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1933 - Nomen est omen

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Fast vier Jahre lang hielt sich der „Tante-Emma-Laden“ nun schon. Emma selbst war Anfang des Jahres 33 Jahre alt geworden, Berta im letzten Jahr 26 und Dora 18 Jahre. Noch drei Jahre fehlten bis zu ihrer Volljährigkeit.

Wie immer gingen die großen Ereignisse der Welt an dem kleinen Dörfchen Dorpamarsch vorüber. Dass Adolf Hitler am 30. Januar Reichskanzler geworden war, nahm man ebenso nebenbei zur Kenntnis, wie den Brand des Reichstages am 27. Februar 1933. Na und?

Was ging das die Dorpamarscher an?

Das war alles weit weg!

So dachten auch die drei Schwestern, oder besser gesagt, sie dachten gar nicht, dass auch ihr Dorf von den Geschehnissen überrollt werden könnte.

Emma und Berta standen am Sonnabend, den 1. April 1933 wie an jedem Vormittag hinter dem Ladentisch und reagierten heute geduldig auf die April­scherze der Dorfjugend.

„Meine Mutter schickt mich, sie braucht dringend einen Eimer karierte Farbe!“, sagte ein Erstklässler ernsthaft.

„Darf es auch mit roten Blümchen sein?“, fragte Emma zurück und machte den Knirps etwas sprachlos.

„April, April!“, rief er noch schnell und rannte aus dem Laden. So ähnlich ging es schon den ganzen Vormittag.

Dora saß im Wohnzimmer und machte Schularbeiten, als sie von der Straße her ein Getöse wie von splitterndem Glas hörten. Neugierig kam sie in den Laden gerannt, um den neuen Aprilscherz zu erleben. Das musste ja ein ganz dicker Knaller sein!

Zunächst dachte Emma, einer der Dorfbengel hätte einen Fußball in eine Scheibe geschossen, doch dann hörte sie noch eine und noch eine …

Es war, als gingen viele Scheiben zu Bruch.

Emma und Berta rannten vor den Laden, um zu sehen, was da passiert war, da kam auch schon Phileas angerannt – im weißen Arztkittel, mit dem er sonst nie auf die Straße ging. Er hielt sich ein Handtuch vor das Gesicht, unter dem viel Blut hervorfloss und auf den Kittel tropfte. Er sah fürchterlich aus – wie ein Metzger, der gerade ein Schwein geschlachtet hatte.

Voller Panik rannte Emma ihm entgegen, doch Phileas rief: „Ins Haus! Schnell ins Haus! Sie sind hinter mir her!“ Er schob Emma vor sich her in den Laden, schloss die Tür hinter sich und ließ so schnell es ging, die Rolllä­den hinunter. Dann setzte er sich erschöpft auf einen Kartoffelsack und drückte erneut das blutige Handtuch auf die Stirn.

„Sie haben Steine auf mich geworfen!“, sagte er fassungslos und schüttelte vorsichtig den Kopf. „Judenschwein, haben sie gerufen! Ich bin doch gar kein Jude!“

Das stimmte! Phileas war tatsächlich kein Jude, auch wenn der Name „Rosenstrauch“ dies vermuten ließ. Wie und wann seine Vorfahren einmal zu diesem typisch jüdisch klingenden Namen gekommen waren, ließ sich nicht ermitteln. Doch er galt bisher in Dorpamarsch als angesehener (und einziger) Arzt, den die Menschen aller Altersgruppen aufsuchten, wenn sie krank wur­den oder einen Unfall hatten. Er war nicht nur der „Onkel Doktor“ bei den Kindern, sondern auch der „Herr Doktor“ bei den Erwachsenen.

Und plötzlich – von einem Tag auf den anderen – war er ein „Juden­schwein“?

Dora war inzwischen durch das Haus und die Hintertür geschlüpft und hatte vorsichtig um die Ecke gelugt. „Keiner da!“, teilte sie den anderen mit. Der Spuk war offensichtlich vorbei.

Die Schwestern zogen die Jalousien wieder nach oben. Vor dem Laden war alles ruhig. Kein Mensch ließ sich blicken.

Emma holte Verbandszeug hervor und begann, die blutende Platzwunde an Phileas‘ Stirn zu verbinden, während Phileas erzählte, er sei gerade in seinem Arbeitszimmer mit Schreibarbeiten beschäftigt gewesen, als die Fenster­scheibe splitterte und ein Stein ihn an der Stirn traf. Er dachte zunächst an einen Jungenstreich, griff sich ein Handtuch, drückte es auf die blutende Wunde und rannte vor das Haus. Dort wurde er bereits von einer Horde Men­schen erwartet, die weitere Steine nach ihm warfen und ihn als „Juden­schwein“ beschimpften. Da der Mob begann, sämtliche anderen Fenster des Hauses zu bombardieren, flüchtet er in Richtung Laden, wo er sich hinter den geschlossenen Jalousien in Sicherheit bringen konnte.

„Ich versteh das nicht!“, jammerte er immer wieder. „Warum haben die das gemacht? Ich bin doch gar kein Jude!“

„Hast du jemanden erkannt“, fragte Dora, die am praktischsten reagierte.

„Nein“, überlegte Phileas, „es war niemand aus dem Dorf. Das müssen Fremde gewesen sein!“

Mit verbundenem Kopf, begleitet von den drei Schwestern, wagte er sich schließlich aus dem Haus und ging zu seiner Praxis zurück. Auf der Straße war alles ruhig. Niemand ließ sich sehen, nur an einigen Fenstern wurden schnell die Gardinen vorgezogen, als die drei Frauen wie Racheengel vorne­weg und Phileas hinterdrein, vorbeikamen. Mit seinem Kopfverband sah er aus wie ein orientalischer Turban tragender Pascha hinter seinem Harem. Doch sein Verhalten war eher von Angst geprägt.

Vor dem Haus hatten sich einige Dörfler eingefunden, die sich die vielen zer­brochenen Scheiben kopfschüttelnd ansahen. Niemand konnte sich den Anschlag auf ihren angesehenen Doktor erklären, doch alle waren bereit, ihm jetzt unter die Arme zu greifen.

Zunächst wurden erst einmal die Glasscherben beseitigt. Den finanziellen Schaden musste die Familie Rosenstrauch allerdings selbst tragen.

Am nächsten Tag konnte man im Pamphusener Tagblatt lesen, dass die Par­teileitung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei am 28. März 1933 Regeln zur Abwehr einer jüdischen Gräuel- und Boykotthetze erlassen hatte. Angeblich sollten jüdische Bürger und Ladenbesitzer vor Gewaltan­wendung durch erboste Passanten geschützt werden.

In der Praxis begann damit ein allgemeiner Boykottaufruf gegen jüdische Geschäfte. Die vor den Läden aufgestellten SA- und SS-Wachen hatten ledig­lich die Aufgabe, die Bürger auf jüdische Geschäfte aufmerksam zu machen. Das galt selbstverständlich alles dem Schutz der Juden. Was konnte denn die NSDAP dafür, wenn der Hass der Deutschen auf die Juden so tief verwurzelt war, dass man sich nicht abhalten ließ, diesem auch Ausdruck zu verleihen?

Besonders in der Provinz kam es trotz des Verbotes zu Gewalttaten gegen jüdische Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte. Der Anschlag auf die Praxis des Dr. Phileas Rosenstrauch war wohl ein Irrtum gewesen.

Phileas sprach mit dem Bürgermeister, der volles Verständnis für die fatale Situation des Arztes empfand, zumal weitere Anfeindungen jederzeit zu erwarten waren. Der anrüchige Name forderte ja geradezu dazu heraus.

Da blieb nur eine Lösung: Der Familienname musste geändert werden. Das Ehepaar beschloss, den Geburtsnamen Emmas anzunehmen.

Doch das war gar nicht so einfach, denn das Amtsgericht verlangte von Phi­leas einen Nachweis über seine arische Abstammung und bestimmte auch den Umfang: In der Namenslinie „Rosenstrauch“ musste in mindestens fünf Generationen der arische Nachweis erbracht werden, in den anderen Namens­linien reichten drei Generationen.

Der Reichsverband der Standesbeamten Deutschlands hatte bereits einen Ahnenpass vorbereitet, und Phileas war der Erste, der in der Gemeinde einen solchen Pass zur Ausfüllung bekam. Er wurde ihm deshalb auch während einer offiziellen Feierstunde vom Bürgermeister überreicht. So konnte jeder sehen und im Pamphusener Tagblatt nachlesen, dass er arischer Abstammung war. Dieser Nachweis war der einzige Sinn des Ahnenpasses.

Aber der leere Pass musste zunächst erst ausgefüllt werden. Dazu benötigte Phileas die Originalurkunden seiner Eltern, Großeltern und Urgroßeltern über deren Geburt, Hochzeit und Tod. Drei Generationen genügten normalerweise für den Nachweis der arischen Abstammung, in dem Pass waren jedoch Fel­der für fünf Generationen vorbereitet. Die mussten von Phileas auch noch auf der väterlichen Linie gefüllt werden: Ein einzeln aufragender Zweig aus der Krone seines Stammbaumes.

Phileas machte sich ans Werk.

Bei den Eltern gab es keine Schwierigkeiten. Sie lebten noch in einem klei­nen Dorf im Alten Land an der Elbe. Phileas reiste persönlich dort hin, besuchte nicht nur nach langer Zeit wieder einmal seine Eltern, sondern setzte sich auch mit dem örtlichen Standesamt in Verbindung. Dort erhielt er die ersten Einträge mit behördlichem Stempel in seinen Ahnenpass.

Die Eltern und die Großeltern väterlicherseits waren alle arisch, trotz des selt­samen Namens. Es war auch nicht schwer, in dieser Richtung vier weitere Generationen aus den Kirchenbüchern herauszufinden. Da alle Vorfahren dieses Namens christlich getauft, getraut und begraben waren, gab es keine Zweifel an ihrer arischen Abstammung.

Bei den anderen Personen, den jeweils angeheirateten Ehepartnern mit deren Vorfahren wurde es schon schwieriger. Zum Glück hatten sie alle im Alten Land und Umgebung gelebt.

Phileas war mehrere Wochen unterwegs, klapperte viele Kirchen ab und las die Kirchenbucheintragungen durch, bis er alle Generationen bis zu den Urgroßeltern zusammenhatte. Alles arisch!

Nur in zwei Familien der fünften Generation fand sich ein Haar in der Suppe. Eine Familie trug den Namen „Simon“. Das klang doch arg jüdisch, aber beide Namensträger waren christlich getauft und auf einem christlichen Friedhof begraben. Die andere Familie hieß „Weber“. Das klang zumindest ziemlich deutsch.

Das wäre alles noch normal gewesen. Aber die weiteren Eintragungen machte das Ganze etwas problematischer.

Aus den beiden Ehen Simon und Weber waren jeweils Zwillinge hervorge­gangen. Die Webers bekamen zwei Knaben und die Simons zwei Mädchen. Und wie der Zufall so spielt: Die vier Kinder waren alle etwa gleich alt, wohnten im selben Dorf, gingen zusammen zur Schule und trafen sich später auch mit der übrigen Dorfjugend regelmäßig an der Milchplattform.

So stellte sich Phileas das jedenfalls vor. Aus den offiziellen Eintragungen ging nur hervor, dass die beiden Weber-Zwillingsjungen die beiden Simon-Zwillingsmädchen heirateten. Beide Mädchen kamen so zu dem Namen Weber, und es gab jetzt zwei Weberfamilien im Dorf und in der vierten Gene­ration von Phileas‘ Stammbaum.

Das war auch noch nichts Besonderes. Sie waren ja in keiner Form „blutsver­wandt“, ein Begriff, der im Dritten Reich eine große Rolle spielte.

Doch in der nächsten Generation – das war Phileas‘ dritte – passierte etwas Ungewöhnliches. Aus beiden Ehen ging ein Kind hervor: Ein Junge und ein Mädchen, und diese beiden heirateten ebenfalls. Das war rechtlich als Cousin und Cousine durchaus nicht zu beanstanden, doch wegen der Zwillingseigen­schaften ihrer Eltern etwas zweifelhaft.

Das meinte auch der Standesbeamte, der die Unterlagen durchsah. Das war doch arg am Rande einer Blutschande, wenn nicht sogar schon Inzest, aber die Urkundenlage gab das nicht anders her. Aber der Standesbeamte war einerseits ein gutmütiger Mensch, der es Phileas nicht unnötig schwer machen wollte, sich von dem jüdisch klingenden Namen zu befreien, ande­rerseits aber auch die bedenklichen Eheschließungen in grauer Vorzeit nicht an die große Glocke hängen wollte.

„Herr Doktor Rosenstrauch“, führte er aus, „ich bin verpflichtet, alle Eintra­gungen genau nach der Urkundenlage vorzunehmen. Wenn ich diese Doku­mente …“, er zeigte auf die Abschriften aus den Kirchenbüchern, „… aber gar nicht zu sehen bekomme, kann ich sie auch nicht eintragen. Sie brauchen ohnehin nur einen Nachweis bis zur dritten Generation.“ Damit reichte er Phileas die brisanten Blätter zurück und begann mit den Eintragungen bis zu Phileas‘ Urgroßeltern.

Der Ahnenpass war nun komplett und wurde als Ariernachweis vom Amtsge­richt Pamphusen anerkannt. Phileas war somit einer der ersten Deutschen mit lupenreiner arischer Vergangenheit, ein echter Volksdeutscher also!

Das weitere Verfahren der Namensänderung war dann nur noch eine Form­sache.

Dr. Phileas Heldenreich konnte unbehelligt seine Arztpraxis wieder eröffnen, und es gab keine weiteren gewalttätigen Anschläge auf ihn.

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