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1926 - Hochzeit mit Rosenstrauch
ОглавлениеNach dem Tod ihres Mannes stand seine Witwe Wilhelmine Heldenreich ziemlich hilflos vor den Problemen eines gut gehenden Gemischtwarengeschäfts. Sie hatte sich in der Vergangenheit kaum um den Laden gekümmert. Außerdem fehlten ihr Geschick und Schlitzohrigkeit, mit denen August sich immer durch die Tücken der Wirtschaftskrisen hindurchlaviert hatte. Doch zum Glück gab es Emma im Haus. Diese hatte genug von den Geschäften ihres Vaters mitbekommen, um sie weiterführen zu können. Sie war jetzt 26 Jahre alt und kümmerte sich um den Fortbestand.
Ihre Mutter verkraftete den Tod ihres Mannes aber nur schwer und zog sich immer mehr zurück. Sie vernachlässigte nicht nur das Geschäft und die Familie, sondern auch sich selbst. Sie aß kaum noch etwas und verfiel auch zusehends gesundheitlich.
Emma kümmerte sich inzwischen aber rührend um ihre Schwestern. Sie schwankte zwischen familiärer Pflichterfüllung und ihrem eigenen Empfinden. Seit dem Tod ihres Vaters auf dem Dorffest ging ihr der junge Arzt Dr. Phileas Rosenstrauch nicht mehr aus dem Kopf. War er ihr ebenso zugeneigt, wie es beim Tanz den Anschein hatte?
Doch der Arzt behielt ihr gegenüber einen kühlen Kopf und verhielt sich freundlich aber unverbindlich. Er war noch dabei, seine Praxis aufzubauen und die Dörfler von den Fähigkeiten eines jungen Arztes zu überzeugen. Die misslungene Rettungsaktion hatte nicht gerade zu seinem Ansehen beigetragen. Ein Arzt muss unfehlbar sein, dachten die meisten Einheimischen, von denen viele noch nie einen Arzt besucht hatten, weil sie dazu erst in die Kreisstadt hätten fahren müssen. Nun gab es einen Arzt in Dorpamarsch, doch dieser musste sich die allgemeine Anerkennung erst verdienen.
Emma liebte Phileas aus der Ferne, denn es hätte sich nicht geschickt, sich öffentlich mit ihm zu zeigen. Außerdem wusste sie ja nicht, ob er ebenfalls etwas für sie empfand. Leider war sie auch von strotzender Gesundheit, sodass es keinen Grund gab, ihn in seiner Praxis aufzusuchen.
Doch dann fasste Emma einen Entschluss. Sie nahm all ihren Mut zusammen, zog ein schlichtes unauffälliges Kleid an, band ein Kopftuch um und ging die Hauptstraße entlang zur Arztpraxis, die Phileas im Wohnhaus der Witwe Eberbach gemietet hatte. In einer kleinen Mansardenkammer wohnte er selbst.
Unterwegs schaute sich Emma immer wieder unauffällig um, wer sie alles sah. Man konnte in Dorpamarsch keinen Fuß auf die Straße setzen, ohne dass es von irgendjemandem registriert wurde. Als sie gerade zum Haus des Arztes einbiegen wollte, traf sie auf Elfriede Brödermann, die Frau des Bürgermeisters.
„Oh“, fragte diese auch gleich teilnahmsvoll, „sind Sie krank, dass Sie den Doktor aufsuchen müssen?“
Darauf hatte Emma nur gewartet. „Nein, Frau Bürgermeister“, sagte sie gedämpft, „es ist wegen meiner Mutter. Es geht ihr gar nicht gut! Vielleicht kann der Doktor sie mal besuchen.“
Elfriede fühlte sich geehrt, weil Emma sie mit „Frau Bürgermeisterin“ angeredet hatte, doch es war damals durchaus üblich, die Frauen mit dem Titel ihres Mannes zu bezeichnen. Emma wiederum wusste ihre Geschichte nun in besten Händen, denn Elfriede würde garantiert dafür sorgen, dass der angegriffene Gesundheitszustand ihrer Mutter schnell im Dorf verbreitet wurde.
Sie betrat die Praxis des Arztes, wo Phileas gerade damit beschäftigt war, die lädierte Hand eines Bauernjungen zu versorgen. Es war zwar nur eine Schürfwunde, doch der Bengel schrie wie am Spieß, als der Doktor sie mit Jod bepinselte. Die anwesende Mutter schien nicht viel Mitleid zu haben. „Ich hab dir zigmal gesagt, du sollst nicht immer so rasen!“, zeterte sie, schaute aber bereits in Emmas Richtung, um abzuschätzen, weshalb diese den Arzt aufsuchte. Rein äußerlich war nichts zu erkennen, und auch der kurze Blick auf Emmas Bauch gab ihr keine Anhaltspunkte. Nach der Verarztung ihres Sohnes trödelte sie noch etwas in der Praxis herum, um zu hören, ob es etwas gab, das sie ihrer Nachbarin erzählen konnte.
Das war Emma gerade recht, und sie beeilte sich, noch in ihrer Gegenwart dem Arzt zu sagen, dass sie wegen ihrer Mutter gekommen war, und um einen Hausbesuch bat.
Jetzt gab es schon zwei Frauen, welche die Nachricht vom Zustand Wilhelmines weiterverbreiten konnten, doch der war ohnehin im Dorf allgemein bekannt, aber nun gab es einen passablen Grund für den Arzt, die Familie Heldenreich aufzusuchen.
Das tat Phileas dann auch. Er nahm von da an jede Gelegenheit wahr, sich im Hause Heldenreich sehen zu lassen, anfangs noch als Hausbesuch bei Wilhelmine getarnt, später auch ohne vorgeschobenen Anlass. So kamen sich Emma und Phileas Rosenstrauch näher.
Nach dem Ende des Trauerjahres heirateten die beiden in der Dorfkirche Dorpamarschs. Emma hieß nun Emma Rosenstrauch und wurde als „Frau Doktor“ bezeichnet, obwohl die meisten Dörfler sie weiterhin als Emma anredeten.
Dr. med. Phileas Rosenstrauch gab sein Mansardenzimmer bei der Witwe Eberbach auf und zog in das große Haus der Heldenreichs. Nur seine Praxis beließ er dort. Er wollte Arztpraxis und Gemischtwarenladen getrennt halten.
Emma pflegte ihre Mutter und betrieb weiterhin den Laden, wobei ihre Schwestern schon eine große Hilfe waren.