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I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie
ОглавлениеMythen sind Göttergeschichten. Die Götter Griechenlands sind idealisierte Menschen, bestimmt durch Schönheit, Leichtigkeit und überlegene Kraft. Sie repräsentieren all das, was einzelne Menschen in glücklichen Momenten sein können. Andererseits aber sind sie – wie Menschen auch – eifersüchtig, rachsüchtig und launisch. In einer Hinsicht aber überragen sie den Menschen in einem prinzipiellen Sinne: sie sind unsterblich. Es ist der Kontrast von Sterblichkeit und Unsterblichkeit, der die Folie bildet für die erste entscheidende Definition des Menschen in Europa: Die Menschen, das sind die Sterblichen. Die Sterblichkeit bedrängt den Menschen in einem solch radikalen Sinne, dass er sich auf sie hin definiert.
Die Sterblichkeit stellt die erste entscheidende Kränkung dar, mit der sich der Mensch auseinandersetzen muss. Sie ist bedeutsamer als alle anderen Kränkungen, mit denen er sich im Laufe der Geschichte konfrontiert sieht; bedeutsamer als die Einsicht, dass die Erde nicht den Mittelpunkt des Weltalls darstellt, bedeutsamer als die Evolutionstheorie, die dem Menschen seine tierische Abstammung vor Augen führt, und bedeutsamer schließlich als die große Macht des Unbewussten und die relative Ohnmacht des Ichs, auf die Freud hinwies. Der griechische Mythos zeigt, in welcher Weise die Sterblichkeit das leitende Motiv für das frühe anthropologische Denken wird. Er zeigt auch, ob sich der Mensch von diesem ‚Makel‘ zu befreien sucht oder ihn als unüberwindbare Tatsache akzeptiert.
Lang ist die Geschichte der Versuche, den Tod als endgültiges Ende des Lebens zu leugnen. Zu ihr gehören philosophische Versuche ebenso wie religiöse und theologische. Sie bilden ein zentrales Thema der Geschichte des europäischen Denkens. Platons Argumente für die Unsterblichkeit der Seele bilden einen ersten Höhepunkt. Bemerkenswert ist auch der Gedanke Epikurs, in einem logisch zwingenden Schluss darzulegen, dass der Tod den Menschen nichts angeht; denn solange wir sind, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, sind wir nicht da. So bestechend die Überlegung ist, sie hat die Menschen nicht wirklich überzeugt, denn sie spricht zwar über den Tod, nicht aber über die Sterblichkeit.
Nun ist die Sterblichkeit kein spezifisches Charakteristikum des Menschen, sondern es betrifft alle Lebewesen, und deshalb scheint es auch für eine Definition des Menschen untauglich zu sein. Der Grund, weshalb der Begriff ‚Die Sterblichen‘ gleichwohl geeignet ist, den Menschen in einem spezifischen Sinne zu kennzeichnen, liegt in einer unausgesprochenen Implikation. Sie besteht in einem im Begriff zum Ausdruck kommenden Wissen: Die sterblichen Wesen, die sich selbst so bezeichnen, wissen um ihre Sterblichkeit, und von diesem Wissen können sie nicht absehen, solange sie leben.
Aus diesem Wissen beziehen die ‚Unsterblichkeitsbeweise‘ ihre eigentliche Dringlichkeit. Und solange es sie gab, schien der Begriff ‚Die Sterblichen‘ nicht das entscheidende, letzte Wort über den Menschen auszusagen. Erst nachdem Kant philosophischen Beweisen der Unsterblichkeit der Seele ein weitgehend akzeptiertes Ende setzte, indem er Aussagen über sie in einen Bereich jenseits der Vernunft verwies, nämlich in den des Glaubens und der Hoffnung, waren die Voraussetzungen erfüllt, die Kennzeichnung ‚Die Sterblichen‘ zu rehabilitieren. Und so ist es vielleicht kein Zufall, dass der späte Heidegger in Anknüpfung an die griechische Mythologie die Menschen wieder so benennt: Die Sterblichen.