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1929 - Das Ende Europas

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Noch am Silvesterabend hatte Zubrowski Wilhelmine einen Antrag gemacht, den sie mit freudiger Erregung auch wohlwollend annahm. Seitdem er in ihr Leben getreten war, hatte sie wieder angefangen, daran teilzuhaben. Nur die Töchter Emma, Berta und Dora sahen mit skeptischer Erwartung in die Zukunft. Sie konnten sich den aalglatten Geschäftsmann beim besten Willen nicht als Stiefvater vorstellen. Das galt besonders für die noch nicht volljäh­rige vierzehnjährige Dora. Allerdings verzichtete Zubrowski darauf, sich „Vater“ nennen zu lassen. Er wurde allgemein als „Onkel Fredi“ bezeichnet.

Anfang des Jahres begab sich Zubrowski, wie er sagte, auf eine längere Geschäftsreise. Wilhelmines Frage nach dem Anlass ließ er unbeantwortet, doch er deutete an, dass sich ihr Vermögen, wenn alles gut ging, sehr bald erheblich vermehren würde. Sie ließ ihn voller banger Erwartung ziehen.

Allerdings ließ er den ganzen Januar über nichts von sich hören. Noch nicht mal eine kurze Postkarte kam von ihm an. Als er sich auch im Februar nicht meldete, machten sich alle einige Sorgen. Zubrowski blieb verschollen.

Ende Februar teilte der wichtigste Lieferant für Kolonialwaren mit, dass er ab sofort nur noch gegen sofortige Barzahlung liefern würde. Das hatte er noch nie gefordert, und es schien ihm auch außerordentlich peinlich zu sein, darauf hinzuweisen, dass der letzte Scheck von der Bank nicht eingelöst worden war.

Emma war empört. Das konnte nur ein Irrtum sein.

Am nächsten Tag fuhr sie persönlich zur Nordmarschbank Pamphusen, um das Missverständnis aufzuklären. Dort erfuhr sie, dass das Geschäftskonto praktisch leer war. Der Kassenleiter zeigte ihr die zahlreichen Barschecks, die in den letzten Wochen mit Zubrowskis Unterschrift eingereicht worden waren. Immerhin hatte er von Wilhelmine Heldenreich Bankvollmacht erhalten. Eine größere Überweisung war von dem Geschäftskonto auf Wilhelmines Privat­konto geflossen. Sie entsprach genau dem Betrag der angeblichen Dividende durch den Norddeutschen Lloyd. Ansonsten hatte Zubrowski das Geschäfts­konto vollständig leer geräumt.

Emma war wie am Boden zerstört. Zubrowski würde nie wieder auftauchen. Das war schon mal klar! Es blieb ihr nichts weiter übrig, als ihre Mutter von diesem schweren Schlag in Kenntnis zu setzen.

Wilhelmine war nicht in der Lage, die Situation richtig einzuordnen. „Das kann nicht sein!“, widersprach sie. „Das wird sich alles noch aufklären! Wart‘ nur, bis Fredi wiederkommt!“

„Der kommt nicht mehr!“, behauptete Emma.

„Aber ich habe doch die Dividende bekommen!“

„Die war von unserem eigenen Geschäftskonto. Er hat dir unser eigenes Geld überwiesen.“

„Aber das Geld habe ich noch. Das kann ich ja zurückgeben!“, atmete Wilhel­mine auf. Sie hoffte immer noch, dass Zubrowski bald auftauchen und alles klären würde.

Es wurde noch schlimmer: Als Wilhelmine die Rücküberweisung vornehmen wollte, stellte sich heraus, dass auch ihr Privatkonto restlos geplündert worden war. Zubrowski hatte ganze Arbeit geleistet. Somit war auch die letzte Hoff­nung zerstört worden. Das gediegene und angesehene Handelshaus Helden­reich war bankrott und Wilhelmine persönlich pleite. Alles, was der Familie noch blieb, war das Einkommen Phileas‘ aus der Arztpraxis, und das war herz­lich wenig.

Aber Wilhelmine hatte ja noch das dicke Aktienpaket der Lloyd-Reederei. Das konnte ja nicht völlig wertlos sein.

Am Montag, den 25. März 1929, ließ sie sich mit dem Postbus zum Bahnhof in die Kreisstadt fahren und setzte sich in den Zug nach Bremen. Dort fragte sie sich zu dem bekannten Verwaltungsgebäude des Norddeutschen Lloyd in der Papenstraße durch. Schon von Weitem war der markante Turm zu sehen.

Als der grimmige Pförtner am Haupteingang sie auf ihre Frage nach dem Generaldirektor zunächst abweisen wollte, öffnete sie ihre Reisetasche und holte das Aktienpaket heraus. Das war wie eine Eintrittskarte. Der Pförtner rief einen Botenjungen heran, der sie persönlich zum Sekretariat des General­direktors Carl Stimming führte.

Die ältliche Chefsekretärin Fräulein Hansen war es gewohnt, alle Belästigun­gen von ihrem Chef fernzuhalten, doch auch hier erwiesen sich die Aktien als hilfreich, wenn auch in einer anderen Richtung. Sie warf nur einen kurzen Blick auf die Aktiendrucke, bat Wilhelmine, einen Augenblick zu warten und klopfte an die Tür des Chefs.

„Herr Generaldirektor“, sagte sie mit gedämpfter Stimme, nachdem sie die Tür sorgfältig hinter sich geschlossen hatte, „draußen bittet eine Frau Wilhel­mine Heldenreich vorgelassen zu werden.“

„Na und?“, fragte Stimming, ohne den Kopf von seinem Schreibtisch zu heben. „Leiten Sie sie weiter! Das Übliche!“

„Da ist noch etwas, Herr Generaldirektor!“, meinte die wackere Vorzimmer­dame.

Stimming hob den Kopf und schaute fragend.

„Sie hat einige Papiere bei sich, die sie nur Ihnen zeigen will.“

Das erweckte allerdings Stimmings Interesse.

„Wie heißt die Frau? Heldenreich? Etwa Heldenreich aus Dorpamarsch?“

„Das ist wohl richtig“, bestätigte Fräulein Hansen.

„Lassen Sie sie bitte rein, Fräulein Hansen!“, sagte Stimming und erhob sich, um ihr entgegenzugehen.

„Ah, Frau Heldenreich aus Dorpamarsch!“, begrüßte er Wilhelmine, die etwas erstaunt über diesen Empfang war.

„Herr Generaldirektor …“, begann sie, doch Stimming unterbrach sie, bot ihr einen Platz in einer geräumigen Sitzgarnitur an und setzte sich ihr gegenüber.

„Es freut mich sehr, Sie persönlich kennen zu lernen! Sie sind doch die Gattin des Hoflieferanten August Heldenreich?“

Wilhelmine kam aus dem Staunen nicht heraus.

„Ich war es“, bestätigte sie zögernd.

„Was soll das heißen?“, fragte Stimming nach.

„Mein Mann ist vor fünf Jahre gestorben.“

„Oh, das tut mir leid! Mein herzliches Beileid!“

Fräulein Hansen brachte ein kleines Tablett mit Kaffee, Sahne und Zucker und goss zwei Tassen ein. Nachdem sie sich wieder zurückgezogen hatte, begann Stimming erneut: „Sie wissen vielleicht nicht, dass ich meine maritime Lauf­bahn bei der Kaiserlichen Marine begonnen habe.“ Nach seinem Studium der Rechtswissenschaften, erklärte er, habe er die Laufbahn in der Marineverwal­tung eingeschlagen und war von 1903 bis 1910, zuletzt als Abteilungsvor­stand, bei der Kaiserlichen Marineintendantur in Kiel. Später wurde er als Hilfsreferent ins Reichsmarineministerium berufen und avancierte zum Dezer­nenten für die Garnisonsverwaltung. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er mit der Organisation der Proviantzentrale betraut. 1915 trat er als Referent der Reichsfinanzverwaltung zum Reichsschatzamt über. 1917 wurde er zum Geh. Oberregierungsrat ernannt, verließ aber im gleichen Jahr den Reichsdienst und trat als Mitglied in den Vorstand des Norddeutschen Lloyd ein. 1921 wurde er Generaldirektor.

„Und sehen Sie“, schloss er seinen kurzen Lebenslauf ab, „während meiner Zeit bei der Proviantzentrale habe ich Ihren Gatten als zuverlässigen Lieferan­ten kennen gelernt. Er war ja immerhin Kaiserlicher Hoflieferant, auch wenn das jetzt nichts mehr zu bedeuten hat.“

Wilhelmine kam aus dem Staunen nicht heraus. Jetzt würde wohl alles wieder gut werden.

„Fräulein Hansen sagte mir, dass Sie einige Papiere haben, die sie mir zeigen wollen“, fuhr Stimming fort.

Wilhelmine öffnete erneut ihre Reisetasche, holte das Aktienpaket heraus, und legte es auf den Teetisch. Es war ihr etwas peinlich, über Geld zu sprechen, doch sie fasste sich ein Herz.

„Ich habe diese Aktien erworben und möchte gerne wissen, was sie jetzt für einen Wert haben“, sagte sie leise.

Stimming warf nur einen kurzen Blick auf die bunt bedruckten Bogen mit dem Bild eines stolzen Passagierschiffes und den großen Buchstaben des Nord­deutschen Lloyds und fragte dann: „Wo haben Sie denn diese Drucke her?“

Wilhelmine merkte sofort, dass er nicht von „Aktien“ sprach und erzählte frei­mütig, wie Zubrowski ihr die Anteilscheine beschafft hatte. Stimming hörte aufmerksam zu und unterbrach Wilhelmine nicht. Er schaute sie eine Weile bedauernd an und sagte dann: „Ich fürchte, gnädige Frau, Sie sind einem Betrüger aufgesessen. Diese angeblichen Anteilscheine oder Aktien haben nur den Wert des Papiers, auf dem sie gedruckt sind. Es sind ganz plumpe Fäl­schungen. Solche Scheine hat der Norddeutsche Lloyd niemals herausgege­ben.“ Er drückte auf einen Klingelknopf, und Fräulein Hansen kam mit einem Notizblock herein: „Herr Generaldirektor?“, fragte sie, und Stimming ließ sich eine Liste aller Aktionäre bringen.

„Sehen Sie, Frau Heldenreich, Sie sind auch nicht unter unseren Aktionären eingetragen. Die meisten kenne ich ohnehin persönlich.“

Seine Sekretärin machte ihn auf ein Schreiben aufmerksam, das sie ebenfalls mitgebracht hatte. Stimming warf einen Blick darauf und sagte erkennend: „Ach, Sie haben ja bereits an die Werft geschrieben. Jetzt erinnere ich mich. Ich habe das Schreiben für einen Irrtum gehalten. Es läuft noch eine Anfrage bei unserer Hausbank betreffs des Aktienhandels. Das erübrigt sich ja jetzt!“ Er schaute Wilhelmine bedauernd an.

Diese begriff nur langsam, dass ihre einzige Hoffnung nun auch zerstört war. „Das Schiff, die Europa, gibt es nicht?“, fragte sie ungläubig.

„Doch, die Europa ist unser ganzer Stolz!“, erwiderte Stimming. „Sie ist im August vom Stapel gelaufen und liegt jetzt am Ausrüstungskai bei Blohm & Voss in Hamburg. Doch leider haben Sie keine Anteile daran.“

Irgendwie war Wilhelmine dankbar, dass wenigstens dieses Detail stimmte. Nur sehr langsam setzte sich in ihrem Kopf aber die Wahrheit durch. Zubrowski hatte alle Einzelheiten sehr genau geplant, um sie einzuwickeln, und sie war darauf reingefallen. Ihr gesamtes Privatvermögen, ihr ganzes Erbe und auch das Geschäftsvermögen waren futsch. Womöglich stimmte noch nicht einmal sein Name. Er hatte nie über seine Familie gesprochen.

Stimming schwieg eine ganze Weile, damit Wilhelmine ihren Schock verar­beiten konnte, doch dann fand er es für angebracht, ihr sein Bedauern auszu­sprechen.

„Liebe Frau Heldenreich“, meinte er, „ich bedauere sehr, dass ich keine bes­sere Nachricht für Sie habe, aber in Anbetracht der guten Geschäftsbeziehun­gen, die ich zu Ihrem Gatten gehabt habe, könnte ich überlegen, ob wir nicht einige Aufträge auch in Zukunft über ihr Handelshaus abwickeln könnten.“

„Handelshaus?“, zweifelte Wilhelmine, „Ich fürchte, wir besitzen kein Han­delshaus mehr. Es ist alles weg!“

Sie stand auf, steckte die herumliegenden Papiere zurück in ihre Reisetasche und ging zur Tür. „Ich danke Ihnen, Herr Generaldirektor“, flüsterte sie im Hinausgehen, und Stimming hielt sie nicht auf. Er konnte ihr auch nicht mehr helfen.

Wie in Trance verließ Wilhelmine das Bürogebäude, ging zurück zum Bahn­hof und setzte sich auf eine Bank. Sie brauchte frische Luft, um nicht zu ersti­cken. Was sollte sie jetzt tun? Wie sollte sie ihren Töchtern das alles erklären? Sie konnte ihnen doch nie wieder in die Augen sehen.

Dann fasste sie einen Entschluss: Sie ging zum Fahrkartenschalter und fragte nach dem nächsten Zug nach Hamburg. Schon eine Stunde später saß sie in dem D-Zug Richtung Hamburg. Die Landschaft ließ sie unbeteiligt an sich vorbeiziehen. Erst als die Waggons über die Elbbrücken ratterten, sah sie auf den Hamburger Hafen hinab. Hunderte von Segelschiffen lagen elbabwärts, es war ein geschäftiges Treiben von Hafenbarkassen und kleineren Frachtdamp­fern, ein großes Schiff war nicht zu erkennen.

Der Zug endete im Hamburger Hauptbahnhof mitten in der Stadt. Ein Bahnbe­amter erklärte ihr den Weg zum Hafen mit der U-Bahn über Berliner Tor bis zum Baumwall. Dort fuhr diese aber nicht mehr unter der Erde, sondern als Hochbahn oberhalb der Landungsbrücken.

Wilhelmine stieg an den Landungsbrücken aus. Vor ihr befand sich das impo­sante Hafengebäude mit dem großen Pegelturm und den vielen Kupferdä­chern, die mit leuchtend grüner Patina überzogen waren. Als sie eins der Portale zu den Landungsbrücken durchschritt, lag vor ihr die Elbe mit regem Schiffsverkehr. Hier legten die größten Dampfschiffe und Überseedampfer an, hauptsächlich im Passagierverkehr. Wilhelmine kam aus dem Staunen nicht heraus. Viele der Schiffe waren größer als sie erwartet hatte. Dann öffnete sich ihr Blick zum anderen Elbufer hinüber. Dort lag das allergrößte Schiff von allen neben den großen Schildern mit dem Namen der Werft: BLOHM & VOSS. Das musste der Schnelldampfer „Europa“ sein. Ein gewaltiger Anblick! Er überstrahlte einen Moment alle dunklen Gedanken Wilhelmines, bis ihr wieder klar wurde, dass sie an allen jetzt keinen Anteil mehr haben würde. Zubrowski, was hast du nur aus mir gemacht?, dachte sie verzweifelt.

Zubrowski? Tatsächlich Zubrowski! Einen Augenblick glaubte Wilhelmine, sie hätte ihn in der Menschenmenge gesehen, doch im nächsten Moment war er auch schon wieder verschwunden. Es wäre auch ein merkwürdiger Zufall gewesen, wenn er gerade hier auftauchte.

Sie schlenderte ziellos die Landungsbrücken entlang, las die Namen der vielen Schiffe und deren Zielorte in aller Welt. Dann stand sie an einem kleineren Anleger mit einer Hafenbarkasse. „Zum Ausrüstungskai Blohm & Voss“ stand auf einem aufgestellten Schild. Einige Hafenarbeiter stiegen ein und setzten sich auf die seitlichen Sitzbänke. Einem plötzlichen Impuls folgend, stieg Wilhelmine ebenfalls hinüber, stolperte über ihren langen Rock und wäre fast gestürzt, wenn nicht ein kräftiger Mann sie schnell am Arm gehalten hätte. Mit der anderen Hand griff er nach ihrer Reisetasche. „Se man tau Deern, dat de blots nich mit de Kleed in Tüddel kümmst!“, lachte er sie an und half ihr übertrieben galant auf die Steuerbordbank. Wilhelmine dankte etwas irritiert und packte schnell wieder die Tasche, als wäre dort immer noch der größte Schatz verborgen. Doch es waren ja nur wertlose Papiere.

In diesem Moment sah sie ihn erneut: Zubrowski! Er war es tatsächlich und näherte sich zielstrebig der Barkasse. Offensichtlich hatte er Wilhelmine noch nicht entdeckt.

Sie duckte sich, sehr zum Erstaunen des netten Helfers, hinter ihrer Reiseta­sche, als suchte sie etwas darin. Nur aus den Augenwinkeln beobachtete sie Zubrowski weiter. Was sollte sie jetzt tun? Der Hafenarbeiter zwinkerte ihr zu, als hätte er verstanden, sah zu Zubrowski hinüber und dachte sich seinen Teil. Dieser stieg zur Barkasse herüber und wollte sich nach Achtern begeben, wo auch Wilhelmine saß. Noch hatte er sie nicht entdeckt. Der Hafenarbeiter ging breitbeinig auf ihn zu und verdeckte ihm die Sicht nach hinten. Geschickt stellte er sich in den Weg, sodass Zubrowski auf die Backbordseite auswei­chen musste, um sich dort niederzulassen. Die Barkasse füllte sich jetzt zuse­hends, und die meisten Passagiere fanden nur noch Stehplätze. Der Hafenarbeiter hatte sich mit seinem massiven Körper vor Wilhelmine aufge­baut. „Ich heiße Fiete!“, stellte er sich jetzt vor.

„Angenehm, Wilhelmine!“ Sie wollte nicht gleich ihren ganzen Namen nen­nen, auch wenn sie damit schon auf sein „Du“ eingegangen war. „Es wäre schön, wenn mich dieser Mann nicht sieht!“

Fiete verstand. „Der Herr Ingschenjör?“

„Ingenieur?“, fragte Wilhelmine erstaunt. „Kennen Sie ihn?“

„Nicht direkt!“, meinte Fiete. „Nur vom Sehen. Er arbeitet bei Blohm & Voss. Is aber was Besseres!“

Die Barkasse hatte inzwischen die Elbe überquert und mit der Backbordseite am Anleger der Werft festgemacht. Zubrowski war einer der Ersten von Bord und ging zielstrebig mit den meisten anderen Arbeitern auf das Werfttor zu. Fiete sah Wilhelmine zögernd an. „Wie soll‘s denn weitergehen?“, fragte er Wilhelmine. Er schien entschlossen, seine Beschützerrolle weiterzuspielen.

„Wie komme ich in die Werft hinein?“, fragte Wilhelmine.

„Dat lass man meine Sorge sein“, erwiderte Fiete, „komm einfach mit!“

Er griff sich ihre Reisetasche und ging mit weiten Schritten los. Wilhelmine hatte Mühe, zu folgen. Am Tor angekommen, sagte Fiete zu dem dort stehen­den Pförtner: „Die Dame muss in die Kanzlei!“, und schon waren sie hin­durch. Der Pförtner beachtete sie nicht weiter und ließ die Scharen von Arbeitern an sich vorbeiziehen. Es war kurz vor sechs Uhr Nachmittag: Schichtwechsel.

Wilhelmine sah Zubrowski gerade noch in einem Gebäude verschwinden.

„Danke schön! Sie haben mir sehr geholfen!“, wandte sie sich an Fiete und griff sich ihre Reisetasche. Dann eilte sie hinter Zubrowski her. Fiete blieb schulterzuckend zurück und kratzte sich nachdenklich den Bart.

Wilhelmine erreichte die Eisentür, durch die Zubrowski verschwunden war, kurz nach ihm und gelangte in einen Gang, von dem verschiedene Werkstätten abgingen. Sie hörte ihn in einiger Entfernung gehen und folgte. Auf der ande­ren Seite des Gebäudes verließ er dieses wieder durch eine Tür. Wilhelmine folgte weiter und stand plötzlich direkt auf dem Ausrüstungskai, an dem die „Europa“ lag. Sie sah eigentlich schon fertig aus und ragte wie ein riesiges vielstöckiges Hochhaus vor ihr auf. Das war das Gewaltigste und Schönste, das sie jemals gesehen hatte.

Doch welche Rolle spielte Zubrowski hier? Das musste sie herausfinden!

Er stieg gerade eine fahrbare Treppe hinauf, die vom Kai zu einer offenen Luke an der Schiffswand führte. Noch ehe er dort verschwinden konnte, rief sie hinterher: „Fredi!“

Ihr Schrei hallte zwischen dem Werkstattgebäude und der Schiffswand über­laut, und Zubrowski blieb ruckartig stehen und schaute sich um. Erst jetzt ent­deckte er Wilhelmine. Es befanden sich keine weiteren Personen auf dem Kai. Ganz allein standen sich Zubrowski und Wilhelmine Auge in Auge gegenü­ber, nur wenige Meter voneinander entfernt.

Aber nicht lange: Im nächsten Moment verschwand er durch die Tür und flüchtete in den gewaltigen Bauch des Schiffes hinein. Wilhelmine rannte mit wehendem Kleid hinterher, konnte ihm aber nicht so schnell folgen. Doch sie hörte ihn, und ab und zu sah sie ihn auch gerade noch um eine Ecke ver­schwinden. Die Tasche behinderte sie, und kurz entschlossen warf Wilhelmine sie in eine Ecke. Sie war ohnehin wertlos.

Die Verfolgung ging durch das ganze Schiff. Wilhelmine hatte schon längst die Orientierung verloren, doch der Flüchtende schien sich bestens auszuken­nen. Es ging immer höher. Überall arbeiteten Handwerker an der Innenein­richtung und sahen den beiden erstaunt hinterher. Wilhelmine hatte keinen Blick für die Pracht der Speisesäle und Treppenhäuser durch die sie hasteten. Sie wollte nur den Anschluss halten. Wenn ihr hier Zubrowski durch die Lap­pen ging, sah sie ihn nie wieder.

Je weiter sie nach oben kamen, desto leerer wurde es, und bald waren sie wie­der allein miteinander. Beide konnten kaum noch atmen, als sie schließlich auf der Brücke ankamen, das Heiligtum, das Passagiere meist nie zu sehen beka­men. Hier standen sie sich völlig außer Atem gegenüber.

„Fredi!“, stieß Wilhelmine hervor. „Bitte erklär mir alles! Wie konntest du uns das antun?“ Flehend sah sie ihn an und sank auf die Knie.

Er half ihr wieder auf und rang nach Worten: „Es wird alles wieder gut!“, keuchte er und griff sie am Arm. „Komm einmal mit! Ich will dir etwas zei­gen.“

Wilhelmine ließ sich hoffnungsvoll zur Steuerbordnock führen, von der aus sie eine weite Sicht über den Hamburger Hafen hatte. Ein fantastischer Anblick! Die Nock ragte neben der Brücke hinaus. Wilhelmine ging an die Reling und schaute nach unten. Fast dreißig Meter tiefer lag der Ausrüstungs­kai. Als sie sich wieder zu Zubrowski umschaute, sah sie in seine Augen. Es war das Letzte, was sie in ihrem Leben sah.

Auf dem Kai liefen einige Leute zusammen und starrten erschrocken auf den zusammengekrümmten Leichnam der Frau, die gerade herabgefallen war. Oben war Zubrowski aber bereits wieder von der Nock geflüchtet und in dem unergründlichen Bauch des Schiffes verschwunden. Niemand konnte ihn mehr zur Verantwortung ziehen. Betont ruhig ging er durch die Gänge Richtung Ausgang, in diesem Fall die offene Hilfsluke die für die Arbeiter als Eingang diente. In einer Ecke sah er Wilhelmines Tasche liegen und schaute hinein. Sie war vollgestopft mit den verräterischen Papieren. Mit ihnen konnte man ihm möglicherweise noch auf die Schliche kommen. Früher oder später würde man sie finden. Er nahm die Tasche an sich und merkte gleich, dass er einen Fehler gemacht hatte. Mit dieser typischen Damenreisetasche fiel er als Handwerker auf dem Schiff ziemlich auf.

Über einige enge Niedergänge, die während der Fahrt nur für das Personal vorgesehen waren, schlich er weiter nach unten zu den unteren Laderäumen für die Proviantaufnahme und die Schiffsversorgung. Er befand sich jetzt weit unterhalb der Wasserlinie. Hier unten waren auch die Sammelkabinen für die Mannschaft, zurzeit natürlich vollkommen leer.

Er musste die Papiere so schnell wie möglich loswerden, und er hatte auch schon eine Idee. Ganz weit unten in der Nähe des Maschinenraums befand sich das Öllager des Schiffes. Noch fehlten die Tanks mit Schmierstoffen, nur einige Fässer mit Reinigungsölen, Farben, Terpentin und Lösungsmitteln stan­den herum.

Zubrowski suchte ein fast leeres Fass, in dem sich nur noch ein Rest Farbe befand. Hastig kippte er den Inhalt der Tasche mit allen gefälschten Papieren und Wilhelmines Kleidung hinein, warf die leere Tasche hinterher und über­goss alles mit Terpentin. Ein angezündetes Streichholz verlosch beim Kontakt mit der Flüssigkeit. Der Zündpunkt von Terpentin war zu hoch. Er musste eine andere Möglichkeit finden. Zubrowski fischte eine terpentingetränkte Baum­wollbluse heraus und zündete diese mit einem weiteren Streichholz an. Schnell entwickelte sich eine große Flamme. Als er sie in die Tonne werfen wollte, gab es eine Stichflamme. Die Terpentindämpfe, die sich inzwischen in dem engen Hellegatt entwickelte hatten, entzündeten sich explosionsartig. Es gab eine gewaltige Verpuffung, von der Zubrowski an die Wand geschleudert wurde. Er war noch nicht sofort tot. Den Rest erledigten die Flammen.

Das Feuer blieb zunächst auf den abgeschlossenen Raum begrenzt. Von der Verpuffung war in dem übrigen Schiff nichts zu spüren. Aber im Laufe der Nacht breitete es sich immer mehr aus und erst in den Morgenstunden des 26. März 1929 wurde das Feuer entdeckt. Das stolzeste Schiff des Norddeut­schen Lloyd, der Schnelldampfer „Europa“ fiel den Flammen kurz vor seiner Indienststellung fast vollständig zum Opfer.

Der Brand wütete den ganzen Tag und konnte erst am Abend unter Kontrolle gebracht werden. Es war aber so viel Löschwasser in das Schiff gelaufen, dass es auf Grund sank. Die Turbinenanlage wurde schwer beschädigt, und auch der Rest des Schiffes war stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Trotzdem beschlossen Reederei und Werft, das Schiff wieder zu reparieren.

Niemand dachte an einen Zusammenhang mit der vermutlichen Selbstmörde­rin, die als Wilhelmine Heldenreich aus Dorpamarsch identifiziert werden konnte.

Generaldirektor Carl Stimming erfuhr den Namen der Frau, die von dem Schiff gestürzt war, nie.

Dorpamarsch

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