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1. Psyche und Soma (Platon)

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„Laßt uns nun (…) zu uns selbst aber sagen, ob wir wohl glauben, daß der Tod etwas sei? – Allerdings, fiel Simmias ein. – Und wohl etwas anderes als die Trennung der Seele von dem Leibe? Und daß das heiße tot sein, wenn abgesondert von der Seele der Leib für sich allein ist und auch die Seele abgesondert von dem Leibe für sich allein ist. Oder sollte wohl der Tod etwas anderes sein als dieses? – Nein, sondern eben dieses. – (…) Scheint dir, daß es sich für einen philosophischen Mann gehöre, sich Mühe zu geben um die sogenannten Lüste, wie um die am Essen und Trinken? (...) Oder um die aus dem Geschlechtstriebe? – Keineswegs. – Und die übrige Besorgung des Leibes, glaubst du, daß ein solcher sie groß achte? (…) Verachten, dünkt mich wenigstens, wird es der wahrhafte Philosoph. Dünkt dich also nicht überhaupt eines solchen ganze Beschäftigung nicht um den Leib zu sein, sondern soweit nur möglich von ihm abgekehrt und der Seele zugewandt? – Das dünkt mich. – Also hierin zuerst zeigt sich der Philosoph als ablösend seine Seele von der Gemeinschaft mit dem Leibe vor den übrigen Menschen allen? – Offenbar. (…)“ (Platon: Phaidon, 64 b–65 a).

Platon wird 428/27 v. Chr. in Athen geboren. Seit 407 v. Chr. ist er Schüler von Sokrates. Nach dessen Hinrichtung im Jahre 399 reist er nach Megara zu Euklid und studiert dessen Mathematik. 389 reist er nach Syrakus, Sizilien, vielleicht auch nach Ägypten und Kyrene. In Italien bekommt er Kontakt mit dem Pythagoreer Archytas von Tarent. 387 gründet er die Akademie, eine philosophische Schule in einem Hain außerhalb Athens. 367 und 361 erfolgen zwei weitere Reisen nach Sizilien, auf denen er vergeblich versucht, die Tyrannen Dionysios I. und II. von dem Konzept eines auf philosophischen Prinzipien gegründeten Staates zu überzeugen. Er stirbt im Jahre 347 v. Chr. in Athen (vgl. Martin, 1983; Pleger, 2009).

Die traditionelle Unterscheidung von ‚psyche und soma‘, wie sie von Homer her in das griechische Leben eingedrungen ist, spielt auch im Werk Platons eine zentrale Rolle. Bemerkenswert ist jedoch, dass Platon im Laufe seines Schaffens zahlreiche Umdeutungen vornimmt. So ist ihre Interpretation in seinem Frühwerk, dem auch die Apologie angehört, eine andere als in seinen mittleren Schriften, etwa dem Phaidon. Es ist eine immer wieder diskutierte Frage, inwieweit die in der Apologie mitgeteilte Rede auf Sokrates selbst zurückgeht und inwieweit sie das Werk Platons ist. Die Ausführungen zu dem Verhältnis von ‚psyche und soma‘ bieten für ihre Beantwortung einen bemerkenswerten Hinweis.

In der Darstellung seiner Lebensweise betont Sokrates, dass er seine Mitbürger davon zu überzeugen suche, nicht als erstes an den „Leib“ zu denken, sondern vielmehr an die „Seele, daß diese aufs Beste gedeihe“ (Apologie, 30 b). Die Unterscheidung von Leib und Seele setzt er dabei als selbstverständlich voraus. Sein vielleicht nicht selbstverständliches Plädoyer betrifft die These, dass die „Sorge für die Seele“ (epimeleia tes psyches) einen absoluten Vorrang habe vor dem leiblichen Wohl. Während derjenige, der den Leib im Blick habe, sich um die Vermehrung seines Geldes bemühe und um ‚Ruhm und Ehre‘, sorge sich derjenige, der sich vor allem um die Seele kümmere, um Einsicht, um die Erkenntnis der Wahrheit und um die Tüchtigkeit (Tugend) der Seele. Ziel sei ihre ‚beste Verfassung‘, und dazu gehöre vor allem die Gerechtigkeit.

Im Vergleich zu Homer wird dabei zweierlei deutlich: zum einen, dass die bei ihm anzutreffende geringe Wertschätzung der Seele bereits überwunden wurde und zum anderen, dass ‚soma‘ nun nicht mehr ‚Leichnam‘ bedeutet, sondern ‚lebendiger Leib‘. Die eigentümliche Stellung, die Sokrates hier zwischen Homer und den späteren Schriften Platons einnimmt, zeigt sich in der Frage der Beurteilung des Todes. Sokrates vertritt einen bemerkenswerten Agnostizismus. Er argumentiert so: Wir wissen nicht, was uns nach dem Tod erwartet. Denkbar sind zwei Möglichkeiten: Entweder ist der Tod wie ein langer, traumloser Schlaf, und dann ist das ein Zustand, der im Vergleich zu dem Schlaf in der Lebenszeit, der oftmals durch aufreizende und beunruhigende Träume bestimmt ist, nicht zu fürchten ist. Gibt es aber tatsächlich den Hades mit seinem Totengericht, in dem jeder nach dem Maßstab der Gerechtigkeit gerichtet wird, so hat ein gerechter Mann ebenfalls nichts zu fürchten; im Gegenteil: Er bekommt nun die Gelegenheit, mit all den verstorbenen, berühmten Männern zusammenzutreffen und sich mit ihnen zu unterhalten. So oder so, ein gerechter Mensch hat den Tod nicht zu fürchten. Und schließlich steht für Sokrates nicht einmal fest, ob den Toten gegenüber den Lebenden nicht sogar das bessere Los zuteil wird (ebd. 42 a).

Es gibt in der Apologie nicht einen einzigen Anhaltspunkt für einen Unsterblichkeitsbeweis der Seele, wie ihn Platon im Phaidon entwickelt. Es ist aber nicht anzunehmen, dass Platon seinem Lehrer Ansichten in den Mund legt, die weder dieser noch er selbst vertreten hat. Daher spricht sehr viel für die Annahme, dass Sokrates tatsächlich eine agnostische Haltung eingenommen hat (vgl. Pleger, 1998, 78).

Die Argumentation ändert sich im Dialog Phaidon völlig. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass Platon in der Zwischenzeit auf seinen Reisen nach Süditalien die Lehren des Pythagoras kennenlernte. Sie betrafen die Musik und Mechanik, Arithmetik und Geometrie, vor allem aber den Gedanken der Unsterblichkeit der Seele. Zweifellos hat dabei seine Begegnung mit Archytas von Tarent, mit dem er in Unteritalien zusammentraf, eine große Rolle gespielt.

Der Dialog Phaidon hat als Ausgangspunkt den letzten Tag im Leben von Sokrates, den Tag seiner Hinrichtung Er hat darin seinen historischen Bezug. Tatsächlich aber gibt diese lebensweltliche Situierung Platon die Gelegenheit, seine eigenen Ansichten über das Verhältnis von ‚psyche und soma‘ darzustellen. Nichts davon geht auf den historischen Sokrates zurück (vgl. ebd. 100ff.).

Der platonische Sokrates stellt zu Beginn des Dialogs die These auf: Derjenige, der sich auf die rechte Art mit der Philosophie befasst, hat kein anderes Ziel als zu sterben und tot zu sein (Phaidon, 64 a). Philosophie ist demnach eine Kunst, das Sterben zu lernen. Die Begründung für diese These sieht er in der Definition des Todes: Der Tod ist die Trennung von Leib und Seele. Diese Trennung ist wünschenswert, denn durch sie wird die Seele von all den Widrigkeiten des Leibes befreit und ist nun ganz bei sich selbst. Worin bestehen diese Widrigkeiten? Es sind „tausenderlei Übel“: Hunger, Krankheit, sexuelle Gelüste, Begierden allgemein, Furcht und Krieg u.v.a.m. Die Seele hat es dagegen mit dem Denken zu tun, mit der Erkenntnis der Wahrheit, mit dem Schönen selbst, mit der Gerechtigkeit selbst, kurz, mit der Idee des Guten. Und indem sie sich ganz auf diese Bereiche konzentriert, reinigt sie sich von all dem „Schmutz“, der sie durch die Berührung mit dem Leib verunreinigt. Deshalb heißt Philosophieren „Sterben lernen“.

Aber der Philosoph ist vor anderen Menschen dadurch ausgezeichnet, dass er bereits zu seinen Lebzeiten diese Trennung erreichen kann. Dies geschieht dadurch, dass er sich sein Leben lang auf den Bereich des Denkens konzentriert und alles Leibliche verachtet und meidet. Aber ist das möglich? Es ist möglich, wenn der Nachweis gelingt, dass die Seele wirklich eine unabhängig vom Leibe existierende Einheit des Seins darstellt. Und dieser Nachweis ist dann erbracht, wenn gezeigt werden kann, dass die Seele auch ohne den Leib, d.h. auch nach ihrer Trennung von ihr im Tode, weiterbesteht. M.a.W. der Beweis der Unsterblichkeit der Seele eröffnet nicht nur dieser eine Fortexistenz über den Tod hinaus, sondern hat bereits für den Lebenden die Bedeutung des Nachweises der Selbständigkeit und Autonomie der Seele.

Beide Aspekte sind bei den nun folgenden Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele zu beachten. Genau genommen handelt es sich jedoch nicht um Beweise, sondern um Argumente, denn selbst der platonische Sokrates verleiht ihnen keine letzte Beweiskraft. Sokrates entwickelt insgesamt vier Argumente für die Unsterblichkeit der Seele und widerlegt zwei Einwände seiner Gesprächspartner Simmias und Kebes, die beide Pythagoreer sind.

Der erste Argumentationsgang schließt an eine Frage an, die Kebes vorbringt: Könnte es nicht sein, dass sich die Seele beim Tode nicht nur vom Leibe trennt, sondern anschließend sich auflöst „wie ein Hauch oder Rauch“ und dann „zerstoben ist und verflogen und nirgends mehr ist“ (ebd. 70 a)? Gegen dieses Argument stellt Sokrates eine „alte Lehre“, nach der die Seele der Verstorbenen in den Hades eingeht, aber von dort auch wieder zurückkehrt und wiedergeboren wird. Und diesem Kreislauf von Leben und Tod entspricht ein universales Prinzip der Natur. Überall verwandelt sich das Eine in sein Gegenteil: Das vorher Größere wird ein Kleineres, das Stärkere ein Schwächeres, das Bessere ein Schlechteres u.v.a.m. Diese Umwandlungen finden stets in beide Richtungen statt. Und daher müssen wir annehmen, dass nicht nur das Leben in den Tod übergeht, sondern dass umgekehrt, das Tote in das Lebende sich verwandelt, d.h. dass dem Sterben einerseits, ein „Aufleben“ (ebd. 71 e) andererseits entsprechen muss. Denn gäbe es nur die eine Richtung, dann wäre schließlich alles tot. Es handelt sich um ein naturphilosophisches Argument, das an die Lehre eines Anaximander und eines Heraklit anschließt.

Das zweite Argument thematisiert die Anamnesislehre, die Platon in seinem Dialog Menon eingeführt hatte. Nach ihr bedeutet alles Lernen nur Wiedererinnerung eines vorgeburtlichen Wissens. Erläutert wird dieser Gedanke an folgendem Problem: Wie können wir die Frage beantworten, ob zwei Dinge gleich groß sind, wenn wir nicht wissen, was überhaupt das Gleich-Sein bedeutet und was Groß-Sein? Die Idee der Gleichheit und die der Größe setzen wir immer schon voraus. Wir können die Gleichheit zweier Gegenstände nicht aus der sinnlichen Erscheinung der Gegenstände selbst ableiten, weder aus jedem Einzelnen, noch aus beiden zusammen. Bei der Idee der Gleichheit wie der Größe handelt es sich um ein Wissen, das wir auf sinnliche Gegenstände beziehen, aber nicht von ihnen ablesen. Wenn wir dieses Wissen nicht aus dem Umgang mit den sinnlichen Gegenständen gewonnen haben können, müssen wir es schon bei der Geburt mitgebracht haben, und das heißt, es gibt ein Wissen, über das die Seele bereits vor ihrer Geburt verfügt. Das bedeutet aber auch, dass die Seele vor der Geburt des Menschen, dem sie zugehört, existierte.

Aber wie steht es mit ihrer Fortexistenz nach dem Tode? Um diese Frage zu beantworten, wird ein weiterer Argumentationsgang nötig. Das Kriterium, das nun eingeführt wird, besteht in der Unterscheidung des Zusammengesetzten von dem Einfachen. Zweifellos sind die sichtbaren Dinge, d.h. die, die man mit den Sinnen wahrnimmt, zusammengesetzt: also „Menschen, Pferde, Kleider“ u.ä. Diese ändern sich fortwährend. Die unsichtbaren Dinge dagegen gehören einem Bereich an, der sich nicht ändert, sondern sich gleich bleibt. Die unsichtbaren Dinge erschließen sich nur dem Denken. Zu ihnen gehört das Vernünftige, Einfache, Unsterbliche, Göttliche, Unauflösliche. Der Leib gehört zweifellos dem Bereich des Sinnlichen, Zusammengesetzten und Veränderlichen an; die Seele dagegen dem Einfachen und Unveränderlichen. Sie ist daher dem Unveränderlichen, Göttlichen und Unsterblichen „ähnlich“; und wenn es so ist, kommt es ihr dann nicht zu – so das Argument von Sokrates – „ganz und gar unauflöslich zu sein oder wenigstens beinahe so?“ (ebd. 80 b). Alles Zusammengesetzte löst sich auf und vergeht, das Einfache ist dagegen unauflöslich, unvergänglich, unsterblich. Also ist die Seele, die einfach ist, unsterblich.

Die Seele, die sich schon in der Zeit ihrer Verbindung mit dem Leibe von diesem gelöst hat, gelangt nach dem Tode zu dem ihr Ähnlichen, um dort „glückselig zu sein“ (ebd. 81 a). Die Seelen aber, die sich zu sehr mit dem Leiblichen eingelassen haben, mit ihm „gleichsam zusammengewachsen“ sind, sind gezwungen, nach ihrer Wiedergeburt sich mit einem neuen Leib zu verbinden, in dem die ehedem gepflegten Lüste vorherrschen, mit einem „Esel“, einem „Wolf“, einem „Habicht“ oder einem „Geier“.

Der vierte Argumentationsgang antwortet auf zwei Einwände. Der erste betrifft die Frage der Autonomie der Seele gegenüber dem Leib. Ist es nicht denkbar, so der Einwand, dass sich das Verhältnis von Leib und Seele so verhält, wie das der Leier zu der von ihr erzeugten Stimmung? Danach wäre die Seele die Stimmung des Leibes und brächte diese zum Ausdruck. Doch gegen diesen Einwand sprechen zwei Argumente. Zum einen entsteht die Seele nicht, so wie bei der Leier, erst nach dem Körper. Das ist das gemeinsam akzeptierte Ergebnis der Anamnesislehre. Zum anderen aber ist die Seele nicht vom Leib so abhängig wie die Stimmung der Leier von ihrer Bauweise; vielmehr beherrscht die Seele den Leib.

Der zweite Einwand wird ebenfalls in der Form eines Bildes vorgetragen. Seele und Leib könnten sich verhalten wie der Weber zu den von ihm gewebten Kleidern. Im Laufe seines Lebens verfertigt er viele und trägt sie auf. Schließlich aber stirbt er und das letzte von ihm gewebte überdauert ihn sogar noch eine Weile, bis es schließlich auch zerfällt. So könnte die Seele im Laufe einer langen Zeit mehrere Körper bewohnen, schließlich aber doch sterben.

Gegen diesen Einwand wird das Konzept der Ideen zur Geltung gebracht. Es gibt nicht nur Ideen, wie etwa die bereits angesprochenen der Gleichheit oder der Größe, sondern eine Vielzahl weiterer. Einige von ihnen sind miteinander „verflochten“ (symploke) und gehen eine unlösbare Verbindung ein, so die Idee des Schnees mit der der Kälte oder die Idee der Zahl ‚Drei‘ mit der des Ungeraden. Ebenso wenig wie es warmen Schnee geben kann, gibt es eine gerade Drei. Dasselbe betrifft nun das Verhältnis der Idee der Seele mit der des Lebens. Seele und Leben bilden eine unlösbare Ideenverflechtung. Da aber Tod und Leben unversöhnliche Gegensätze bilden, kann auch die Seele sich niemals mit dem Tod verbinden. Stirbt also der Leib, so verlässt die unsterbliche Seele nur diesen Ort, ohne selbst zu sterben.

Gleichwohl betont Sokrates noch einmal ausdrücklich, dass angesichts der Schwere der Fragestellung alle vorgetragenen Argumente einer weiterhin sehr sorgfältigen Überprüfung bedürften. Vollends unsicher aber sei das weitere Schicksal der Seele nach ihrer Trennung von dem Leibe. Zwar gibt es darüber einen Mythos zu erzählen, aber dieser ist, wie alle Mythen, ohne Beweiskraft. An ihn zu glauben ist vielmehr „ein schönes Wagnis“ (ebd. 114 d).

Das von Platon im Phaidon vorgetragene anthropologische Modell hat entscheidende Auswirkungen auf die Ethik. Dabei ist die Einschätzung des Leibes von großer Bedeutung. Der Hauptpunkt der Kritik besteht darin, dass die Sinne als Organe des Leibes keine verlässliche Erkenntnis liefern. Die Verlässlichkeit der Erkenntnis besteht darin, dass es sich um eine bleibende handelt, und eine bleibende Erkenntnis, so die Argumentation, gibt es nur vom Bleibenden, d.h. von dem Sein. Das Sein repräsentiert die Wahrheit und mit ihr hat es das Denken zu tun. Die Sinne als Organe des Leibes sind wie dieser veränderlich. Daher täuschen sie, sie sind trügerisch und vermitteln das Falsche. Das hat Konsequenzen für das Handeln. So hält der Leib die Befriedigung der Lust für das Gute und verkennt dabei ihren trügerischen Charakter, da sie nicht nur veränderlich ist und in ihrer Größe falsch eingeschätzt wird, sondern vielfach auch für den Menschen überhaupt verderblich ist.

Die Konsequenz, die der ‚Philosoph‘ daraus zieht, besteht in zweierlei: Zunächst einmal wird er dem Leib so wenig Beachtung schenken wie nur irgend möglich und sich stattdessen den Aufgaben der Seele zuwenden, und die bestehen vor allem im Denken; zum anderen aber wird er sich nicht wie die Stimmung einer Leier von seinem Leib bestimmen lassen, sondern umgekehrt ihn beherrschen. Die dafür erforderliche Tugend ist die Selbstbeherrschung. Die Selbstbeherrschung gewährt der Seele die Autonomie, die nötig ist, um dem, was wahrhaft, d.h. bleibend gut ist, folgen zu können.

Das anthropologische Modell im Phaidon ist in der Philosophie Platons nur eines von mehreren. So gibt er in der Politeia das Konzept der Einfachheit der Seele auf und setzt an ihre Stelle drei Seelenteile (Pleger, 2009, 115) und im Timaios entwickelt er am Leitfaden eines Panpsychismus’ Ansätze zu einem Mikrokosmos-Makrokosmos-Modell. Platons Leib-Seele-Dualismus stellt innerhalb seiner Philosophie eine extreme Position dar. In keinem Werk sonst ist die Leibfeindlichkeit so drastisch artikuliert. Gleichwohl wird Platons Philosophie gerade mit diesem Modell aufs engste verbunden. Verloren geht dabei möglicherweise auch eine nach wie vor im Phaidon enthaltene Einsicht. Sie besteht darin, dass Leib und Seele sich nicht einfach auf zwei Bereiche verteilen lassen, die nichts miteinander zu tun haben, sondern beide in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander stehen. Für Platon besteht die Verbindung zum einen darin, dass die Seele, die sich zu sehr auf die Bedürfnisse des Leibes einlässt, von diesem affiziert wird. Wichtiger aber ist ein anderer Gedanke: Platon interpretiert die Seele als die Instanz, die in der Lage ist, den Leib zu beherrschen. In ihr gründet sein Konzept der Selbstbeherrschung. Im Hinblick auf den dualistischen Ansatz lässt sich daher Folgendes feststellen: Der Dualismus wird von Platon nicht streng durchgehalten. Es gibt zwischen beiden Bereichen Berührungspunkte, gegenseitige Beeinflussungen und Vermittlungen. Durch sie bekommen ethische Fragen erst eine Bedeutung. Die ethische Devise für den ‚Philosophen‘, die im Phaidon entworfen wird, sich von den Bedürfnissen des Leibes möglichst wenig beeinflussen zu lassen, wird in Platons späteren Schriften durch den Gedanken ersetzt, sich nicht nur um die Seele zu sorgen, sondern in angemessener Weise auch um den Leib.

Die Wirkungsgeschichte Platons verbindet sich jedoch in besonderer Weise mit dem Leib-Seele-Dualismus, wie er im Phaidon vertreten wird. Das beginnt mit der Transformation seines Ansatzes im Neuplatonismus und setzt sich vor allem in der Übernahme der griechischen Philosophie durch das Christentum fort. Die Leibfeindlichkeit wird zu einem festen Bestandteil des christlichen Denkens. In einer sarkastischen Zuspitzung bezeichnet Nietzsche das Christentum als „Platonismus fürs ‚Volk‘“ (Nietzsche II, 566). Das bedeutet, dass der philosophische Hintergrund des Platonismus, gar nicht zu reden von Platon selbst, vergessen und auf einen einfachen Dualismus von Diesseits und Jenseits umgebogen wird. Die Einsicht, dass die platonische Philosophie im Platonismus nicht nur vergröbert, sondern in weiten Teilen auch verfälscht wurde, geht dabei verloren.

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