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1900 - Es hat Zwölf geschlagen

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Natürlich war Emma nicht von Anfang an die älteste Frau in Deutschland. Das ergab sich naturgemäß erst in späteren Jahren, nachdem alle vor ihr geborenen Frauen verstorben waren. Doch dazu kommen wir später.

Um aber etwas mehr über diese bemerkenswerte Frau zu erfahren, müssen wir bereits bei ihrer Geburt anfangen. Und das war auch schon aufregend genug.

Es begann am Silvesterabend 1899 in dem kleinen Dorpamarsch, einem unbedeutenden Dorf im Norden Deutschlands, irgendwo im Marschland an dem kleinen Flüsschen Dörpe. Es war so unbedeutend, dass die Einwohner es auch manchmal als Dorp am Arsch aussprachen. Vielleicht war das ja auch der Ursprung des Namens. Niemand hatte das bisher so richtig erkundet. Doch es besaß immerhin einen Kaufmannsladen und ein Dorfgasthaus, das interessanterweise den Namen „Zum Roten Hahn“ trug, wahrscheinlich, weil sich dort immer die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr trafen – und das waren praktisch alle männlichen Einwohner Dorpamarschs, die bereits laufen konnten.

Natürlich gab es auch eine Kirche in der Mitte des Dorfes, gleich neben dem Roten Hahn, mit einem trutzigen viereckigen Turm, der weit über das flache Land hinwegschaute. Das Beste aber waren die vier großen Uhren an jeder Seite des Turmes. Eigentlich war es nur eine einzige Uhr im Innern des Turmgemäuers mit vier gewaltigen Zifferblättern nach allen Himmelsrichtun­gen. Das war für die meisten Bewohner die einzige Uhr, die ihnen zur Verfü­gung stand. Die Bauern auf dem Felde, die Schulkinder, der Briefträger, der Dorfgendarm – alle hatten die Uhr ständig im Blickfeld. Sie war sozusagen die Normzeit des Dorfes und die wenigen Standuhren oder seltenen Taschen­uhren wurden nach ihr gestellt.

Dass die Turmuhr auch immer richtig ging, dafür sorgte Küster Schaapmann, der einmal wöchentlich in das Turmuhrenstübchen kletterte, um mit einer Handkurbel den schweren Stein nach oben zu ziehen, der das gewaltige Uhr­werk antrieb, und gleichzeitig nach seiner eigenen Taschenuhr zu stellen. War er dann wieder unten, verglich er seine eigene Uhr mit der Turmuhr. Wenn beide exakt die gleiche Zeit anzeigten, konnte er befriedigt feststellen, dass die Zeit wieder einmal stimmte.

Sie würde in dieser Silvesternacht noch eine bedeutende Rolle spielen, auch wenn die Zeiger in der Dunkelheit gar nicht zu erkennen waren. Dafür schlu­gen die Uhrglocken umso lauter. Zu jeder vollen Stunde war die Stundenzeit zu hören und zu jeder Viertelstunde ein einzelner Schlag. Da der Rote Hahn direkt daneben lag, lauschten alle Anwesenden jeden Abend auf die zwölf Schläge, denn um Mitternacht machte der Wirt dicht. „Feierabend!“, verkün­dete er dann formell und wartete, bis die Gäste in aller Ruhe noch ihr Glas ausgetrunken hatten. Das konnte noch mal ein Viertelstündchen dauern, doch Nachschub gab es nicht mehr. Meist tranken die Gäste aber ihr Glas zügig aus und machten sich auf den Heimweg, denn ihre Frauen hatten die mitternächt­lichen Glockenschläge ebenfalls gehört und warteten. Wo sollten die Männer auch sonst hin um diese Stunde?

An diesem Silvesterabend war aber alles etwas anders. Heute gab es keine Sperrstunde! Man wollte ja in das neue Jahr hineinfeiern. Es stand sogar ein neues Jahrhundert bevor! Dachte man jedenfalls, denn genau genommen, begann das neue Jahrhundert ja nicht am 1. Januar 1900, sondern erst ein Jahr später. Das hatte der alte Dorfschullehrer Nils Hempelmann versucht, den Dörflern am Stammtisch einmal klarzumachen. Doch so richtig begriffen hatte das keiner, genauso wenig, warum 1901 das Zwanzigste Jahrhundert anfangen sollte, obwohl doch jeder sehen konnte, dass das Jahr mit einer „19“ begann. „Der Lehrer spinnt!“, dachten die Bauern, nur der Pastor Leverenz meinte, der Lehrer könnte wohl recht haben.

Der Kaufmann August Heldenreich gab ihm ebenfalls recht, denn der kannte sich schon von Berufs wegen mit der Rechnerei aus. Aber an diesem Silves­terabend 1899 spielte das alles keine Rolle. Man feierte in das neue Jahrhun­dert hinein, weil man das überall so machte.

Zu diesem Anlass waren ausnahmsweise auch die Damen des Ortes, die sonst zu Hause geduldig auf ihre Männer warteten, im Roten Hahn versammelt. Der Wirt hatte die Gaststube mit einigen Girlanden geschmückt, ein frisches Fass Bier angestochen und für die Damen einige Flaschen Aprikosenlikör bereitgestellt. Sicherheitshalber hielt er für Mitternacht auch noch einen Kas­ten Schaumwein, den er großzügig als „Schampus“ bezeichnete, bereit.

Bier und Schnaps flossen reichlicher als an gewöhnlichen Tagen durch die Kehlen, die Damen hielten sich etwas zurück, doch wurde die Stimmung immer fröhlicher und vor allem immer lauter.

Nur einer konnte sich nicht so richtig auf die Feier konzentrieren. Es war August Heldenreich, der ohne Frau gekommen war.

August Heldenreich hieß eigentlich Karl Heinrich Hermann, genannt August, Heldenreich. Ja, das „genannt August“ gehörte wirklich zu seinem behördlich eingetragenen Vornamen. Das hatte auch seinen Grund: Er war der Sohn des Landwirtes Hinz Heldenreich, der seinem Namen viel Ehre machte und innerhalb von sechs Jahren gleich vier Helden zeugte. Was tat man nicht alles für Kaiser und Vaterland! August war der jüngste Sohn, der wie seine Brüder die gleichen Taufpaten hatte. Das waren die drei Brüder seines Vaters Karl, Heinrich und Hermann Heldenreich. Alle drei gaben ihre Namen an die jun­gen Helden weiter. So kam es, dass alle vier Knaben die Vornamen Karl Heinrich Hermann bekamen. Das war bei den ersten drei kein Problem, denn sie wurden Karl Heldenreich, Heinrich Heldenreich und Hermann Helden­reich genannt. Nur bei dem Jüngsten wurde es problematischer. Es blieb kein Rufname für ihn übrig. So nannte man ihn einfach „August“, obwohl er Karl Heinrich Hermann hieß. Das ganze Dorf nannte ihn so, und er selbst hörte von Kindesbeinen an auch nur auf den Namen August, bis er seine Frau Wil­helmine ehelichen wollte und dem Bürgermeister Brödermann, der zugleich Standesbeamter war, seinen Taufschein vorlegte. Der fand sofort das Haar in der Suppe, aber nicht den Vornamen August. „So geht das aber nicht, August!“, entschied er. „Du kannst nicht unter dem Namen August heiraten, wenn du ganz anders heißt!“

Da war guter Rat teuer. Jeder der drei anderen Namen hätte in dem kleinen Dorf unweigerlich zu Verwechslungen und Missverständnissen mit seinen Brüdern geführt. Da entschied Brödermann, den Zusatz „genannt August“ offiziell in seine Papiere einzufügen. Damit konnten alle Beteiligten leben.

Das war vor gut einem Jahr gewesen, und heute war Wilhelmines und August Heldenreichs großer Tag. Ein neuer Held wollte das Licht des Tages erbli­cken, auch wenn das in diesem Fall das Licht einer Petroleumlampe war.

Um Mittag hatten die Wehen begonnen, und die Nachbarin Emma Hibbel hatte Lisbeth gerufen. Die alte Hebamme war herbeigeeilt und hatte zunächst einmal August hinausgeworfen. „Mannsleute haben hier nichts zu suchen! Ihr habt euer Vergnügen gehabt, nun sind die Weiber dran!“, verkündete sie resolut und forderte heißes Wasser, saubere Tücher und eine Kanne Kaffee. Das konnte beim ersten Kind lange dauern!

August überließ das Feld also den drei Frauen, verzog sich in den Roten Hahn und freute sich schon auf seinen Helden. Ein bisschen Sorge hatte er natürlich auch um Wilhelmine, denn eine Geburt war immer mit einer gewissen Gefahr verbunden.

„Eine Runde auf Wilhelmine und meinen Sohn!“, verkündete er lauthals am Stammtisch.

„Und wenn es doch eine Deern wird?“, wandte Pastor Leverenz ein.

„Das wird kein Mädchen! In meiner Familie sind bisher immer nur Helden gezeugt worden. Das hängt mit meinen Erbanlagen zusammen!“, erwiderte August. Davon war er überzeugt.

Inzwischen widmete sich Lisbeth zu Hause dem Kaffee, während Wilhelmine in immer kürzeren Abständen ihre Wehen spürte. Lisbeth kramte unter ihren vielen Unterröcken eine Taschenuhr hervor und legte sie demonstrativ auf den Nachtschrank. „Das wird heute noch!“, stellte sie fest. „Das letzte Baby in diesem Jahrhundert!“ Die Uhr zeigte kurz nach 11 Uhr. Noch fast eine Stunde bis zum Jahreswechsel. Der Lehrer Hempelmann hätte sicherlich wegen des neuen Jahrhunderts protestiert, wenn er denn da gewesen wäre, doch er befand sich gerade in einem Streitgespräch im Roten Hahn und bekam deshalb nichts von Lisbeths Bemerkung mit.

Diese hatte nicht ohne Grund ihre Uhr aus den Unterröcken hervorgekramt, denn bei der heutigen Geburt war die Uhrzeit besonders wichtig. Kaiser Wil­helm der Zweite hatte schon vor einem Monat im ganzen Reich verkünden lassen, dass er für das erste im neuen Jahrhundert geborene Kind persönlich die Patenschaft übernehmen wolle, sofern es ein Knabe wäre. Sollte es aber ein Mädchen werden, würde er ein Goldstück spendieren, immerhin im Werte von 20 Mark.

Nun hoffte August, dass sich sein kleiner Held noch bis ins neue Jahr Zeit las­sen würde. Dann hätte er Chancen auf die kaiserliche Patenschaft. Das wäre ein guter Start ins Leben.

In diesem Moment ging es im Hause des Kaufmanns aber richtig los. Die Wehen folgten jetzt in immer kürzeren Abständen, und Lisbeth schaute erneut auf die Uhr. Bis Mitternacht war jetzt nicht mehr viel Zeit. Doch gerade als Emma Hibbel mit einem neuen Stapel Tücher herbeieilte, hörte sie die Turmglocke läuten. Erschrocken blieb sie stehen und zählte die Schläge mit. „Es ist Mitternacht!“, stellte sie fest.

„Unsinn!“, widersprach Lisbeth mit einem Blick auf ihre Taschenuhr. „Noch fünf Minuten! Nun komm schon! Das Kind will raus!“

Doch die Nachbarin blieb erstarrt stehen und zählte mit: „Zehn, elf, zwölf!“ – Wilhelmine stieß einen schrillen Schrei aus, der in einem langen Aufatmen endete. Mit beherztem Griff hatte Lisbeth zugepackt, und im nächsten Moment meldete der kleine Erdenbürger sein Dasein an. Es war geschafft!

Emma Hibbel hielt Lisbeth eines der Tücher hin, und diese schaute erst kri­tisch auf das Kind, dann auf die Uhr auf dem Nachtschrank. „Na also!“, stellte sie fest. „Kurz vor Mitternacht!“

„Es hat aber schon 12 geschlagen!“, wand Emma ein.

„Die Kirchturmuhr geht falsch!“, wehrte Lisbeth ungehalten ab. „Hier gilt nur meine Uhr, und die zeigt zwei Minuten vor zwölf. Geburtstag ist also der 31. Dezember 1899! Schluss damit!“

„Was ist es denn?“, wollte die Nachbarin wissen.

„Na, was soll es schon sein!“

Mit wehenden Röcken eilte die Hibbel zum Roten Hahn, um die gute Nach­richt dort sofort zu überbringen.

„Dein Kind ist da, August!“, rief sie in die Gaststube hinein, wo gerade die erste Welle „Prost Neujahr!“ auf ihrem Höhepunkt war. Und jetzt diese Nachricht!

„Mein Sohn ist da!“, tönte August laut, und als der Wirt auffordernd die nächste Kiste Schampus auf den Tresen stellte, schob August hinterher: „Schampus für alle!“

Es wurde ein feucht-fröhlicher Willkommensgruß für den neuen Erdenbür­ger.

Unterdessen hatte Lisbeth das Kind gebadet, in ein trockenes Tuch gewickelt und Wilhelmine in den Arm gelegt. „Hier hast du deine Deern“, sagte sie bedauernd.

„Ein Mädchen?“, fragte Wilhelmine.

„Ja, es ist nun mal kein Held geworden.“

So kam August und Wilhelmine Heldenreichs Tochter auf die Welt.

Doch als August sie am nächsten Morgen – das war am 2. Januar – beim Bür­germeister offiziell anmelden wollte, gab es noch einen kleinen Streit zu klä­ren. Lisbeth hatte als Geburtstermin den 31. Dezember 1899 angegeben, und jetzt gab August den 1. Januar 1900 an. Was war denn nun richtig? War der Nachwuchs jetzt das letzte Baby im 19. oder das erste im 20. Jahrhundert? Das war schon wichtig!

Der Bürgermeister ließ alle Beteiligten zu sich kommen, um die Angelegen­heit zu klären. Emma Hibbel sagte, dass die Kirchturmuhr bereits Zwölf geschlagen hatte, als das Kind zur Welt kam. Brödermann überzeugte sich davon, dass die Uhr der Hebamme gegenüber der Kirchturmuhr nachging. Lisbeth schwor, dass ihre eigene Uhr die einzig ausschlaggebende war, denn sie hatte alle von ihr zur Welt gebrachten Kinder nur nach dieser Uhr regist­riert. Die Kirchturmuhr konnte also nur falsch gehen.

Das war eine verzwickte Angelegenheit, die der Bürgermeister da lösen musste. Er rief den Dorfgendarmen hinzu, der als Amtsperson ein gewichti­ges Wort mitsprechen konnte. Doch es stellte sich heraus, dass auch dieser seine Uhr täglich mit der Kirchturmuhr verglich. Bei dem Briefträger war es genauso. So kam man also nicht weiter. Doch der Briefträger hatte eine ganz andere Idee.

„Die Eisenbahn!“, fiel ihm ein. „Auf allen Bahnhöfen im Land zeigen die Uhren die gleiche Zeit an, denn die Lokführer sind verpflichtet, ihre Amtsuh­ren nach der Uhr der Kreisstadt zu stellen und mit jeder Bahnhofsuhr auf ihrer Strecke zu vergleichen. Auf diese Weise gibt es auf der ganzen Strecke keine Zeitunterschiede.“

Genauer konnte die Zeit also gar nicht festgestellt werden. Der Gendarm bekam nun den standesamtlichen Auftrag, mit dem Fahrrad in die Kreisstadt Pamphusen zu fahren, um seine zur Amtsuhr aufgewerteten Taschenuhr mit der Eisenbahnzeit zu vergleichen. Der Küster war über diese Maßnahme etwas erbost, denn er hielt es für selbstverständlich, dass die Kirchturmuhr die richtige Zeit anzeigte. Und er bekam recht. Der Dorfpolizist konnte die Richtigkeit bestätigen. Er hatte in dieser Streitfrage die körperlich anstren­gendste Arbeit geleistet, was der Bürgermeister mit einem gehörigen Schluck Bier honorierte. Jetzt konnten alle zufrieden sein, außer der Hebamme, die nun ihre Taschenuhr zum ersten Mal korrigieren musste. Das ging ihr gewal­tig gegen den Strich.

So wurde das immer noch namenlose Mädchen der Heldenreichs das erste Kind des neuen Jahrhunderts im Dorf, und der Bürgermeister notierte nicht nur gewissenhaft Datum und Uhrzeit, sondern schrieb noch „mit dem Glo­ckenschlag“ dahinter.

Als das Kind dann von Pastor Leverenz getauft werden sollte, stellte sich her­aus, dass die Eltern zwar viele Jungennamen parat hatten, jedoch keinen für Mädchen. Doch sie waren der Nachbarin Emma Hibbel so dankbar für ihr gutes Gehör, dass sie ihr anboten, Namenspatin zu werden. Endlich hatte Emma Heldenreich, geboren am 1. Januar 1900, null Uhr, mit dem Glocken­schlag, in Dorpamarsch, ihren Namen.

Es stellte sich heraus, dass es im ganzen Deutschen Reich keine frühere Geburt gegeben hatte, und der Kaiser ließ Emma ein echtes Goldstück schi­cken, das ihr zusammen mit einer gewaltigen Urkunde vom Bürgermeister ausgehändigt wurde.

Zunächst nahm August beides entgegen und gab beim Schreiner den Auftrag, einen schönen Rahmen zu bauen. So hing fortan die Urkunde an der Wand des Kaufmannsladens und die Münze verschwand in einer Schatulle.

Die kleine Emma wurde im Dorf aber nur noch „Kaiserdeern“ genannt. Schade: Aus der Patenschaft war ja nun nichts geworden, doch der „genannte“ August und Wilhelmine waren trotzdem recht stolz.

Dorpamarsch

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