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1936 - Helden der Lüfte

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Emma und ihre Schwestern betrieben ihren Tante-Emma-Laden längst nicht in der Größenordnung, wie es August Heldenreich getan hatte. Mehrmals ver­suchte sie, an die alten Marine-Verbindungen anzuknüpfen, doch es war eben nicht die „Kaiserliche Marine“, sondern die neu aufstrebende Kriegsmarine der deutschen Wehrmacht. Da spielten die alten Beziehungen keine Rolle mehr. Vielleicht wären die drei Frauen auch mit einer solchen Aufgabe völlig überfor­dert gewesen.

Dora war faszinierter von den vielen kleinen und Flugzeugen, die man immer häufiger sah. Sooft eines am Himmel auftauchte, legte sie den Kopf in den Nacken und träumte davon, selbst hoch über den Wolken zu fliegen. Was für ein leichtes Gefühl musste es sein, durch die Luft zu schweben.

Emma und Berta waren dagegen etwas bodenständiger. Sie brauchten den Boden unter den Füßen, oder zumindest etwas Wasser. Laufen und schwimmen konnte der Mensch von Natur aus – aber fliegen …?

Als eines Tages in der Nähe Pamphusens eine kleine Luftfahrtschau angekün­digt wurde, überredete Dora ihre Schwestern, gemeinsam mit ihr die Veranstal­tung zu besuchen.

Nun, es waren nichts weiter als ein paar kleine Flugzeuge einer Fliegerschule, die von den Besuchern auf einer Wiese am Rande der Stadt besichtigt werden konnten. Stolz standen die jungen Männer neben ihren Doppeldeckern und beantworteten alle Fragen – und noch viel mehr als das: Die von ihnen geschil­derten Abenteuer waren allzu fantastisch, um glaubwürdig zu sein. Die jungen Mädchen glaubten sie trotzdem. Endlich hatten sie mal einen richtigen Helden vor sich!

Ein junger blonder Mann hatte Dora sofort angezogen. Er war ein Bild von einem Mann: Etwas größer und kräftiger als alle anderen, trug er stolz seine ein­teilige Fliegermontur zur Schau, die gefütterte Lederkappe mitsamt der ange­knüpften Schutzbrille lässig nach hinten geschoben, damit die dichten hellblonden Haare zur Geltung kamen. Er war sich seiner Wirkung bewusst … und Dora fiel sofort darauf herein. Oder war es genau anders herum?

Sie war gerade 22 Jahre alt geworden und eine durchaus sehenswerte Frau. Im Gespräch erfuhr Dora den Namen ihres Helden: Er hieß Georg von Rickwitz und war der Sohn eines Rittergutbesitzers aus Pommern. Die Fliegerei war für ihn nur eine notwendige Vorstufe für etwas viel Größeres. Er wollte Luftschiff­fahrer werden. Doch dazu brauchte er zunächst einen Pilotenschein.

Als die Flugschüler zum Abschluss ein paar Schaurunden flogen, durften sie jeweils einen Passagier mitnehmen. Georg lud Dora ein. Darauf hatte sie gehofft. Nun ging dieser Traum in Erfüllung. Galant half er ihr, auf den vorde­ren Sitz zu klettern und schlang ihr seinen langen Schal um den Hals. Er selbst setzte sich auf den Pilotensitz dahinter. Einige andere Flugschüler schoben den Doppeldecker an das Ende der Wiese. Ein anderer Helfer, vermutlich ein Mechaniker, drehte den Propeller. Nach einigen Versuchen sprang der Motor an und die Maschine setzte sich in Bewegung. Einige Meter schoben die Kamera­den noch an den Tragflächen, dann kam das Flugzeug in Schwung und rumpelte aus eigener Kraft über die Wiese. Das war ganz anders, als Dora es sich vorge­stellt hatte. Erst als sich die Räder in die Luft erhoben, hörte das Rumpeln auf.

Dora ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht blasen. Zum Glück hatte ihr Georg eine Lederkappe umgeschnallt und eine dicke Schutzbrille aufgesetzt. Der Schal wehte im Wind nach hinten und flatterte Georg um die Ohren, als würde er die beiden vereinen wollen. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen, deshalb zupfte er daran, um Dora darauf aufmerksam zu machen. Diese verstand das völlig falsch und wollte sich umdrehen. Dabei stieß sie mit dem Knie gegen den vor­deren Steuerknüppel, der vor ihrem Sitz angebracht war. Das Flugzeug senkte seine Nase nach unten und flog immer schneller auf den Boden zu. Dora sah davon nichts, denn der Schal hatte sich um ihren Kopf gewickelt, das andere Ende wedelte vor dem Piloten umher.

Die Zuschauer am Boden hielten die Luft an, die meisten kreischten, als sich die Maschine der Wiese näherte. Doch Georg bekam sie wieder in Griff: Nur 10 Meter über dem Boden fing er sie ab und lenkte sie wieder nach oben. Die Zuschauer stießen ein befreites „Aahhh!“ aus.

Emma und Berta waren entsetzt über den Piloten, der ihre Schwester derartig in Gefahr brachte. Das war doch pure Angabe!

Das kleine Flugzeug flog jetzt steil nach oben, und Georg versuchte, es wieder in einen waagerechten Flug zu bekommen. Leider gelang das auch nicht, denn der Schal hatte sich inzwischen um den vorderen Steuerknüppel geschlungen und ihn blockiert. Dora starrte derweilen durch den drehenden Propeller hin­durch steil in die Luft. Oben war nur der Himmel. Sie hatte keine Angst, denn sie vertraute ihrem Piloten. Sie ahnte gar nicht, dass dieser hinter ihr um ihr bei­der Leben kämpfte. Georg musste den Hebel wieder freibekommen. Der Schal verhinderte das! Dieser hing jetzt mit einem Ende an dem Lenkseil des Seiten­ruders fest, mit dem anderen am vorderen Steuerknüppel. Dazwischen war er noch um Doras Hals geschlungen. Jeder Versuch Georgs, am Schal zu ziehen, löste eine andere Reaktion aus. Mal kippte die Maschine nach rechts und mal noch weiter nach oben.

Das Flugzeug stieg in einer steilen Spirale. Die Zuschauer applaudierten, die Flugschüler am Boden waren erstaunt über die waghalsigen Manöver ihres Kameraden. Das war nicht abgesprochen. Der Fluglehrer knirschte mit den Zäh­nen: „Na warte! Komm du wieder runter!“, fluchte er.

Der Doppeldecker hatte inzwischen den höchsten Punkt seines Aufwärtsfluges erreicht und neigte sich nach hinten. Dann beschrieb er einen exakten Looping der ihn wieder bis kurz vor den Boden brachte. Doch Georg hatte das Schalpro­blem immer noch nicht gelöst. Mit den blockierten Steuereinrichtungen würde die Maschine wahrscheinlich einen Looping nach dem anderen drehen, bis der Kraftstoff alle war. Dann folgte unweigerlich der Absturz.

Die Zuschauer klatschten bei jedem Looping vor Begeisterung. Diese Flug­schau ging weit über das hinaus, was sie erwartet hatten.

Georg von Rickwitz sah das ganz anders. Der Schal musste weg! Er schlug Dora vor sich auf die Lederkappe. Als sie sich umdrehen wollte, kippte die Maschine nach links und Dora wurde fast erdrosselt. Schnell nahm sie den Kopf wieder zurück und blieb starr vor Schreck sitzen. Erst jetzt begann sie, die Gefahr zu begreifen. Was wollte Georg von ihr? Wie sollte sie sich verhalten? Fragen konnte sie nicht. Der Fahrtwind rauschte zu stark an ihren Ohren vorbei.

Georg hinter ihr begann, in den Taschen seiner Fliegerkombi zu kramen, um sein Taschenmesser herauszubekommen. Dabei fiel auch sein Feuerzeug heraus und verschwand im Zwischenraum neben dem Sitz. Aber das Messer konnte er packen und aufklappen. Es war scharf, und mit Leichtigkeit durchtrennte er den Schal. Er war frei! Die Maschine ließ sich wieder steuern!

Nun war es kein Problem mehr für Georg, das Fluggerät in eine waagerechte Flugbahn zu bringen. Er flog noch einmal über die Zuschauer und die ganze Wiese hinweg und landete dann in entgegengesetzter Richtung. Lauter Jubel brach aus, als er kurz vor den Zuschauern ausrollte.

Der Einzige, der nicht mitjubelte, war der Fluglehrer und Veranstalter. Doch er war zufrieden. Die Veranstaltung war ein voller Erfolg. Allerdings verzichtete er darauf, auch die anderen Flugschüler noch mit Passagieren fliegen zu lassen, was zahlreiche Mädchen mit Bedauern zur Kenntnis nahmen. Sie begnügten sich damit, den Start aller Flugzeuge zum Abflug zu beobachten.

Dora war glücklich. Georg und sie hatten vor seinem Abschied noch ihre Adres­sen ausgetauscht und versprochen, sich zu schreiben. Sie bedauerte aber sehr, dass er durch ihr Missgeschick sein Feuerzeug verloren hatte. Er hatte es in der Maschine nicht mehr wiedergefunden.

Dorpamarsch

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