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1924 - Der Kopf des Hechtes

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Bald waren die Mädchen Millionäre, etwa später sogar Milliardäre, und als der Wert ihrer 20-Mark-Goldmünzen auf je 12 Billionen Papier Mark anwuchs, war der Höhepunkt der Inflation, die sich in den letzten beiden Jah­ren zu einer Hyperinflation entwickelt hatte, erreicht. Am 9. November 1923 kostete eine Briefmarke eine Milliarde Mark und der Dollar 628,5 Milliarden. Eine Woche später waren es schon sechsmal so viel. Der Staat kam mit dem Nachdrucken des Geldes gar nicht mehr nach. Die höheren Werte wurden einfach übergedruckt. Die Löhne und Gehälter mussten täglich ausgezahlt werden, die Frauen der arbeitenden Männer standen bei Arbeitsschluss mit Waschkörben vor den Fabriktoren, um das Geld sofort auszugeben, denn am nächsten Tag war es nichts mehr wert. Nur in Dorpamarsch merkte man nicht viel davon. Dort war kaum Geld im Umlauf, natürlich außer der Augustmark.

Am 15. November 1923 wurde die Hyperinflation durch Einführung der Ren­tenmark unterbrochen. Für 10 Milliarden Papiermark bekam man einen einzi­gen Reichspfennig, der Dollar kostete nun 4,20 Rentenmark (RM). Das waren Zahlen, mit denen man wieder vernünftig rechnen konnte. Die Papier­markscheine blieben noch etwa ein Jahr lang als Notgeld mit diesem Umtauschkurs in Umlauf, bis sich das Wirtschafts- und Finanzsystem wieder eingependelt hatte.

Die Augustmark war damit praktisch überflüssig, aber durchaus nicht wertlos geworden. August hatte ja mit seiner eigenen Unterschrift den Gegenwert in Waren garantiert. Nun kamen die Bauern und Händler der Umgebung mit den Augustmarkscheinen und verlangten die Einlösung. Doch das war auch kein Problem, denn August hatte im Laufe der letzten Jahre durch Tauschge­schäfte so viel an Waren angesammelt, dass er alle Gläubiger befriedigen konnte. Im Gegenteil: Insgesamt hatte sich sein eigenes Währungssystem bewährt und ihm einen erklecklichen Gewinn eingebracht.

Ihm war klar, dass das nur mit dem Wohlwollen der Dorpamarscher möglich gewesen war. Deshalb lud er zum 30. August 1924 das ganze Dorf zu einem großen Fest auf der Festwiese ein. Er spendierte zwei Fässer Bier und einen Ochsen am Spieß, andere Dörfler brachten schwarz gebrannten Schnaps und der Bürgermeister einen großen Hecht mit, den er persönlich in der Dörpe gewildert hatte. Das war eine Ehrengabe für August Heldenreich, der nun doch noch zum Dorfhelden geworden war.

Das Datum der Feier war symbolhaft: Ende August war endgültig auch das Ende der Augustmark gekommen.

Die drei Mädchen amüsierten sich auf dieser Feier prächtig. Die 24-jährige Emma nutzte die Gelegenheit, mit den jungen Männern des Dorfes zu tanzen. Da sie als „gute Partie“ galt, gab es durchaus genügend Interessenten, aber ihr Herz hatte noch bei keinem mitgesprochen.

Berta wurde in wenigen Tagen 18 Jahre alt und war gleichermaßen umschwärmt. Doch bevor Emma unter der Haube war, dachte sie selbst an keine Bindung.

Die Jüngste, Dora, 10 Jahre alt, hüpfte fröhlich mit den anderen Dorfkindern herum. Sie fand zwar alle Jungen doof, aber der eine oder andere durfte doch mal mit ihr gemeinsam um die Linde springen.

Ein junger Mann erregte Emmas Aufmerksamkeit, kaum dass er auf dem Festplatz erschien. Er war erst vor Kurzem nach Dorpamarsch zugezogen und hatte eine Arztpraxis eröffnet. Einen Arzt in Dorpamarsch – das gab es bisher noch nicht. Er sah außerdem auch sehr gut aus, fand Emma.

„Dr. med. Phileas Rosenstrauch“, stand auf dem emaillierten Schild an seiner Praxis. Nur ihre Mutter hatte ihn schon einmal wegen ihres „nervösen Magens“ aufgesucht und fand ihn ganz passabel, was immer sie damit meinte.

Als Phileas jetzt den Festplatz betrat, bekam Emma sofort ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch.

Es kam, wie es kommen musste. Die beiden tanzten miteinander so oft sie konnten, und Emma lehnte ab sofort die Aufforderungen der anderen Bur­schen entschieden ab, bis diese es schließlich aufgaben. Gegen einen „Stu­dierten“ kamen sie nicht an.

Leider nahm der Abend einen ganz unerwünschten Verlauf.

Während Emma und Phileas gerade tanzten, hörten sie plötzlich am Tisch ihres Vaters eine hektische Aufregung. Emma konnte ihren Vater nicht sehen, denn viele Dörfler standen um ihn herum und schrien durcheinander. Was war geschehen?

Die Frau des Bürgermeisters hatte August kurz zuvor den persönlich zuberei­teten Hecht serviert. Dabei erklärte sie feierlich, dass sich im Kopf des Hech­tes die Insignien der Kreuzigung Christi befänden: das Kreuz, eine Lanze und ein Nagel.

Umständlich band sich August ein großes Leinentuch um den Hals und begann vor aller Augen, den Kopf des gekochten Hechtes zu zerlegen. Tat­sächlich: Aus der Stirn des Hechtes löste er einen Knochen, der wie ein sakra­les barockes Kreuz aussah. August suchte nach der Lanze. Da kamen mehrere Gräten infrage, ebenso noch kleinere als Nägel. Er reihte zwei Lanzen und ein halbes Dutzend Nägel auf dem Tellerrand auf und erntete dafür großen Applaus. Dann begann er, den Hecht genüsslich zu verspeisen.

Leider bekam er ihm nicht so gut. Eine große Gräte blieb ihm im Halse ste­cken und stellte sich quer. August hustete und japste nach Luft. Die Umste­henden lachten. Erst als sein Gesicht blau anlief, wurde ihnen der Ernst der Lage bewusst. Man schrie nach dem Arzt, und Dr. med. Phileas Rosenstrauch eilte sofort herbei. Doch er hatte seine Arzttasche nicht dabei, und einige Ver­suche, die Gräte mit spitzen Fingern zu entfernen, führten nicht zum Erfolg.

August starb am 30. August 1924, im Alter von 48 Jahren, gemeinsam mit seiner Augustmark. An diesem Tag wurde auch die vor einem Jahr einge­führte Rentenmark von der neuen Reichsmark abgelöst.

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