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1912 - Flaschenpost

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Während Emma brav zur Schule ging, wuchs Berta wohlbehütet bei ihren Eltern in Dorpamarsch auf. Die nächsten Jahre vergingen ohne Höhepunkte, abgesehen davon, dass ihr Vater August Heldenreich noch immer gute Geschäfte mit der Marine machte. Er tat immer so, als würde er den Kaiser persönlich kennen, in Wirklichkeit bekamen sich die beiden jedoch nie zu sehen. Dafür war er bei Admiral von Tirpitz bestens bekannt, auch wenn die beiden sich ebenfalls nie persönlich kennen gelernt hatten. Das sollte sich aber am 28. Januar 1911 ändern. Einen Tag vorher war Alfred von Tirpitz von Kaiser Wilhelm dem Zweiten zum Großadmiral ernannt worden und am 28. Januar fand in Wilhelmshaven ein großer Empfang an Bord des Panzer­kreuzers „SMS Blücher“ statt, zu dem alles eingeladen war, was in der Marine Rang und Namen hatte.

Auch an den Hof- und Marinelieferanten August Heldenreich hatte man gedacht, und Tirpitz erinnerte sich sogar an den Ehrentaler des Kaisers und fügte handschriftlich hinzu, dass auch Emma herzlich willkommen sei. Er wäre froh, seinen besten Lieferanten auf diese Weise einmal persönlich ken­nen zu lernen, und mit ein bisschen Glück könnten sie auch dem Kaiser vor­gestellt werden.

August wunderte sich etwas, dass nur Emma eingeladen war, obwohl Berta je ebenfalls ein Goldstück bekommen hatte. Das konnte nur ein Versehen sein. Er beschloss deshalb, beide Mädchen mitzunehmen. Emma war gerade elf Jahre alt geworden und Berta viereinhalb.

Mit Postkutsche und Eisenbahn reisten die Drei nach Wilhelmshaven, staun­ten über die neue Kaiser-Wilhelm-Brücke, die vier Jahre zuvor fertiggestellte größte Drehbrücke Deutschlands, welche die Stadt mit dem Südhafen ver­band, und landeten schließlich am großen Portal zum Marinehafen. Dort kümmerte sich ein junger Leutnant zur See um sie und erklärte, dass er sie während des ganzen Empfangs begleiten werde. Er war extra für die Betreu­ung Emmas abgestellt worden. Dass jetzt zusätzlich auch noch Berta dabei war, schien ihn wenig zu erschüttern. Das war August durchaus recht, denn als Zivilist waren ihm die maritimen Gepflogenheiten nicht sehr geläufig.

Die erste Klippe mussten sie schon beim Betreten des Panzerkreuzers über­winden. Als sie in Begleitung des Leutnants die Gangway betraten, hörten sie vom Schiff her ein merkwürdiges Pfeifen. Dort stand ein Matrose und blies mit dicken Backen auf einer kleinen aber durchdringenden Pfeife.

Das war das in der Marine übliche „Seite pfeifen“, eine Ehrerweisung für Offiziere und hochrangige Gäste, die an Bord kamen oder das Schiff verlie­ßen. August nahm das nur so nebenbei wahr, ohne es als Ehre für sich selbst zu deuten. Die beiden Mädchen schauten interessiert nach unten ins Wasser. Plötzlich blieb Berta stehen, zeigte nach unten und rief: „Ein Fisch! Kuck mal, ein ganz großer Fisch!“

Auch August und Emma blieben stehen und beugten sich über die Reling nach unten. Tatsächlich: Dort schwamm ein recht großer Fisch im Wasser. Der Leutnant versuchte, die Mädchen zum Weitergehen zu veranlassen, doch diese waren vorrangig an dem Fisch interessiert. Sie bemerkten natürlich nicht, was sie damit an Bord auslösten, denn der Bootsmannsmaat, der die Pfeife blies, kam langsam in Bedrängnis. Das Protokoll verlangte, dass er während des ganzen Weges über die Gangway ununterbrochen zu pfeifen hatte. Doch niemand rechnete mit dem Interesse zweier kleiner Mädchen an einem großen Fisch. Nun ging dem Bootsmannsmaat langsam die Puste aus. Die Backen wurden immer dünner, sein Gesicht nahm eine blaurote Farbe an, doch tapfer presste der wackere Mann noch die allerletzte Luft aus seiner Lunge, bis der Ton schließlich mit einem erbärmlichen Piepser erstarb. Erst jetzt gelang es dem Leutnant, die Mädchen von der Reling loszulösen und mit ihrem Vater auf das Schiff zu führen. Der Bootsmannsmaat stand unbeweg­lich mit starrem Blick nach vorn auf dem Deck und würdigte die Gäste keines Blickes. Wahrscheinlich holte er schon wieder Luft für den nächsten Gast, der hoffentlich in normalem Tempo an Bord kam.

Diesen maritimen Lapsus nahm niemand den Mädchen übel, soweit man das überhaupt bemerkt hatte.

Der Leutnant kümmerte sich rührend um die Familie, und August wurde end­lich dem Großadmiral von Tirpitz vorgestellt. Das heißt, eigentlich schloss er sich nur der Schlange von Gratulanten an. Als er endlich einem anderen Offi­zier seinen Namen nannte, der ihn dann dem Großadmiral vorstellte, sah Tir­pitz nur kurz auf, um sich dann gleich dem nächsten Gratulanten zu widmen. Das war alles! Vom Kaiser sah er nur die Mütze aus der Ferne, denn dieser war umringt von einem noch größeren Kreis von Personen, die alle hofften, seine Aufmerksamkeit zu erringen. Darauf konnte August verzichten.

Die Mädchen genossen inzwischen einen Rundgang durch das Schiff. Das war mächtig aufregend, und der Leutnant bemühte sich, alle noch so kindli­chen Fragen geduldig zu beantworten. Sogar auf die große Kanone wollten die Mädchen hinaufsteigen, und der Leutnant hob sie auf den Geschützstand, wo sie durch das lange Rohr schauen konnten. Er zeigte ihnen, mit welchem Hebel ein Schuss ausgelöst werden konnte. Die Mädchen versuchten es auch einmal. Es ging ganz leicht. „Nun habt ihr ein Schiff versenkt!“, meinte der Leutnant lachend.

Schließlich gelangten sie auch in die Offiziersmesse, in der eine gewaltige Batterie an Getränken aufgebaut war. Eine Sektflasche nach der anderen wurde von diensteifrigen Matrosen geöffnet, und die Mädchen zuckten jedes Mal zusammen, wenn die Korken mit lautem Knall herausflogen. Sie selber bekamen jede ein Glas Limonade, doch die Sektflaschen brachten Emma auf eine Idee: „Eine Flaschenpost!“, rief sie begeistert. „Wir schreiben eine Fla­schenpost! Ist das möglich?“, fragte sie den Offizier.

„Alles, was ihr wollt!“, sagte dieser und griff zu einer leeren Sektflasche. „Jetzt braucht ihr nur noch Papier und Tinte. Ich besorge euch was. Bleibt so lange hier sitzen und rennt nicht weg!“

Damit verschwand er und kam nach einigen Minuten mit einem Bogen Papier, einem Tintenfass und einem Federhalter zurück. Die Mädchen zogen sich an einen Tisch in der Ecke der Messe zurück. „Was sollen wir schrei­ben?“, fragten sie den netten Leutnant.

„Was ihr wollt! Schreibt doch einfach, wo ihr gerade seid!“, machte er einen Vorschlag.

„Wie heißen Sie?“, fragte sie ihren Betreuer. Der antwortete überrascht: „Leutnant zur See Hellmuth von Ruckteschell.“

„Haben Sie auch Kinder?“, wollte Emma jetzt wissen.

„Das nicht, aber ich habe 13 Geschwister. Da kenn ich mich mit kleinen Mädchen aus. Mein Vater ist Pastor in Hamburg-Eilbeck.“

Emma nickte, tauchte die Feder ins Tintenfass und schrieb mit ihrer allerbes­ten Schrift:

Das ist eine wichtige Flaschenpost.

Wir sind hier auf dem Panzerkreuzer SMS Blücher zusammen mit Kaiser Wil­helm dem Zweiten und Leutnant zur See Hellmuth von Ruckteschell. Wir haben gerade ein Schiff versenkt. Das hat Spaß gemacht. Bitte schicken Sie diese Nachricht an Wilhelmine Heldenreich, Dorpamarsch im Deutschen Reich. Unser Vater ist gerade bei dem großen Admiral Tirpitz und lässt auch grüßen.

Viele Grüße von Emma und Berta.

Der Leutnant rollte das Blatt zusammen und steckte es in eine Sektflasche. Da es ihm nicht gelang, den dicken Korken wieder in die Öffnung zu quet­schen, nahm er den Korken einer Weinflasche und verschloss die Flaschen­post.

„Nun werfen wir sie ins Wasser!“, forderte Emma, und die Drei gingen an Deck, wo sie Berta persönlich über die Reling warf.

Ebenfalls zu dem Empfang eingeladen war der Wissenschaftler Knud Ras­mussen, der mit dem Bruder des Kaisers Prinz Heinrich von Preußen, nach dem später die bekannte Prinz-Heinrich-Mütze benannt wurde, befreundet war.

Rasmussen war der Sohn eines dänischen Missionars und einer Grönländerin. Er lebte in Grönland und war ein noch halbwegs unbekannter Polarforscher. Zurzeit befand er sich in Deutschland, um sich über die technischen Möglich­keiten von Fesselballons zu informieren, die er für seine Forschungen benut­zen wollte.

Er stand zufällig in der Nähe, als Emma und Berta die Flaschenpost in das Hafenbecken warfen, und beschloss, ihr zu einer etwas weiteren Reise zu ver­helfen. Als die Mädchen wieder unter Deck waren, ließ er die Flasche von einer Hafenbarkasse herausfischen und nahm sie an sich.

Ein Vierteljahr später kam er mit einem Fesselballon in sein Haus in der klei­nen Missions- und Handelsstation Ilulissat in der Diskobucht an der West­küste Grönlands zurück. Die Flasche landete mit anderem Gepäck auf dem Dachboden und geriet vorerst in Vergessenheit.

Knud Rasmussen widmete sich seinen Forschungen, welche durch die Nähe des Jakobshavn-Gletschers ausgelöst worden waren. Dieser Gletscher galt als der produktivste der Welt, weil er sich täglich etwa 20 Meter ins Meer schob und dabei eine ungeheure Menge an Eisbergen abstieß.

Rasmussen wollte mithilfe des Ballons eine Gletscherzunge beim Kalben von Eisbergen beobachten.

Außerhalb der Siedlung ließ er den Ballon aufsteigen und stieg mit einem Gehilfen persönlich in den Korb, um sich bei günstigem Wind über die Glet­scherzunge zu erheben. Dabei kam auch die Flaschenpost wieder zum Vor­schein, und Rasmussen nahm sie schmunzelnd mit an Bord. Die Flaschenpost würde eine lange Reise vor sich haben.

Mit einigen Messgeräten stieg Rasmussen auf, und der Ballon näherte sich der Abbruchkante. Von hier aus war der Vorgang des „Kalbens“, wenn sich ein Eisberg von dem Gletscher löste, gut zu beobachten.

Als sich der Ballon gerade über der Eiskante befand, nahm Rasmussen die Flasche und ließ sie nach unten fallen. Gespannt beobachteten die beiden, ob sie zerschellte. Doch das Glas war so stark, dass es keinen Schaden nahm. Die Flasche landete genau in einem Riss, wo sie stecken blieb.

Dann begann etwas Erstaunliches, das die beiden Forscher fasziniert beob­achteten. Durch die Wucht des Aufpralls weitete sich der Riss im Eis, verlän­gerte sich erst langsam, dann immer schneller nach beiden Seiten bis zum Eisrand. Dann wurde der Spalt breiter, bis sich ein riesiger Eisberg vom Glet­scher löste und ins Wasser platschte. Der Begriff „Platschen“ kann nicht beschreiben, was tatsächlich geschah. Mit gewaltigem Getöse stürzte der Eis­berg ins Wasser und erzeugte eine über hundert Meter hohe Welle. Die For­scher bekamen sogar Angst, von der Welle in ihrem Ballon erfasst zu werden. Doch das Wasser beruhigte sich bald wieder.

Die beiden Forscher fielen sich in die Arme. So gut hatte noch nie jemand das Kalben eines Gletschers und die Entstehung eines Eisberges beobachten kön­nen. Emmas und Bertas Flaschenpost hatte ihnen ungeahntes Glück gebracht.

Der Eisberg war auf diese Weise etwa einen Tag früher als normal auf seine lange Reise über den Atlantik gebracht worden. Es war der 2. August 1911.

Und die Flaschenpost? Die reiste mit. Sie blieb auf dem Berg liegen und fror nach kurzer Zeit fest.

Nach dem Besuch auf der SMS Blücher hatten die Mädchen in Dorpamarsch die Flaschenpost schon bald vergessen. Doch diese setzte ihren Weg fort. Der Eisberg hatte es nicht eilig. Er bewegte sich mit dem Westgrönlandstrom nach Norden in die Baffin Bay hinein. Doch das war eine Sackgasse. Nach Norden ging es nicht mehr weiter. Der Westgrönlandstrom machte deshalb kehrt, änderte seinen Kurs nach Süden und seinen Namen in „Baffinstrom“. Auf ihm segelten Eisberg samt Flasche an der Westküste Baffin Islands ent­lang in die Labradorsee.

Am 14. April 1912, um 23.40 Uhr Ortszeit befand sich der Eisberg nahe der Neufundlandbank. Dort traf er dummerweise auf das damals größte Passa­gierschiff der Welt, die „Titanic“, welche den Zusammenstoß nicht überlebte und am nächsten Tag gegen 02.20 Uhr sank. Ohne die verfrühte Abspren­gung des Eisberges hätte dieser erst einen Tag später die Stelle passiert und die Titanic höchstens aus der Ferne gesehen.

Durch die Wucht der Kollision brach die Flaschenpost aus dem Eisberg her­aus und fiel auf das Deck der Titanic, wo sie zwischen anderen Eisbrocken liegen blieb. Dort bemerkte sie ein Matrose und wollte sie ins Wasser werfen. Dabei entdeckte er den eingeschlossenen Papierbogen und warf die Flasche in ein Rettungsboot, das er gerade ins Wasser lassen wollte.

Einige Stunden später wurde das Boot von den Matrosen der zu Hilfe geeilten „Carpathia“ aufgenommen. Mit Erstaunen sahen sie die Flaschenpost und brachten sie zu ihrem Kapitän, der sie öffnete und das zusammengerollte Blatt entnahm. Es war ein offizieller Briefbogen des deutschen Panzerkreu­zers SMS Blücher, wie man dem Briefkopf entnehmen konnte. Wie kam die­ser in die Flaschenpost?

Mit Verwunderung las Kapitän Arthur Henry Rostron die Nachricht:

Das ist eine wichtige Flaschenpost.

Wir sind hier auf dem Panzerkreuzer SMS Blücher zusammen mit Kaiser Wil­helm dem Zweiten und Leutnant zur See Hellmuth von Ruckteschell. Wir haben gerade ein Schiff versenkt. Das hat Spaß gemacht. Bitte schicken Sie diese Nachricht an Wilhelmine Heldenreich, Dorpamarsch im Deutschen Reich. Unser Vater ist gerade bei dem großen Admiral Tirpitz und lässt auch grüßen.

Viele Grüße von Emma und Berta.

Kapitän Rostron ließ das Blatt sinken und blickte hilflos herum. Der Brief war ihm ein einziges Rätsel.

War der Panzerkreuzer SMS Blücher mit Kaiser Wilhelm und Großadmiral von Tirpitz in der Nähe?

Wer waren Emma und Berta? Waren das Tarnnamen?

Hatten sie gerade die Titanic versenkt?

Das war unglaublich! Rostron entschloss sich, die Nachricht an die britische Admiralität weiterzuleiten, wo sie allerdings verloren ging. So erfuhren die beiden Mädchen nie, welche Abenteuer ihre Flaschenpost inzwischen erlebt hatte.

Kurz nach diesem Ereignis – nach den Sommerferien – musste Emma die Dorfschule verlassen und besuchte die Höhere Mädchenschule in Pamphu­sen. Sie bewohnte ein kleines Zimmer bei der ehrenvollen Witwe Zimper, die alles andere als zimperlich war. Mit aller Strenge achtete sie darauf, dass Emmas Lebenswandel den sittlichen Regeln einer jungen Dame entsprach. Die Witwe befand sich dabei durchaus in einem Interessenkonflikt, denn August Heldenreich bezahlte gut, und diese Einnahmequelle wollte sie nicht durch allzu kleinliche Regularien in Gefahr bringen, denn ihr war klar, dass Emma ein wichtiges Wort bei der Zimmerwahl mitsprechen konnte. Sie selbst hatte dabei eher den Status einer Dienstbotin, die von dem Logiergast bezahlt wurde. Also bediente sie Emma so gut es ging, weckte sie morgens rechtzeitig für den Schulbesuch, bereitete alle Mahlzeiten und servierte sie in Emmas Zimmer, während sie selbst in der Küche speiste. Die Kleidung wurde ebenfalls von ihr in Ordnung gehalten. So konnte Emma gut auskom­men, doch in einem Punkt gab es wirklich keine Zugeständnisse: Niemals würde sie zulassen, dass gewisse Grenzen des sittlichen Anstandes über­schritten wurden. Kurz gesagt: Kein männliches Wesen, egal welchen Alters, durfte sich dem Logiergast nähern.

So lebte Emma zwar in der Kreisstadt, hatte aber außer ihren Schulkamera­dinnen – und die waren ja ebenfalls weiblich – keine anderen Kontakte.

Jeden Sonnabend nach dem Unterricht holte August sie persönlich mit dem Zweispänner ab, damit sie das Wochenende zu Hause verbringen konnte. Auf der Fahrt gab es immer viel zu erzählen, und so ergab sich ein immer stärke­res Vertrauensverhältnis zu ihrem Vater. Auch auf Berta freute sie sich jedes Mal. Diese litt am meisten unter der zeitweisen Trennung, denn die Schwes­tern hingen sehr aneinander.

Dorpamarsch

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