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Die Wahrnehmung und ihre Folgen

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Die Grundlage für die „persönliche Daseinsgestaltung“ aller Menschen bildet deren eigene Wahrnehmung. Betrachtet man etwa das Beispiel einer Herbstwanderung im Gebirge: Der Naturliebhaber erfreut sich der unterschiedlich gefärbten Blätter, der Chemiker macht sich Gedanken über das Chlorophyll und die verschiedenen Farben der Blätter, der Techniker überlegt sich, warum seine Wanderschuhe auf dem nassen Boden leicht rutschen und der Feinschmecker sammelt viele schmackhafte Pilze. Jeder geht spezifischen Interessen nach, deren Ursachen irgendwo liegen. Wo, ist nicht von Belang. Wichtig ist, dass jede dieser Personen alles unterschiedlich wahrnimmt. Darauf basieren für alle Dinge unterschiedliche Schlussfolgerungen. Dies bedeutet, dass sich jeder seine Welt nach seinen Denk- und Erfahrungsmustern konstruiert.

Die Schwierigkeit liegt darin, dass die verschiedenartige Wahrnehmung auch für komplexe Sachverhalte zutrifft, wobei mit der Komplexität derselben auch die Differenziertheit der Wahrnehmung und mit dieser zusätzlich die Anzahl der Möglichkeiten der Interpretation derselben steigt.

Ein Vertreter dieser Interpretation unseres „Ichs“ war der Philosoph Paul Watzlawick, er nannte die Konstruktion der persönlichen Wirklichkeit „Radikalen Konstruktivismus“. Nach dem Studium der Philosophie hatte er sich der Psychoanalyse zugewandt. Dies, als er feststellte, dass Menschen ein psychisches Problem bekommen, wenn ihre „Konstruktionen“ im Gehirn, also ihre persönlichen Wahrheiten, mit Fakten kollidieren.

Die Natur hat es deshalb so „eingerichtet“, dass sie versucht, Kollisionen im Gehirn zu vermeiden. Dies auch, damit der Mensch psychisch gesund bleibt.

Wichtig ist, dass auch Randbedingungen existieren, wie etwa Naturgesetze, nach denen sich die Konstruktionen im Gehirn richten müssen bzw. müssten. Diese lassen sich nicht konstruieren, da sie definitiv nicht veränderbar sind. Die Größe der Lichtgeschwindigkeit ist beispielsweise ein Naturgesetz, das besagt, dass sie von massebehafteten Teilchen nicht erreicht werden kann. In wie weit Naturgesetze bei technischen Entscheidungen gelten? Wir werden sehen.

Für die weitere Erkenntnis erscheint mir wichtig, dass aus diesen (subjektiven) Wahrnehmungen heraus Schlussfolgerungen resultieren; und aus diesen Schlussfolgerungen werden final Entscheidungen getroffen – nach bestem Wissen und Gewissen. Dies beispielsweise bei einer Wahl an der Urne. Wobei natürlich auch so gewählt wird, dass sich ein persönlicher Vorteil ergibt. Bei dieser Beurteilung denkt nahezu jede(r) von sich, er/sie hätte die beste Wahrnehmung bzw. Urteilsvermögen und sieht alles aus seiner persönlichen Sicht.

Die „Grundkette“ besteht also aus:

Wahrnehmung → Schlussfolgerung/Reflektion/Vergleich mit Erfahrungswerten → Entscheidung.

Das bedeutet nicht, dass die alleinige Ursache von Entscheidungen die Schlussfolgerungen sind. Bei Entscheidungen spielen neben den in Gehirn getroffenen Schlussfolgerungen auch andere Faktoren eine wesentliche Rolle: Beispielsweise die Risikofreudigkeit von Personen. Und diese hängt wiederum von Hormonen ab - Dopamin und Testosteron beispielsweise. Um hier einen Praxisbezug zu bieten: Manager, die in die neuere Deutsche Geschichte nachträglich gesehen nicht sehr ruhmreich eingingen, legten laut Presse „Rambo-Methoden“ an den Tag.

Dass jeder seine Umwelt individuell wahrnimmt, war für die Evolution lebensnotwendig. Wenn jeder gleich denken und handeln würde, so könnte man dies nicht als Evolution bezeichnen. Weiterhin würde sich dann jeder dem Gleichen widmen. Ein Naturereignis wie beispielsweise die Explosion einer nahen Supernova würde die komplette Spezies ausrotten. Da aber ein Teil der Spezies in Zelten und der andere in Höhlen wohnte, in denen dieser vor gefährlichen Strahlen bzw. Teilchen geschützt war, überlebten die Höhlenbewohner.

Ein einfaches Beispiel für eine verfälschte Wahrnehmung der Realität stellt eine Fata Morgana dar, die einem vorgaukelt, dass Gebäude oder Städte sehr viel näher sind als in der Realität. Die Ursache dieser falsch interpretierten Sinneswahrnehmung sind Spiegeleffekte an atmosphärischen Schichten. Wobei in diesem Falle die Wahrnehmung eigentlich sogar physikalisch korrekt ist. Hier wird das Gehirn darüber betrogen, dass die Natur dort Spiegel aufstellt, wo normalerweise keine vorhanden sind.

Ein klassisches Beispiel für sinnliche Konstruktionen im Gehirn sind Verschwörungstheorien: Hier wird etwas „konstruiert“. Beispielsweise, dass die Mondlandung nie stattgefunden hätte und alle Filme, in denen die Astronauten auf dem Mond spazierten, auf der Erde gedreht sind. Dabei werden die absurdesten Argumente angeführt. Diese basieren meist darauf, dass ein Hintergrundwissen fehlt. Die Argumente können alle von Wissenschaftlern leicht widerlegt werden, was aber ignoriert wird4 .

Was den Autor dieser Schrift irritiert: Man kann tatsächlich nachweisen, dass die Mondlandungen stattgefunden haben: Dies ist daran sichtbar, dass in den Filmen die Sandteilchen des Mondmobils einer niedrigeren Schwerkraft ausgesetzt sind und somit in einem größeren Bogen als auf der Erde fliegen. Gleichzeitig fliegen sie in einer idealen Parabel, da der Luftwiderstand fehlt. Es hat nämlich noch niemand geschafft, die Schwerkraft zu reduzieren, um solche Kameraaufnahmen auf der Erde zu machen und zudem so große Volumina leerzupumpen, da die Sandteilchen durch die Luft abgebremst würden. Wer die Schwerkraft reduzieren kann, für den wäre eine Mondlandung ein Klacks5 . Scheinbar wird nie versucht, mit dieser Methode die Verschwörungstheoretiker auszuhebeln. Statt dessen wird mühsam versucht, die Argumente der Verschwörungstheoretiker zu widerlegen. Zurück zum Thema:

In der heutigen Zeit hat die Konstruktion der Wirklichkeit, der die Menschheit über Millionen Jahre zum Erfolg geführt hat, mehrere große Probleme:

Wie man am Beispiel der Mondlandung sehen kann, werden die Systeme immer komplexer. Um sie wirklich zu verstehen, muss man sich über Jahre intensiv damit beschäftigen. Das Wissen der Menschheit ist in den letzten 150 Jahren quasi explodiert. Niemand kann mehr den Überblick über alles haben und tiefer gehende Einsichten erlangt man nur noch in Teilbereichen. Beispielsweise war die Physik am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Newtonschen Mechanik am Ende. Bis dann Max Planck und Albert Einstein erschienen und den Umfang der Physik mit Quantenmechanik und Relativitätstheorie, zum Teil eingebettet in umfangreiche Mathematik, um ein Vielfaches erweiterten.

Dieser Wissensmenge wird viel untergeordnet beziehungsweise geopfert; andere menschliche Eigenschaften bleiben auf der Strecke. Wie zum Beispiel jene, mit einfachen Mitteln und mit relativ wenig „Input“ logische, plausible Schlüsse zu ziehen. Dies sind Eigenschaften, die einem das Leben sehr erleichtern könnten6 .

Die Kunst bei dieser Methode besteht darin, möglichst schnell auf elementare Dinge wie einfache Formeln zu reduzieren, die keinen Interpretationsspielraum besitzen. Beim „Mondlandebeispiel“ sind dies die Kenntnis der Formeln des schiefen Wurfes, das Wissen, dass auf dem Mond Vakuum herrscht und der schiefe Wurf nicht abgebremst wird und außerdem, dass die Anziehungskraft des Mondes geringer als die der Erde ist. Und man muss einmal einen Film abspielen, in dem zu sehen ist, wie das Mondauto Staub hochschleudert.

Das zweite große Problem liegt seit circa 20 Jahren in der Wahrnehmung begründet: in den Augen des Autors wird sie immer schlechter. Dies liegt insbesondere an den Computern, an denen auch der vorliegende Text verfasst wird. Die Wahrnehmung besteht aus Berühren der Materialien (Haptik), sehen, riechen, hören und interpersoneller Kommunikation. Alle diese Eindrücke werden im Kopf koordiniert, um ein Gesamtbild der persönlichen Wahrheit zu erzeugen. Dabei handelt es sich um eine beachtliche Geistesleistung. Aber jeder wird nur noch an den Computer verbannt und viele tun dies sogar freiwillig. In einem Computer kann man weder Dinge anfassen, die dort konstruierten Teile machen keinen Lärm und sie riechen nicht7 . Und Kommunikation am Computer funktioniert völlig anders als im wahren Leben - wenngleich hier eine andere Wahrnehmung verlangt wird, so kann sie keinesfalls die Wahrnehmung der Körpersprache des Gegenübers ersetzen. Somit fehlt vielen Menschen einfach die Übung der Wahrnehmung. Und so können Sie ganz leicht zu Opfern von Bauernfängern werden.

Das nächste schwerwiegende Problem ist folgendes: je komplizierter die Systeme werden, desto schwieriger wird es für die involvierten Personen, sich von diesen Systemen zu trennen.

Hierzu zwei Beispiele:

Im Moment sind Kohlefasern als Baumaterial für Maschinen und Maschinenteile (wieder einmal) „modern“. Gegenstände, die daraus gefertigt sind, lassen sich gut verkaufen. Sie werden eingesetzt, um zu zeigen, was man Tolles kann oder wie innovativ man dasteht (mehr dazu später). Nun haben aber Kohlefasern auch Nachteile, wie jeder Werkstoff. Beispielsweise sind Kohlefasern ein sensibles Material. Gemäß dem Motto: je hochwertiger, desto sensibler; dies gilt für Werkstoffe (und in meinen Augen kann man die Aussage beliebig erweitern). Jedenfalls stellt die Verarbeitung von Kohlefasern eine Herausforderung dar. Diese beginnt bei der Planung und der Wahl der Verarbeitungstechnologien, setzt sich bei der Ausbildung derjenigen fort, die dieses Material verarbeiten und endet beim Zusammenfügen der Teile. Man benötigt viel Übung, bis man dazu fähig ist, denn es bedeutet großenteils Handarbeit. Beispielsweise wurde der Rahmen eines Stadtfahrrades und Ellenbogenschützer fürs Inline-Skating damit gebaut. Reine Kohlefasern haben aber den Nachteil, dass sie spröde und wenig schlagfest sind (Ellenbogenschützer...), was man in jedem Buch über Faserverbundwerkstoffe nachlesen kann. Weiterhin werden häufig kohlefaserverstärkten Bauteile direkt mit dem Aluminium verklebt. Mit einem Elektrolyt wie Regenwasser korrodiert das Aluminium und die Verbindung löst sich von selbst. Bei Segelflugzeugbauern weiß dies jeder. Dieser Fehler wurde von fast jedem gemacht, der anfing, Leichtbauteile mit diesen Fasern zu fertigen. Er wird aber immer wieder wiederholt8 .

Eine Überprüfung würde das geistige Konstrukt dieses in den Augen der Hersteller perfekten Teiles zerstören. Als Argument hört man beispielsweise: „Wenn das so wäre, hätte mein Tutor mir das gesagt“9 . Kritik wird nicht einmal in Betracht gezogen, wenn jahrelange Arbeit vorausging. Somit wird ersichtlich, dass es sich umso schwieriger gestaltet, vom einmal betretenen Pfad abzuweichen, je komplexer das Teil ist bzw. je mehr Vorarbeiten notwendig waren.

Ein anderes Beispiel stammt aus der Automobilindustrie. Mir wurde zugetragen, dass bei einem politisch gewollten Spar-Auto mit viel Aufwand eine Heckklappe aus einem teuren Leichtmetall entwickelt wurde. Niemand kam auf die Idee, vor der Entwicklung dieser das KFZ ohne Heckklappe zu testen, auch nicht im Simulator. Die einfachste Methode wäre gewesen, die Heckklappe abzuschrauben und das KFZ einmal ohne sie zu fahren. Dann war sie entwickelt und die Werkzeuge, in denen diese gefertigt werden sollte, standen bereit. Es stellte sich heraus, dass die Heckklappe so leicht war, dass das KFZ unfahrbar war, wenn nichts im Kofferraum lag. Die Lösung war, Bleigewichte an die Hinterachse zu hängen. Der Kunde hatte somit die Leichtmetallheckklappe zu bezahlen, die aber faktisch zu nichts nutze war.

Die vernünftigste Lösung wäre wohl gewesen10 , die Stahlheckklappe, die bei der normalen Serie verwendet wurde, beizubehalten und zu optimieren. Aber dann wäre das Gedankenkonstrukt der Ingenieure, vor allem der Vermarkter und Vertriebsingenieure, zusammengebrochen. Somit blieb man bei Leichtmetall in Verbindung mit Blei. Solch eine Lösung wird dann als „Politische Entscheidung“ bezeichnet. Und da die Leichtmetallheckklappe mit ihrem großen Entwicklungsaufwand bei Verwendung einer Stahlheckklappe überflüssig geworden wäre und jemand für diese Kosten hätte gerade stehen müssen, wälzte man diese auf die Kunden ab, zudem das Auto politische Unterstützung fand. Die Personen, die das Auto aus Umweltschutzgründen kauften, hätten sowieso quasi jeden Preis gezahlt, um ihren Beitrag zum Umweltschutz zu demonstrieren. Autokauf verläuft emotions-gesteuert und mitnichten rational. Nicht nur bei Sportwagen-Fahrern (Was immer ein „Sport“-wagen auch sein mag).

Dieser Widerspruch, den es nicht nur dort gibt, sondern überall dort, wo Fakten existieren und aus diesen heraus Entscheidungen gefällt werden, führt zur „Kognitiven Dissonanz“, die im folgenden Kapitel beschrieben wird.

Ingenieure - Status und Perspektiven

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