Mythologie: Die Menschen, das sind die Sterblichen. Ein elegischer Ton gibt dem Gedicht im Ganzen eine dunkle Färbung. Zurück bleibt ein Gefühl der Trauer.
Die Frage der Ethik entzündet sich am Verhältnis von Schicksal und Freiheit. Wäre das Leben der Menschen schicksalhaft determiniert, gäbe es keinen Anhaltspunkt für eine Ethik. Aber tatsächlich vereitelt das Schicksal nicht die eigene Entscheidung und das überlegte Handeln. Es provoziert dieses vielmehr. Mehr noch: Für Antigone geht ihr Handeln ihrem Schicksal voraus. Sie kennt die Konsequenzen der Übertretung des Verbots und nimmt die vorhersehbare Strafe in Kauf. Und selbst den Vollzug der Strafe lässt sie nicht über sich ergehen, sondern sie kommt ihm durch Selbstmord zuvor. In König Ödipus ist die Lage freilich verwickelter. Ödipus kennt die Weissagung, die ihm Vatermord und Inzest voraussagt, und versucht durch das Verlassen seiner vermeintlichen Eltern, dem zu entkommen, allerdings vergeblich. Entscheidend aber ist, er fügt sich nicht willenlos seinem Schicksal, sondern handelt so, wie es ihm bei Kenntnis seiner Situation sinnvoll erscheint.
Unter der Voraussetzung eigener Entscheidungen und Handlungen ergibt sich allerdings die Frage der Schuld. Für das Verständnis dieses Begriffs ist es sinnvoll, auf die griechische Bedeutung des Wortes zu achten. Das griechische Wort ‚aitia‘ bedeutet: Ursache, Grund, Anlass, Schuld, Beschuldigung, Vorwurf, Anklage. In diesem breiten Bedeutungsspektrum kommt der ersten eine tragende Rolle zu. ‚Aitia‘ ist die Ursache für ein Ereignis. Bei einer Handlung ist es der Handelnde. Der Akzent liegt dabei auf der Objektivität der Tat (Hegel). Ödipus ist schuld am Tod seines Vaters, auch wenn er ihn, wie berichtet wird, in Notwehr erschlagen hat. Die besondere Schuld ergibt sich im Übrigen nicht daraus, dass er im Streit einen Mann erschlug, sondern daraus, dass es sein Vater war. Er ist schuld am Inzest mit seiner Mutter, weil er sie geheiratet hat, auch wenn er nicht wusste, dass die Frau, die er heiratete, seine Mutter war. Die Betonung der Objektivität der Tat ist das Kennzeichen archaischen Rechtsdenkens. Dies verändert sich erst im Zeitalter der Sophistik. Nun werden stärker Motive, Absichten und Wissen bei der Beurteilung von Schuld berücksichtigt. Die Tragödie dagegen lebt von dem Gedanken einer unwillentlich und unwissentlich entstandenen Schuld.
Die Tragödie betont schließlich die Ethik des Maßes. Dieses Maß hat Kreon überschritten, als er sich über uraltes göttliches Recht hinwegsetzte und über das Recht seiner Mitbürger. Die Strafe für diese Missachtung ist nicht nur der Verlust seines Sohnes und seiner Ehefrau, sondern auch der Verstoß aus der ‚polis‘. Schwieriger zu beurteilen ist das Handeln von Antigone und Ismene. Obwohl Sophokles Antigone zur Titelheldin macht, bedeutet das nicht, dass er ihr Handeln billigt. Auch sie überschreitet ein Maß und endet tragisch. Eine Ethik des Maßes vertritt dagegen Ismene. Sie gehorcht dem Verbot aus Überzeugung, nicht aus Angst; denn im entscheidenden Moment ist sie bereit, mit Antigone in den Tod zu gehen.
Die Wirkungsgeschichte der griechischen Tragödie umfasst einen wesentlichen Teil der Geschichte des europäischen Dramas. Dabei wurden in vielen Fällen die antiken Stoffe in die eigenen zeitgeschichtlichen Kontexte versetzt und neu inszeniert. Das reicht von Goethes Iphigenie bis hin zu Sartres Die Fliegen. Das bürgerliche Trauerspiel, das auf den mythologischen Hintergrund verzichtet, ist in der Zeit von 1750–1850 eine deutsche Variante der Tragödie. Innerhalb der Philosophiegeschichte könnte man versucht sein, in Schopenhauers Pessimismus eine Erneuerung des tragischen Denkens zu sehen. Doch der Schein trügt. Schopenhauers Philosophie ist eine Antwort auf Leibniz’ Optimismus (vgl. Kap. IX, 1), d.h. seiner These, wir lebten in der besten aller möglichen Welten. Doch die Tragödie beschreibt nicht den Zustand der Welt, sondern ein tragisches Geschehen. Auch geht es ihr nicht, wie bei Schopenhauer, um Vermeidung von Leid, sondern um die Einsicht, dass Handeln und Leiden sich gegenseitig bedingen und unvermeidbar sind. Anders ist das Denken von Nietzsche (vgl. Kap. IX, 3) zu beurteilen. Als Altphilologe hat er sich intensiv mit der Tragödie auseinandergesetzt und den Versuch unternommen, als Alternative zum Christentum und zur Philosophie seiner Zeit, eine tragische Anthropologie zu entwickeln. Allen ethischen Glücksversprechen misstrauisch gegenüber, sah er im Akzeptieren des Leidens die Bedingung für die Verwirklichung von Individualität.