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1906 - Kaiserlicher Hof- und Marinelieferant
ОглавлениеNeben der Eingangstür von Augusts Kaufmannsladen prangte ein Schild mit der Aufschrift:
„August Heldenreich, Colonialwaren, Delikatessen, Tabak und Cigarren, Bisquits, Tee, Kaffeesurrogate, Fisch, Nährmittel und Waren des täglichen Gebrauchs, Eisenwaren, landwirtschaftliche Bedarfsartikel und Sämereien“.
Mit anderen Worten: August verkaufte alles, und was er gerade nicht vorrätig hatte, konnte er bestellen.
Wie es sich gehörte, hatte August sich bei Kaiser Wilhelm II mit einem artigen Brief im Namen seiner Tochter für das Goldstück bedankt und auch noch eine Packung Kautabak hinzugefügt – eine echte Norddeutsche Spezialität. Das würde Kaiser Wilhelm Zwo als Freund und Förderer der Marine sicherlich gefallen. Zu seiner Verblüffung erhielt er Antwort von der Kaiserlichen Marine in Wilhelmshaven mit einer Bestellung von zehn Päckchen Kautabak bester Qualität für Marineoffiziere und durfte sich fortan als „Kaiserlicher Hof- und Marinelieferant“ bezeichnen, was in einem Begleitschreiben ausdrücklich bestätigt wurde. Ein zweiter Bilderrahmen mit dem kaiserlichen Schreiben machte sich an der Wand seines Ladens recht gut und belebte das Geschäft.
Leider war sein Kundenkreis in Dorpamarsch sehr begrenzt. Die wenigen Einwohner bestanden zum größten Teil aus den Familien der Bauern und ihren Knechten und Mägden. Die waren überwiegend Selbstversorger. Sie lebten und ernährten sich im wahrsten Sinne des Wortes vom Land und seinen Früchten. Nur was sie nicht selbst anbauen konnten, mussten sie bei August kaufen. Seit Reichskanzler Otto von Bismarck seinen Widerstand gegen Deutsche Kolonien im Ausland aufgegeben hatte, nahmen die dort angebauten Früchte einen immer größeren Rahmen in deutschen Geschäften ein. Bald wurde der Begriff „Kolonialwaren“ für Lebensmittel aller Art benutzt.
Es zeigte sich auch bald, dass es für August gut war, einen Fuß bei der Marine in Wilhelmshaven in der Tür zu haben. Dort war Alfred Tirpitz wenige Tage vor Emmas Geburt gerade Vizeadmiral geworden. Das Empfehlungsschreiben des Kaisers hatte seine Aufmerksamkeit auf August Heldenreich gelenkt, und er ging davon aus, dass dieser ein erfahrener Lieferant und Schiffsausrüster sei. Wann immer man bei der Kaiserlichen Marine, und besonders auf der Kaiserlichen Werft, etwas benötigte, bestellte man es der Einfachheit halber bei ihm, was den Herren Ausrüstungsoffizieren eine Menge Zeit und Arbeit sparte. Teilweise waren es aber für die Schiffsausrüstung typische Waren, die er erst bei ortsansässigen Handlungshäusern in Wilhelmshaven bestellen musste. Das fiel denen natürlich negativ auf. Um aber die positiven Geschäftsentwicklungen nicht zu gefährden, ließ er die Wilhelmshavener Lieferungen direkt über die örtlichen Firmen ausliefern. In der Praxis leitete er alle Bestellungen an die Firmen weiter, welche schon vorher geliefert hatten, und strich lediglich eine erkleckliche Provision ein. So blieb alles beim Alten: Die Marine verlor nicht die Erfahrungen der alteingesessenen Firmen und diese behielten ihre Einkünfte. Die Handelsvertreter vertraten jetzt nicht nur ihre bisherigen Firmen, sondern auch das Handlungshaus „August Heldenreich“ und strichen auch von ihm Provisionen ein. So waren alle glücklich und zufrieden.
Vizeadmiral Tirpitz fühlte sich verpflichtet, dem Kaiser bei passender Gelegenheit von den Auswirkungen des Empfehlungsschreibens zu berichten. Wilhelm der Zweite konnte sich zwar nicht mehr daran erinnern – er hatte fürwahr ganz andere Dinge im Kopf – doch da Tirpitz seine eigenen Verdienste in dieser Angelegenheit in aller Bescheidenheit ausdrücklich darstellte, wurde er noch im gleichen Jahr in den Adelsstand erhoben und durfte sich jetzt „Alfred von Tirpitz“ nennen. Obwohl er 1903 zum Admiral und 1911 sogar zum Großadmiral der Kaiserlichen Marine ernannt wurde, was sicherlich eine indirekte Folge der Geschäftsbeziehungen mit August Heldenreich war, lernte er diesen und seine Tochter, die Kaiserdeern, niemals persönlich kennen. War vielleicht auch besser so!
In dieser gut situierten, jedoch dörflichen Umgebung von Dorpamarsch, wuchs Emma wohl behütet auf. Mit den Geschäften ihres Vaters hatte sie zum Glück wenig zu tun, ebenso wie auch ihre Mutter, doch die Familie gehörte zu den reichsten des Dorfes, was sie aber nicht erkennen ließ. Die Nachbarn bekamen von den lukrativen Geschäften Augusts nicht viel mit.
Als Emma begann, ihr Umfeld mit immer mehr Interesse wahrzunehmen, fragte sie eines Tages ihren Vater, warum sie im Dorf allgemein nur Kaiserdeern genannt wurde. Da holte August das Goldstück aus der Schatulle und erklärte: „Dieser Taler ist ein Geschenk des Kaisers zu deiner Geburt, weil du das erste Kind des neuen Jahrhunderts bist. Es soll dir immer Glück bringen und es hat uns schon jetzt viel Erfolg eingebracht. Und weil alle Dorfbewohner das damals mitbekommen haben, nennen sie dich seitdem Kaiserdeern, aber für uns wirst du immer unsere Emma sein!“
Emma nahm das Goldstück ehrfürchtig in die Hand und schaute es sich genau an. Auf einer Seite war der Kopf des Kaisers mit seinem hochgezwirbelten Schnurrbart zu sehen. Emma konnte noch nicht lesen, doch Ihr Vater erklärte, dass „WILHELM II. (Er sagte Wilhelm der Zweite) DEUTSCHER KAISER KÖNIG V. PREUSSEN um den Kopf herum geschrieben stand. Ganz unten stand noch ein einsames „A“, was August nicht erklären konnte. Er meinte, das könne eine persönliche Widmung für ihn sein, denn sein Vorname fing ja mit „A“ an.
Auf der anderen Münzseite konnte Emma einen gefährlich aussehenden Adler mit grimmig geöffnetem Schnabel und scharfen Krallen erkennen. Darüber schwebte eine Krone, und vor dem Bauch war noch ein Wappen. Am Rand standen die Wörter „DEUTSCHES REICH 1894“ und zwischen zwei Sternen „20 MARK“. Das war ihr Glückbringer und gleichzeitig ihr gesamtes eigenes Vermögen, und das war immerhin noch mehr als alle anderen Kinder des Dorfes zusammen besaßen. Taschengeld hatte ohnehin niemand von ihnen, doch Emma durfte ab und zu in eines der Bonbongläser im Laden greifen. Das machte sie bei allen Dorfkindern beliebt, denn sie teilte auch gerne.
Im Alter von sechs Jahren wurde sie eingeschult. Nun übernahm der Lehrer Nils Hempelmann zu einem großen Teil die Erziehung, wie es auch bei den anderen Kindern üblich war. Hempelmann unterrichtete alle 56 Kinder des Dorfes in einem einzigen Klassenraum. Er war ein gestrenger Lehrmeister, der ihnen mit Kreide und Rohrstock das Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte. Für die religiöse Erziehung zog er einmal wöchentlich den evangelischen Pastor Leverenz hinzu. Ob jemand im Dorf einer anderen Konfession angehörte, war ohne Belang. Es gab ja auch keine katholische Kirche. Hier im Norden spielte sie seit dem Dreißigjährigen Krieg ohnehin keine große Rolle mehr, besonders, weil ja der Alte Fritz gesagt hatte: „Jeder soll nach seiner Façon selig werden.“
Der Pastor nahm seinen Lehrauftrag ebenso ernst wie Hempelmann, und der Rohrstock stand immer in der Ecke bereit. Jede noch so kleinste Verfehlung wurde bestraft. Nur so konnten die Kinder zu einem wertvollen Mitglied der Dorfgemeinschaft erzogen werden. Besonders die Jungen bekamen den Stock oft auf dem Hosenboden zu spüren, und manch einer stopfte sich vorsorglich etwas Laub oder Gras in die Hose, um den Schmerz in Grenzen zu halten. Hauptsache, man schrie aus vollen Kräften. Das machte Eindruck bei den Mädchen, welche der Exekution atemlos zuschauten. Emma hielt für solche Fälle immer ein Bonbon in ihrem Taschentuch bereit – als Tröstung für den Delinquenten.
Sie selber blieb übrigens weitgehend verschont, denn der Lehrer wurde von der Dorfgemeinschaft hauptsächlich in Naturalien entlohnt. Da ihr Vater sich recht freigiebig zeigte, wollte Hempelmann die Quelle nicht versiegen lassen. Bei den anderen Kindern wurde jede Gabe sorgfältig geprüft, ob die Gans auch schön fett war oder die Kartoffeln nicht vom letzten Jahr. Ein mageres Schwein brachte dem Sohn des Spenders unweigerlich Verdruss. Man konnte den Lehrer irgendwie verstehen. Er musste ja auch leben.
August Heldenreich dehnte inzwischen seine Handelstätigkeit immer mehr aus. Das Militär war eine fast unerschöpfliche Einnahmequelle, die er als Hoflieferant beliebig melken durfte. Das Militär und die Marine waren das Wichtigste, was der Kaiser kannte. August war das ganz recht, denn er konnte vortrefflich davon leben. Die meisten Bürger des Deutschen Reiches wurden daran gemessen, ob und in welchem Regiment sie „gedient“ hatten. Die Entlassungsurkunden aus dem Militärdienst schmückten fast jedes Wohnzimmer. Bei den Heldenreichs fehlte sie aber, denn August hatte es geschafft, dem Wehrdienst zu entgehen, und später schienen dem Staat seine Handelsverdienste um das Vaterland wichtig genug.
Im Sommer des Jahres 1906 kündigte sich bei ihnen weiterer Nachwuchs an. Nach Emma sollte es nun ein richtiger Held werden. Emma selbst ahnte davon aber noch nichts, denn die Kinder waren damals nicht so aufgeklärt wie heute. Sie wunderte sich zwar, was ihre Mutter seit einiger Zeit unter ihrer Schürze versteckt trug, doch die tatsächlichen Zusammenhänge erriet sie nicht.