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1929 - Eine für alle – alle für Eine!
ОглавлениеEmma hatte sich zunächst keine Gedanken über das Verschwinden ihrer Mutter gemacht. Erst als diese auch über Nacht nicht nach Hause kam, wurde sie unruhig. Am Vormittag des 26. März 1929 meldete sie sie bei der Dorfpolizeiwache als vermisst. Erst zwei Tage später wurde die Vermisstenanzeige an die Kripo in Pamphusen weitergemeldet. Der Kriminalassistent Hansemann konnte schnell den Weg der Vermissten mit dem Postbus und der Bahn bis nach Bremen verfolgen. Dort verlor er die Spur zunächst, aber die Bremer Polizei ermittelte den Fahrkartenverkäufer, der ihr die Fahrkarte nach Hamburg verkauft hatte. Es dauerte noch weitere Tage, bis man die Vermisstenanzeige mit der aufgefundenen Selbstmörderin in Verbindung brachte. Die Tote hatte keine Personalpapiere bei sich gehabt.
Als der Dorfpolizist in Emmas Laden erschien und wortlos die Dienstmütze abnahm, wusste Emma sofort, dass ihre Mutter nicht mehr lebte. Sie musste nach Hamburg fahren, um sie zu identifizieren.
Der alte Pastor Leverenz aus Dorpamarsch weigerte sich zunächst, die angebliche Selbstmörderin in geweihter Erde auf dem Friedhof Dorpamarsch beerdigen zu lassen und eine Trauerfeier abzuhalten. Erst die energische Intervention Emmas mit dem Hinweis, dass keinesfalls geklärt sei, ob sich ihre Mutter wirklich das Leben genommen habe, ließ ihn nachgeben. Es wurde ein langer Trauerzug. Fast das ganze Dorf und viele Geschäftsfreunde von August und Wilhelmine nahmen daran teil.
Die drei Mädchen standen nun vor dem Problem, ohne ihre Mutter auskommen zu müssen. Sie waren jetzt Vollwaisen. Das hatte bei der verheirateten Emma keine Bedeutung mehr, ebenso wenig bei ihrer 23-jährigen Schwester Berta. Aber die 15 Jahre alte Dora war noch minderjährig.
Ende April kam ein Wagen aus der Kreisstadt vorgefahren, um Dora abzuholen. Das Jugendamt hatte einen Amtsvormund bestellt und sie in ein Waisenhaus einweisen lassen. Die ältliche Dame, die mit der Überstellung beauftragt worden war, sollte sie sofort mitnehmen. Dora durfte nur einige wenige persönliche Sachen einpacken.
Doch so weit kam es nicht. Dora ging zum Packen in ihr Zimmer, flüchtete aber durch das Fenster und versteckte sich in einem Graben. Dort wartete sie klopfenden Herzens, bis die Amtsperson wieder abgefahren war. Diese drohte an, das nächste Mal mit polizeilicher Unterstützung wiederzukommen. Eine Minderjährige ohne Eltern durfte nicht alleine wohnen! Auch nicht im Hause ihrer Schwestern!
Emma und Berta waren sofort bereit, um ihre kleine Schwester zu kämpfen. Sie konnten und wollten nicht zulassen, sie in einem Heim verkümmern zu lassen. Doch was konnten sie tun?
Emma suchte den Familienrichter des Vormundschaftsgerichts auf, der die Einweisung verfügt hatte. Er sagte, dass es keine Alternative gäbe, solange Dora keinen anderen Vormund hatte.
Aber darin lag auch die Lösung: Phileas und Emma Rosenstrauch beantragten die Vormundschaft über Dora, die ihnen auch sofort zugesprochen wurde. Alle Voraussetzungen – ein Ehepaar mit angesehener Reputation und tadellosem Leumund – waren gegeben. So konnte Dora unter ihrer Vormundschaft weiterhin in ihrem Elternhaus wohnen bleiben.
Erleichtert setzten sich die drei Schwestern zusammen und beschlossen, in Zukunft immer zusammenzuhalten, komme, was da wolle!
„Eine für alle – alle für Eine!“, rief Dora hingerissen, die sich gerade für Alexandre Dumas und seinen Roman „Die drei Musketiere“ begeisterte.
„Eine für alle – alle für Eine!“, wiederholten Emma und Berta feierlich.
„So soll es sein!“, fügte Emma hinzu.
Zum Glück hatte der Richter nicht nach den Vermögensverhältnissen gefragt. Der Beruf Phileas‘ als Arzt reichte ihm völlig aus. Die Wirklichkeit sah aber viel schlimmer aus.
Die drei Schwestern standen vor dem Nichts. Das Handelshaus existierte nicht mehr, und ihr gesamtes Vermögen war verschwunden. Das Einzige, was die drei Mädchen besaßen, waren die drei Goldstücke, an die Zubrowski nicht herangekommen war, und einige Waren, die sich noch im Lager befanden. Das war nicht gerade viel, doch viele Dorfbewohner kamen in alter Gewohnheit in den Laden. Auch in der Vergangenheit war er ein Ort gewesen, an dem die Frauen sich zum Tratschen trafen, um die Dorfneuigkeiten zu erfahren. So manches Kind wurde losgeschickt, wenn die Familie ein Pfund Erbsen oder Bohnen oder eine Rolle Nähgarn oder sonst irgendetwas Alltägliches benötigte: „Geh doch mal zu Tante Emma!“, sagten die Eltern, denn damals war es den Kindern gegenüber durchaus üblich, alle bekannten Dorfbewohner mit „Tante“ oder „Onkel“ zu benennen, auch wenn sie nicht zur eigentlichen Familie gehörten. Das galt zum Beispiel auch für Phileas, der gegenüber den Kindern nur als „Onkel Doktor“ bezeichnet wurde. Nur besondere Respektpersonen bekamen ein „Herr“ vor den Namen, wie der Herr Lehrer, der Herr Pastor oder der Herr Bürgermeister.
Eines Tages nahmen die drei Schwestern gemeinsam das große Schild mit der Aufschrift von „August Heldenreich Colonialwaren“ von der Wand, strichen es mit sonnengelber Ölfarbe an und malten darüber die Worte „Tante-Emma-Laden“. Das war ab sofort ihre neue Geschäftsbezeichnung, und es lief alles etwas kleiner ab als bisher. Statt der „Waren aller Art en gros & en détail“, gab es nur noch Waren für den täglichen Bedarf. Die Erbsen und Bohnen wurden nicht mehr säckeweise, sondern pfundweise verkauft, doch es reichte aus, den drei Schwestern in Verbindung mit den Einkünften aus Phileas‘ Arztpraxis ein bescheidenes Leben zu ermöglichen.