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1919 - Augustmark

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Der Krieg, der später als „Erster Weltkrieg“ in die Geschichte einging, war nach fünf Jahren endlich mit dem Waffenstillstandsvertrag vom 11.11.1918 in dem Eisenbahnwaggon im Wald von Compiègne beendet. Kaiser Karl der Erste von Österreich verzichtete offiziell auf die Regierungsgewalt, Kaiser Wilhelm der Zweite ging am gleichen Tag ins Exil in die Niederlande und die Dortmunder Karnevalsgesellschaft von 1911 feierte ihr siebenjähriges Beste­hen. Besser konnte man das Grauen der vergangenen Jahre eigentlich nicht beenden.

Der Kaiser dankte am 28.11.1918 endgültig ab. Damit hatte August seinen größten Förderer verloren, denn sein Titel als Kaiserlicher Hof- und Marine­lieferant galt nicht mehr viel. Es blieben jedoch die beiden Goldstücke für Emma und Berta. Nur Dora war in den Wirren ihrer Geburt leer ausgegangen. Der Kaiser hatte andere Dinge im Kopf gehabt, als ihr ein Goldstück zu schi­cken.

Irgendwie hatten alle überlebt: August Heldenreich an der Verpflegungsfront und seine Familie an der Heimatfront.

Augusts Heimkehr nach Dorpamarsch war zwar nicht mehr die eines Helden – davon war man schon lange abgekommen – doch er kam nicht als Verlierer zurück. Er hatte seine Schäfchen in den Kriegsjahren erfolgreich ins Tro­ckene gebracht und viele neue Geschäftsbeziehungen aufgebaut. „Was des einen Leid, ist des andern Freud“, sagte der Volksmund, und am Krieg konnte man gut verdienen – wenn man am Leben blieb.

Emma war jetzt 19, Berta 13 und Dora 5 Jahre alt. Als August seine Jüngste bei der Heimkehr erfreut aufhob, um sie an sich zu drücken, wehrte sie empört ab: „Lass mich los, sonst rufe ich meine Schwester!“ Sie kannte ja ihren Vater bisher noch nicht, und Emma war stets ihre wichtigste Bezugs­person gewesen.

Doch das änderte sich schnell. August krempelte die Ärmel hoch und über­nahm wieder das Geschäft. Mit Erstaunen sah er, wie gut Emma es in seiner Abwesenheit geführt hatte. Die Lager waren gefüllt mit landwirtschaftlichen Produkten, denn Emma hatte in der Vergangenheit mangels Geld hauptsäch­lich Naturalien von den Bauern der Umgebung angenommen. Es war nicht immer einfach gewesen, im Gegenzug Waren zu bekommen, welche die Bau­ern brauchten, doch irgendwie klappte das immer. Das „Handelshaus Helden­reich en gros und en détail“, war überwiegend zum Tauschhandel übergegangen. Das stellte sich jetzt durchaus als Vorteil heraus. Nach dem Krieg brauchte man dringend Grundnahrungsmittel und die besaß August nun. Kartoffeln, Zuckerrüben, Getreide und nicht zu vergessen, Holz für den Wiederaufbau besaßen die Bauern der Umgebung reichlich.

Ein kleines Problem wurde jedoch die einsetzende Inflation. Krieg und nach­folgende Reparationen waren teuer, doch Papiergeld ließ sich schnell nach­drucken. Je schneller man druckte, desto mehr verlor das Papier an Wert im Vergleich zur Goldmark und natürlich erst recht im internationalen Vergleich zum Dollar.

Während man für eine Papiermark zum Beginn des Krieges noch eine Gold­mark bekam, musste man Ende 1919 schon zehnmal so viel bezahlen.

Die Bauern waren zwar bereit, sich von ihren Kartoffeln zu trennen, doch musste auch für sie etwas herausspringen. Es war ihnen schlecht klarzuma­chen, dass die zwei Mark, die sie für den Zentner bekamen, nach einiger Zeit nur noch die Hälfte oder noch weniger Wert waren. Also blieb nur das Geschäft Zug um Zug: Jede Ware musste sofort mit einer anderen ausgegli­chen werden.

„Ich benötige einen Waschzuber!“, sagte Bauer Westphal zum Beispiel. „Ich kann dir Kartoffeln dafür geben!“

„Den Waschzuber muss ich erst besorgen“, erwiderte August. „Das kostet drei Zentner!“

Das Geschäft wurde mit Handschlag besiegelt, doch der Böttcher benötigte keine Kartoffeln, dafür aber dringend Eichenholz. Das bekam August von dem Holzhändler, der sich schließlich mit fünf Zentnern Kartoffeln zufrie­dengab.

Als Westphal den Waschzuber abholte, wollte August sechs Zentner von ihm haben.

„Wir hatten drei vereinbart!“ protestierte Westphal.

„Ja, das war vor einer Woche!“

Auf diese Weise konnte man wirklich keine Geschäfte machen. Aber was sollte August tun? Zum Glück hatte er einen guten Namen bei den Dörflern.

Dora spielte im Laden mit ihrem Kaufmannsladen, den sie von ihrem Vater zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Der Schreiner hatte für drei Sack Weizenschrot aus einigen Holzresten ein Regal, einen kleinen Tresen und viele kleine Holzkästen zusammengebastelt. Dieser „Kaufmannsladen“ stand nun in einer Ecke des großen Ladens und wurde gerne benutzt. Die vielen Behältnisse durfte sich Dora mit echten Waren füllen. Eine Handvoll Erbsen, drei kleine Kartoffeln, etwas Mehl, ab und zu ein altes Brötchen und ein Glas mit Bonbons waren immer mal übrig. Mit Eifer stand Dora oft hinter ihrem Ladentisch und verkaufte zur Freude der Dorffrauen ihre Waren. Da sprang auch manchmal ein Pfennig heraus, der am Ende des Tages in die Sparbüchse wanderte. Doch das war die Ausnahme. Meistens spielte sie „Tauschen“ mit anderen Kindern.

„Ich hätte gerne eine Mohrrübe!“

„Die kostet zwei Mark.“

„Ich habe aber nur zwei Knöpfe.“

„Na gut, dann eben zwei Knöpfe.“

Knöpfe und Möhre wechselten den Besitzer. Manchmal beteiligten sich auch die Erwachsenen an diesen Geschäften.

„Was kosten denn die Bonbons?“

„Die sind nur für Kinder!“

„Ich möchte aber einen für meine Großtochter haben!“

„Na gut, dann kostet er hundert Mark!“

„Ich habe aber nicht so viel dabei.“ Die Enkelin Neike stand schon mit gro­ßen Augen daneben. Die konnte doch nicht leer ausgehen. Aber Geschäft ist Geschäft. Dora hatte eine Idee.

„Dann tu einfach so, als würdest du bezahlen!“

Die alte Oma Holthusen fummelte auffällig in ihrem Portemonnaie herum, zog einen unsichtbaren Geldschein heraus und reichte ihn Dora.

„Bitte schön! Hundert Mark!“

„Danke schön!“ Neike durfte in das Bonbonglas greifen und sich einen ech­ten Bonbon herausfischen.

Doch im echten Laden bezahlten die Leute auch mit echtem Geld.

Dora hatte schon wieder eine Idee. Sie nahm sich aus dem (richtigen) Laden einen Bogen Packpapier und zerschnitt ihn mit der Schere in etwa gleich­große Stücke. Nun hatte sie Papiergeld.

Ihr Geschäft florierte. Die Kinder des Dorfes durften bei ihr alles verkaufen, was sie nicht mehr benötigten und bekamen dafür Scheine aus Packpapier, mit denen sie wiederum bei ihr einkaufen konnten, was immer sie gerade vor­rätig hatte. Auf diese Weise kam so manches Spielzeug im ganzen Dorf herum und jeder war zufrieden. Besonders Dora, denn ein kleiner Gewinn blieb immer an ihr hängen. Wo sie das nur herhatte?

Fassungslos beobachtete August dieses pfiffige Geschäftsmodell seiner Jüngsten eine Zeit lang. Er selbst hatte sehr viel größere Probleme, die Tauschgeschäfte seines Handelshauses zu übersehen, die täglich unüber­schaubarer wurden. Jede Verzögerung in einer Warenbeschaffung machte die vereinbarten Preise wieder zunichte. Wie einfach wäre es doch, nach dem Dora-Modell alles mit Packpapier zu bezahlen. Doch im realen Leben ging das natürlich nicht.

Oder doch?

Warum eigentlich nicht?

Diesmal hatte August eine Idee! Er ließ sich bei einem Buchdrucker in der Kleinstadt, der schon seit einiger Zeit ohne Aufträge war, mehrere Bogen von einfach gestalteten Wertscheinen drucken, auf denen das Handelshaus Hel­denreich den Gegenwert an Waren garantierte. Er führte damit die Helden­reich-Währung ein, die nur in seinem eigenen Geschäft galt. Das Modell klappte ebenso wie bei Dora. Statt der Papiermark, die täglich an Wert verlor, bekam jeder Verkäufer von Naturalien einen vereinbarten Gegenwert an Hel­denreich-Währung, die stets konstant blieb. Darauf konnten sich alle verlas­sen. Doch wo konnten die Bauern ihre Scheine wieder eintauschen? Natürlich auch wieder bei August im Laden. So hatte jeder etwas davon. Die Verkäufer konnten mit festen Gewinnen kalkulieren, die Käufer mit feststehenden Prei­sen, und August verdiente an allem immer etwas.

Die Wertscheine wurden schnell über die Grenzen des Dorfes hinaus bekannt, und da August jeden einzelnen Schein mit seiner Unterschrift per­sönlich „scharf machte“, nannte man sie bald nur noch „Augustmark“, was bei einigen Leuten außerhalb des Dorfes auch etwas Irritation hervorrief, denn was hatte der Monat August damit zu tun?

Mit jedem Monat, den die Inflation andauerte, gewann die Augustmark an Bedeutung, denn in Dorpamarsch gab es praktisch eine inflationsfreie Zone.

Ende Oktober 1922 machte August dann das Geschäft seines Leben, wie er es selbst bezeichnete.

Die Goldmark stand inzwischen auf 1.000 Papiermark, das heißt, jede der beiden Goldmünzen von Emma und Berta hatte jetzt einen Wert von 20.000 Mark. Allerdings war das Porto für einen Brief auch auf 6 Mark gestiegen, und für einen Dollar musste man 4.430 Mark hinblättern.

Da wurde August von einem Kaufmann Reichelt, den er in Breslau kennen gelernt hatte, angesprochen. Der hatte bereits während des Krieges einen sog. „Kriegsbrotaufstrich“ entwickelt. Überall im Lande gab es seine Werbeanzei­gen, auf denen fröhlich um ein Honigfass herumfliegende Bienen zu sehen waren. In Wirklichkeit handelte es sich aber um Kunsthonigpulver, das mit Wasser zu einem süßen Aufstrich angerührt und als Ersatz für Butter und Fett benutzt werden konnte.

Grundlage der Herstellung war Rübenzucker, und gerade jetzt war bei den Zuckerrüben in der Umgebung von Breslau ein Engpass eingetreten. Wie es der Zufall wollte, hatte ein Bauer aus Dorpamarschs Umgebung in diesem Jahr mit dem Zuckerrübenanbau begonnen und sich noch auf keinen Abneh­mer festgelegt.

Das Geschäft ließ sich August natürlich nicht entgehen. Er kaufte dem Bau­ern die ganze Ernte ab und verkaufte sie an Reichelt weiter. Die Bezahlung in Papier Mark lehnte August allerdings ab. Die brachte ihn nicht weiter. Da ging Reichelt an seine Dollarreserven und packte auch noch ein Goldstück dazu – sozusagen als Gratifikation für das gelungene Geschäft. Die Dollars bereicherten das Handelshaus Heldenreich enorm, und das Goldstück bekam Dora: auch als Gratifikation für die Packpapier-Geschäftsidee.

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