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1906 - Ein Schuster auf der Durchreise
ОглавлениеAn einem warmen Spätsommertag hatte sie ihren Puppenwagen vor dem Laden in die Sonne gestellt und spielte mit den Puppen. Heute war Waschtag. Ihre Mutter war mit einer Haushaltshilfe bei der großen Wäsche. Das zog sich immer über zwei Tage hin. Am ersten Tag wurde die Wäsche eingeweicht und am nächsten Morgen gekocht, ausgewrungen, gespült … und das Ganze mehrmals. Das war eine wirkliche Knochenarbeit, aber einmal monatlich erforderlich.
Bei Emma war das einfacher. Sie begnügte sich damit, ihre drei Puppen komplett zu entkleiden, deren Wäsche symbolisch in einem leeren Eimer zu „waschen“ und die Puppen dann wieder anzukleiden. Als diese gerade nackt nebeneinander auf der Sitzbank saßen, fiel ein Schatten auf sie. Ein Mann stand vor ihr. „Darf ich mich zu dir setzen, kleines Frollein?“, fragte er höflich.
Emma schaute hoch und schob bereitwillig ihre Puppen zusammen, sodass noch genügend Platz für den Mann war. Schließlich war die Bank vor dem Laden für die Kunden aufgestellt, die vor oder nach dem Einkauf noch ein wenig rasten wollten.
Der Mann setzte sich schwerfällig hinzu und schaute Emma an. „Ich heiße Wilhelm“, stellte er sich vor, „und wie heißt du?“
„Ich bin die Kaiserdeern, heiße aber Emma“, erklärte sie zutraulich und stellte auch gleich noch ihre Puppen vor: „Das ist Augustine, das ist Wilhelmine und das ist Clara.“ Dann deckte sie schnell ein Tuch über sie, damit Wilhelm sie nicht länger nackt sehen sollte.
Wilhelm war schon älter, trug einen Schnauzbart und sah traurig aus. Seine schwarze Jacke war etwas abgestoßen, doch er strahlte eine gewisse Würde und Ruhe aus.
„Hast du auch eine Nummer?“, fragte Emma neugierig.
Wilhelm schien etwas erschrocken. Unwillkürlich musste er an die Nummer denken, die ihm im Gefängnis zugeteilt worden war. Sah man ihm das an? Das konnte er sich von Emma nicht denken.
„Was für eine Nummer?“, fragte er.
„Na, unser Kaiser, der mir die Goldmünze geschenkt hat, hat die Nummer Zwei. Du heißt doch auch Wilhelm, welche Nummer hast du denn?“
Wilhelm musste lachen. „Ach sooo“, sagte er, „nur Kaiser und Könige bekommen eine Nummer, damit man sie unterscheiden kann. Ich bin zu unbedeutend, um eine Nummer zu haben.“ Nach kurzem Nachdenken fragte er: „Der Kaiser hat dir eine Goldmünze geschenkt?“
Und Emma erzählte ihm die ganze Geschichte. Sie schloss mit den Worten: „Und deshalb bin ich die Kaiserdeern und ein Glückskind!“
Wilhelm schaute sie interessiert an und fragte: „Darf ich die Goldmünze einmal sehen?“ Er hatte nämlich noch nie in seinem Leben eine Zwanzigmarkgoldmünze gesehen.
Emma lief bereitwillig ins Haus, um die Münze aus der Schatulle zu holen. Wilhelm bewachte indessen die Puppen. Zögernd nahm er die Münze von Emma entgegen und betrachtete sie mit glänzenden Augen. Er konnte sich an nichts erinnern, das schöner gewesen wäre. „Du bist wirklich ein Glückskind!“, sagte er und gab Emma das Goldstück zurück. Diese verschwand wieder, um es in die Schatulle zurückzulegen.
In diesem Moment kam Emmas Mutter aus dem Haus, um nach ihrer Tochter zu sehen. Sie erblickte den alten Mann neben Emmas Puppen und kam näher. Wilhelm stand höflich auf und stellte sich vor „Ich heiße Wilhelm und passe auf die Puppen auf. Emma ist gerade ins Haus gegangen.“ Sein Blick wanderte über Wilhelmines gerundeten Bauch. Da kam Emma herausgehüpft und sagte fröhlich: „Ich habe Wilhelm meinen Glückstaler gezeigt.“
Die Mutter erschrak etwas, doch der Alte sah zwar abgeschabt, aber nicht wie ein Dieb aus. Sie wandte sich ab, um August zu holen. Das war eine Sache unter Männern.
„Du bekommst bald ein Brüderchen oder Schwesterchen!“, stellte Wilhelm fest.
Emma war erstaunt: „Woher weißt du das?“
Wilhelm hatte durchaus nicht vor, an dieser Stelle die Aufklärung Emmas in die Wege zu leiten. Er murmelte deshalb: „Wart’s nur ab!“, und beließ es dabei. Er wurde von August aus weiterer Erklärungsnot gerettet, als dieser forsch aus dem Haus eilte.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte der ganz geschäftsmäßig.
Wilhelm zeigte auf die Bank und meinte, er hätte sich nur etwas ausruhen wollen, da er auf der Durchreise von Wismar nach Berlin wäre, wo er eine wichtige Angelegenheit regeln wolle.
Da neben Emmas Puppen nicht genügend Platz für zwei Männer und die Puppenwäsche noch lange nicht beendet war, bat August den Alten in die Wohnstube, um sich bei einem Bier mit ihm zu unterhalten. Die „wichtige Angelegenheit“ interessierte ihn sehr. Nicht umsonst hatte er seine Geschäfte immer mehr erweitern können, da er stets die Ohren offen hielt. Und die Hauptstadt interessierte ihn ganz besonders. So erfuhr er die ganze bisherige Lebensgeschichte des Mannes.
Wilhelm war in Ostpreußen geboren worden und hatte das Schuhmacherhandwerk gelernt. Er gab bereitwillig zu, in den nachfolgenden Wanderjahren als Schuhmachergeselle mehrfach aus Not und wenn sich die Gelegenheit bot, kleinere Diebstähle begangen zu haben, wegen denen er auch ins Gefängnis gekommen war. „Meist habe ich nur etwas Essen auf dem Markt oder aus einigen Gärten gestohlen, wenn ich auf Wanderschaft war.“ Doch Diebstahl ist Diebstahl, und darauf stand Gefängnis. Das sah er ein. Doch seine handwerklichen Fertigkeiten waren überall anerkannt. Darauf legte er Wert.
August fragte, wo denn Wilhelm zuletzt gearbeitet hätte. Dieser kratzte sich verlegen am Kopf und erzählte, er hätte zuletzt eine Stelle bei Hofschuhmachermeister Hilbrecht in Wismar gehabt, hatte sich dort auch gut gemacht, bekam aber wegen der vorangegangenen Gefängnisstrafen Aufenthaltsverbot für die Stadt Wismar. Nun wolle er nach Rixdorf zu seiner Schwester, um dort Arbeit in Berlin zu finden.
Das war also die „wichtige Angelegenheit“.
August überlegte: Wenn Wilhelm tatsächlich bereits bei einem Hofschuhmachermeister gearbeitet hatte, ließ sich vielleicht etwas daraus machen. Jeder Soldat brauchte Stiefel, und Schuhe standen bisher noch nicht in seinem Hoflieferungsprogramm.
„Wie soll es jetzt weitergehen?“, fragte er Wilhelm.
„Für den Anfang reicht es mir schon, wenn ich ein paar Nächte hier übernachten kann!“
Platz im Lagerschuppen gab es genug, und schließlich machte sich Wilhelm in der Sattelkammer ein provisorisches Heulager. Gewohnheitsmäßig schaute er sich um, ob er etwas gebrauchen konnte, und wurde fündig.
Am nächsten Tag ließ er sich nur zu den Mahlzeiten sehen, zu denen er eingeladen war. Einen weiteren Morgen später erschien er nicht zum Frühstück. Stattdessen lag ein Paar winzig kleiner Babyschuhe auf den Treppenstufen zum Hauseingang. Das Material dazu hatte Wilhelm in der Sattelkammer gefunden.
Wilhelmine und August waren gerührt über dieses schöne Geschenk, und am 7. September 1906 bekam Emma tatsächlich ein kleines Schwesterchen. Es wurde auf den Namen „Berta“ getauft, und für Emma war es, als hätte sie eine lebendige Puppe. Sie liebte ihre Schwester von Anfang an über alles.
Von dem Schuster Wilhelm hörten sie nichts mehr.
Es stellte sich später aber heraus, dass er doch etwas aus dem Lagerhaus mitgehen ließ, was August aber verschmerzen konnte, da er ohnehin bisher keinen Abnehmer dafür gefunden hatte. Es war die alte Uniform eines Hauptmanns des preußischen 1. Garderegiments zu Fuß, die dieser bei einer Neuanfertigung zurückgelassen hatte. Nun hing sie seit einiger Zeit im Schuppen, und die Motten bekundeten schon heftiges Interesse. Vor diesem Schicksal hatte Wilhelm die Uniform sicherlich bewahren wollen, denn wozu könnte ein Schuster eine Hauptmannsuniform benötigen?
Am 18. Oktober 1906 traf ein mysteriöser Brief bei Heldenreichs ein. Der Brief war in Berlin aufgegeben und abgestempelt und beinhaltete einen unbeschrifteten Bogen mit dem Briefkopf der Stadtkasse Köpenick, in dem ein goldenes Zwanzigmarkstück eingeschlagen war. Das war sicherlich ein erneutes Geschenk des Kaisers Wilhelm des Zweiten zur Geburt des zweiten Kindes im Hause Heldenreich, vermuteten August und Wilhelmine und bedankten sich beim Kaiser artig auch für dieses Goldstück. Eine Antwort erhielten sie nicht, vielleicht weil man bei Hofe mit diesem Dank nicht viel anfangen konnte.
Mit dem Namen „Wilhelm“ hatten sich Heldenreichs nicht geirrt, doch sie ahnten nicht, dass statt des Zweiten Wilhelms der nummernlose Wilhelm dahintersteckte. Und das war so gekommen:
Der Schuster Wilhelm Voigt hatte sich nach der zweiten Übernachtung bei Heldenreichs frühzeitig auf den Weg gemacht, damit niemand das Fehlen der Uniform – eigentlich nur ein Uniformrock – bemerken konnte. Bezahlen würde er später. Das hatte er sich fest vorgenommen!
Zu Fuß und mit der Eisenbahn kam er bei seiner Schwester in Rixdorf bei Berlin an und sah sich nach Arbeit um. Damit geriet er in die Mühlen der kaiserlich-amtlichen Bürokratie. Er bekam keine Arbeit ohne offizielle Wohngenehmigung, keine Wohngenehmigung ohne Ausweis und keinen Ausweis ohne Arbeitsnachweis. So drehte sich das Bürokratenkarussell ohne Unterlass, und der Amtsschimmel wieherte dazu.
Das hatte der Schuster Wilhelm Voigt alles schon in Wismar erlebt. Nun erteilte ihm die Stadt ebenso ein Arbeits- und Aufenthaltsverbot für ganz Berlin.
Damit hatte er schon gerechnet und deshalb in Dorpamarsch einen Plan ausgeklügelt, den er jetzt in die Tat umsetzte.
Bei einem Trödler besorgte er sich mithilfe der Uniformjacke eine passende Mütze, zog sich auf der Bahnhofstoilette der Rixdorf-Mittenwalder Eisenbahn um und kam danach als Hauptmann wieder zum Vorschein. Wie erwartet, begegnete man ihm voller Hochachtung. Die Männer zogen ihre Mützen zum Gruß oder lüfteten die Zylinder, die Damen deuteten manchmal sogar einen leichten Knicks an. Mit jedem Schritt wurde Wilhelm sicherer und schlüpfte immer mehr in diese Rolle. Als ihm dann aber eine Gruppe Gardesoldaten begegnete und nur nachlässig grüßte, hielt er diese an, stauchte sie zusammen und stellte sie anschließend unter seinen persönlichen Befehl zu einem Sondereinsatz. Der Rest ist weitgehend in der Öffentlichkeit unter dem Namen „Hauptmann von Köpenick“ bekannt geworden, allerdings mit einer kleinen Abweichung, die nie aktenkundig geworden ist.
Wilhelm Voigt fuhr mit den Soldaten zum Rathaus Köpenick und überprüfte die Stadtkasse, die einen Fehlbetrag von 1,67 Mark aufwies. Im Schreibtisch des Bürgermeisters fand er ein Zwanzigmarkstück, dessen Herkunft der Bürgermeister nicht belegen konnte. Kurzerhand ließ er Bürgermeister und Stadtkämmerer verhaften und zur Aufklärung des Falls nach Berlin schicken, beschriftete einen Umschlag mit der Anschrift in Dorpamarsch, steckte den Goldtaler hinein und warf den Brief im Vorbeigehen in den Postkasten am Rathauseingang. Niemand bemerkte das, und kein Mensch fragte später nach dem Goldstück – auch nicht der Bürgermeister. Wer weiß, ob er nicht doch Dreck am Stecken hatte. Sein Ziel, einen Pass zu ergattern, hatte Vogt nicht erreicht, aber zumindest hatte er die Uniformjacke bezahlt.