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1928 - Zubrowski

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Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Das traf auch für Wilhelmine zu. Nach­dem sie lange in relativer Abgeschiedenheit im eigenen Haus verbracht hatte, ließ sie sich endlich von ihrem Schwiegersohn dazu überreden, einen Kurort an der Ostsee aufzusuchen.

Emma suchte lange nach einem passenden Hotel und entschied sich schließ­lich für das „Haus Stolzenfels“ in Sellin auf Rügen. Das Ehepaar Rosen­strauch brachte sie persönlich mit der Eisenbahn bis nach Stralsund und von dort mit der Bäderbahn auf die Insel. Die letzte Strecke von Putbus bis Sellin fuhren sie mit dem modernsten und schnellsten Zug der Bäderbahnen, dem „Rasenden Roland“, von dem aus sie die eindrucksvolle hügelige Landschaft Rügens bewundern durften.

Der Zug bewältigte die etwa 24 Kilometer lange Strecke in fast zwei Stunden, was etwa doppelter Fußgängergeschwindigkeit entsprach. Das sprichwörtli­che „Blumenpflücken während der Fahrt“ war zwar nicht ausdrücklich verbo­ten, jedoch durchaus möglich, was der Schaffner eindrucksvoll bewies. Er stieg in den letzten Wagen ein und hangelte sich während der Fahrt von Wag­gon zu Waggon nach vorne, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Vorne ange­kommen stieg er bei voller Fahrt aus, ließ den Zug an sich vorbeifahren und sprang hinten wieder auf. In der Zwischenzeit hätte er bequem noch ein klei­nes Sträußchen vom Bahndamm pflücken können.

Auf halber Strecke hielt der Zug mitten im Wald an. Alle Fahrgäste streckten neugierig die Köpfe aus den Fenstern. Doch nur der Lokomotivführer klet­terte aus dem Führerstand und verschwand hinter einem dicken Baum, wo er kurze Zeit später wieder erleichtert auftauchte. Die Fahrt konnte weitergehen.

Auf den letzten Kilometern öffnete sich der Blick immer häufiger auf das Meer, was Wilhelmine ein erstauntes „Aah!“ entlockte. Sie, die ihr Leben lang immer nur die Marschen Norddeutschlands gesehen hatte, schaute jetzt weit über die Ostsee nach Osten. Jetzt am Nachmittag hatten sie die Sonne im Rücken, sodass sie ungeblendet bis an den Horizont blicken konnten.

In dem pompösen „Haus Stolzenfels“ war die Pracht der Vorkriegszeit noch erhalten geblieben. Irgendwie hatte das Hotel auch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten während der Inflation überstanden.

Beim Abendessen saß Wilhelmine noch gemeinsam mit Emma und Phileas an einem Tisch. Die anderen Gäste entstammten der gehobenen Gesellschaft oder benahmen sich zumindest so. Hier blühte Wilhelmine sichtlich auf.

Emma und Phileas fuhren am nächsten Tag beruhigt nach Dorpamarsch zurück und wollten sie am Ende der Badesaison, sechs Wochen später, wie­der abholen.

Als Wilhelmine nach dem Frühstück die Wilhelmstraße zur Seebrücke hinab­schlenderte, gesellte sich ein vornehmer Herr mittleren Alters zu ihr und stellte sich als Fred Zubrowski vor. Er hätte beim Frühstück am Nebentisch gesessen und gehört, wie sie sich über den Rasenden Roland unterhalten haben.

„Wenn sie wollen, kann ich ihnen noch mehr über die Lokomotive erzählen“, meinte er. Er kenne zufällig den Ingenieur, der den Dampfkessel konstruiert hatte.

Wilhelmine war an diesem technischen Kram zwar nicht sonderlich interes­siert, andererseits aber froh, so schnell Anschluss gefunden zu haben, und hörte aufmerksam zu.

Bei dem weiteren Gespräch stellte sich heraus, dass Fred Zubrowski zufällig ein Geschäftsfreund ihres Mannes gewesen war. Wilhelmine hatte von ihm noch nie etwas gehört, aber August hatte die meisten Geschäfte ja ohne sie abgewickelt. Da kam Zubrowski gerade recht, denn er bot sich an, sie bei ihren zukünftigen Geschäften zu beraten. Der Zeitpunkt war seiner Meinung nach gerade recht gut, denn der Norddeutsche Lloyd plante in Hamburg den Neubau eines großen Passagierdampfers. Dort könne sich Wilhelmine finan­ziell beteiligen, würde ohne Zweifel großen Gewinn machen und gleichzeitig wieder neuen Kontakt zu der am Boden liegenden Schifffahrt herstellen. Nach dem Krieg war von der ehemaligen Kaiserlichen Marine nicht mehr viel übrig geblieben.

Zum Beweis zeigte Zubrowski ihr einige Zeitungsausschnitte von der feierli­chen Kiellegung bei Blohm & Voss, welche eine ähnliche Bedeutung wie die Grundsteinlegung bei einem Haus habe, erklärte er. Das Schiff sollte laut Zei­tungsbericht 282 Meter lang und über 30 Meter breit werden, mit 50.000 Bruttoregistertonnen. Das klang gewaltig groß.

Wilhelmine war Feuer und Flamme und bereit, einen Teil ihres Geldes anzu­legen. Auf diese Weise konnte sie ihren Töchtern auch beweisen, dass sie selbst noch voll „im Geschäft“ war.

Über einen Stralsunder Notar ließ sie anfragen, zu welchen Bedingungen sie sich einbringen könne. Leider war die Zeichnungsfrist für die Schiffsanleihen aber schon abgelaufen, erfuhr sie. Schade!

Doch zum Glück hatte Zubrowski persönliche Kontakte zu einem der Direk­toren von Blohm & Voss, und das erwies sich als hilfreich. Man ließ zwar keine Kleinanleger mehr zu, doch das gesamte Vermögen Wilhelmines – ihr Anteil an dem Erbe ihres Mannes, also das halbe Geschäft – reichte aus, sie als Aktionärin aufzunehmen.

Die Einzelheiten übernahm Zubrowski. Sie erteilte ihm in Gegenwart des Notars Vollmacht über ihr Gesamtvermögen und erhielt einige Wochen spä­ter ein Aktienpaket des Norddeutschen Lloyds über den Neubau des Passa­gierdampfschiffes „Europa“.

Das Geschäft war perfekt!

Eine Woche vor dem geplanten Abholtermin brachte Phileas Wilhelmines Tochter Dora nach Sellin, damit diese noch einige Ferientage auf Rügen ver­bringen konnte. Am 1. August feierte sie dort auch ihren 14. Geburtstag. Erst jetzt erfuhr auch Phileas von dem Aktiengeschäft. Er war zunächst entsetzt, beruhigte sich aber, als er die Aktienformulare sah. Es schien alles zu stim­men.

Das blieb auch weiterhin so. Zubrowski blieb Wilhelmines Berater. Er war aber meistens unterwegs, um sich um weitere Geschäfte zu kümmern.

Da las Wilhelmine in der Zeitung, dass der Passagierdampfer am 15. August 1928 in Hamburg vom Stapel gelaufen war. Warum war sie als Aktionärin nicht eingeladen oder zumindest darüber informiert worden? Zubrowski war gerade auf Geschäftsreise und nicht erreichbar.

Etwas verärgert schickte sie einen Brief an Blohm & Voss, auf dessen Ant­wort sie lange warten musste. Sie erfuhr, dass die Einladungen zum Stapel­lauf durch die Reederei Norddeutscher Lloyd erfolgt seien, man habe ihren Brief deshalb dorthin weitergeleitet.

Ansonsten wäre aber die Indienststellung der „Europa“ für das Frühjahr 1929 geplant.

Als Zubrowski von seiner Geschäftsreise zurückkam, beruhigte er Wilhel­mine: „Es ist alles in Ordnung, meine Liebe! Da du als Aktionärin sehr kurz­fristig dazugekommen bist, hat man dich bei den Einladungen noch nicht berücksichtigen können!“

Inzwischen duzte man sich.

Ende des Jahres ging ein erster Betrag als Dividende auf ihrem Privatkonto ein, und die ganze Familie war beruhigt.

Das Weihnachtsfest, das man gemeinsam im Hause Heldenreich/Rosen­strauch feierte, verlief so fröhlich, wie schon lange nicht mehr. Wilhelmine war es möglich, ihren drei Töchtern dank der Dividende großzügige Geschenke zu machen, und alle waren glücklich, vor allem, weil ihre Mutter auch wieder lachen konnte.

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